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Handwerkliches => Auskunft und Recherchen => Autoren helfen Autoren => Archiv: Auskunft und Recherchen => Thema gestartet von: Franziska am 02. November 2014, 16:33:29

Titel: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 02. November 2014, 16:33:29
Ich weiß nicht recht, ob ich das hierher oder zu Recherche packen soll. Es geht darum, dass ich gerade daran verzweifel, wie sich meine Figuren anreden sollen. Das Setting ist England um 1905. Es geht um die Anrede zwischen Freunden. Was ich bisher rausgefunden habe ist, dass der Vorname als Anrede zwischen Freunden in vitkorianischer Zeit nur benutzt wurde, wenn sie sich von Kindheit an kannten. Dass um 1910 aber schon der Vorname zwischen Verlobten oder Liebenden benutz wurde. Aber zu engen Freunden finde ich nichts. Ich habe versucht, es anhand von Romanen aus der Zeit rauszufinden, aber da geht es meistens um Verwandte, die sich anreden. Hier sind es Freunde, die sich im Erwachsenenalter kennen lernen und zu einem Paar werden. Es kommt mir so falsch vor, sie sich immer mit Nachnamen und Sie anreden zu lassen. Ich hatte es so gemacht, dass sie sich irgendwann einigen, sich zu Duzen und den Vornam nehmen. Aber jetzt dachte ich wieder, dass das falsch und wollte es ändern. Dann kommt wieder das Problem, dass sie sich dann auch Siezen, was es so im Englischen ja gar nicht gibt. Aber so genau verstehe ich das auch nicht, eine Form von Siezen soll es dann doch wieder geben. ???
Es klingt einfach bescheuert, wenn sie sagen: "Ich mag Sie sehr, Mr XY" und sich dann küssen.
Ich denke, wenn sie ein Paar sind können sie auch auf den Vornamen wechseln. Aber davor?
Hinzu kommt, dass einer ein Lord ist und der andere nicht. Er möchte aber nicht mit mylord angesprochen werden. Nennt er ihn dann einfach nur beim Namen oder weiterhin Lord xy?
Downton Abbey geht auch nicht wirklich als Recherchequelle, da meine Leute eher Mittelschicht sind und nicht Oberschicht.

edit: gut, dann hier. Der Grund, warum ich es im Sprachbastelboard gepostet habe, wurde vielleicht nicht ganz klar. Es geht mir vor allem darum, wie ich das Problem jetzt umsetze, dass ich zwischen Sie/Nachname und Du/Vorname elegant wechsel.
Und wie man die eigentlich ja englische Ansprache elegant übersetzt.
Vielleicht hatte ja schon mal jemand ein ähnliches Problem?

Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Maja am 02. November 2014, 16:44:16
So, wie ich das kenne, redete man sich mit Nachnamen an - selbst wenn man sich seit seiner Jugend kannte, einer Schulkultur geschuldet, in der schon Erstklässler von den Lehrern mit Nachnamen angesprochen wurden. Ich vermute allerdings, dass es hier einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt und sich Frauen eher mit Vornamen ansprachen, weil das akademische Element hier weniger bedeutend war - die klassische Internatsbildung war damals doch eher den Jungen vorbehalten, während die Mädchen, so höhere Töchter, privat erzogen und dabei mit Vornamen angeredet wurden. Aber wenn es Männer sind, sollte die übliche Anrede der Nachname sein.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 02. November 2014, 16:48:58
Ja, dass der Nachname die übliche Anrede war ist mir schon klar. Dass das bei Frauen öfter der Vorname war ist mir auch aufgefallen. Ich bin jetzt einige Romane durchgegangen, die in der Zeit spielen. Aber wie gesagt kommt da so ein Fall wie bei mir einfach nicht vor.
Aber da es bei mir ja um ein Paar geht, dachte ich, dass ich schon Hetero-Liebespaare als Vorbild nehmen kann und da war es dann wie gesagt schon so, dass sie den Vornamen nehmen. Nur kommt dann im Deutschen eben noch das Duzen/Siezen Problem dazu. ::)
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Lavendel am 02. November 2014, 17:38:01
Du kannst einfach mal das Mr. vor dem Nachnamen weglassen, wenn sie sich in informellem Rahmen unterhalten. Die Benutzung des Vornamens kannst du dann doch toll als ... öhm ... "Marker" für Intimität verwenden.
Das Duzen und Siezen würde ich  in einem Roman, der in England spielt, nicht explizit ansprechen, weil es im Englischen eben nur ein Pronomen gibt, nämlich you. Wenn sie sich nahe genug gekommen sind, lass sie das Du verwenden und benutz es als weiteres deutliches Zeichen für gewachsene Intimität, ohne viele Worte darüber zu verlieren.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 02. November 2014, 17:45:45
Ja, so wollte ich das ja auch machen, als Marker für Intimität. Die Frage ist nur wie genau ich das formuliere und ab wann sie es tun.
Ich gucke gerade, ob rausfinde, wie das bei Maurice gemacht wurde, das habe ich leider nicht vorliegen. Ich glaube aber, dass sie sich da in Cambridge auch gleich mit Vornamen anreden. Aber sicher bin ich mir nicht.

Das Duzen/Siezen wollte ich auch nicht ansprechen. Ich hatte es zuerst so gemacht, dass Vincent "ausversehen" Leonard sagt. Und dass sie sich dann einigen, sich beim Vornamen anzureden. Da gibt es aber noch keine Romantik zwischen ihnen. Jetzt dachte ich, ich mache das nach ihrem ersten Kuss, aber da passt kein Gespräch darüber rein. Aber wenn er einfach so wechselt klingt es auch komisch. Es ist ja nicht nur die direkte Anrede sondern auch wie er von ihm denkt.
Das Mr habe ich auch schnell weggelassen. Es geht mir wie gesagt um den Zeitpunkt, wann sie sich mit Vornamen ansprechen.
Jetzt habe ich das Problem, dass sie sich schon duzen aber noch den Nachnamen benutzen. Es fühlt sich besser an, wenn sie sich eher duzen, aber so sicher bin ich mir auch nicht.

edit: Ich glaube, ich habe jetzt eine ganz gute Lösung gefunden, indem ich sie schon vor dem ersten Kuss etwas intim werden lasse.

Da bleibt bei mir aber immer noch die Frage, ob sie sich auch beim Vornamen anreden könntne, wenn das nicht der Fall wäre. Sagen wir, zwei Freunde, die sich seit dem Studium kennen und ein Leben lang befreundet sind.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Maja am 02. November 2014, 20:27:49
Ich meinte auch nicht Nachname im Sinne von "Mr. Wollingsley". Einfach nur "Wollingsley". "Hey, Wollingsley, schön dass du da bist, ich muss dir was zeigen". Ich würde in dem Fall immer auf das Du setzen.

Bei einem männlichen Paar um diese Zeit darfst du nicht vergessen, dass sie ihre Partnerschaft verheimlichen müssen. Das heißt, sie können sich untereinander mir Spitz- oder Kosenamen anreden, aber sie dürfen sich nicht zu sehr daran gewöhnen - es ist immer wahrscheinlich, dass sie in Anwesenheit von Dritten miteinander reden, und dann darf ihnen nicht ein ungeplantes "Ach, Leonard" herausrutschen. Das wirft sonst Fragen auf und bringt sie in Verdacht. Die Anrede mit Vornamen scheint überall außer unter Brüdern und Vettern, die den gleichen Nachnamen haben, völlig unüblich gewesen sein.

Unverfänglicher ist es dagegen, sich mit Spitznamen zu belegen. Amüsante Spitznamen waren in der viktorianischen Zeit sehr verbreitet und stellen eine Möglichkeit dar, sich vertraulich, aber über jeden Verdacht erhaben, zu unterhalten. Ich habe das auch noch in den Zwanzigern mit Percy und Howard. Percy redet Howard immer mit seinem Nachnamen an (sein Vorname ist Eugene, aber so nennen ihn nur sein Vetter und seine Verlobte), während Howard Percy "Perkins" nennt - obwohl in der Zeit die Anrede mit Vornamen deutlich gebräuchlicher ist als noch in der viktorianischen Zeit. Für deine Situation würde ich dir raten, den beiden Spitznamen zu verpassen.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 02. November 2014, 20:59:39
Achso, genau das mit dem ob das mit dem nur Nachnamen anreden dann dem Duzen entsprechen kann, ist mir nicht ganz klar geworden. In Deutschland hätte man sich zu der Zeit wohl auch sogar noch länger gesiezt, denke ich. Aber das so zu übersetzen funktioniert auch nicht. Das mit Du kommt mir schon richtiger vor. Nur dass man eben nicht schreiben kann, dass sie darüber reden, weil sie das auf englisch ja nicht tun würden. ::)
Mal gucken, ob mir noch eine elegante Lösung einfällt, sie sich vorher duzen zu lassen.
Ja, sie müssen schon aufpassen, dass sie sich vor anderen weiterhin mit Nachnamen anreden.
Für Leonard fällt mir kein Spitzname ein. Mit dem Nachnamen lässt sich da schlecht was machen.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 03. November 2014, 00:13:30
Ich bin gerade echt zu doof zum recherchieren. Mir fallen noch mehr Anreden auf, die mir unklar sind.
1. Wie redet die Cousine ihren Cousin an? Ich denke, nur der Vorname geht. Wenn sie immer "Cousin Vorname" sagt, wie es angeblich richtig ist, klingt das an einigen Stellen doch seltsam und bei Downton Abbey haben sie es glaube ich auch so gemacht, dass Matthew irgendwann nur noch per Vornamen genannt wurde. Ich lasse sie jetzt manchmal den Namen und manchmal nur Cousin sagen.  :hmmm:

2. Wie redet der Diener die Herrin an?
Ich finde immer nur was zur Anrede von Adligen. :d'oh: Aber eine Mylady ist ja nicht. Also Miss oder Madam?
Konkret, wenn er sie nicht direkt ansprecht sondern mit dem Hausherren über sie spricht. Nur Miss klingt komisch. Die Miss? Klingt auch irgendwie komisch. Madam?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr verwirrt es mich. Okay, ich sollte es vermutlich tun, wenn ich kein Fieber habe. ::)
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Lavendel am 03. November 2014, 00:21:38
Mein Eindruck ist, die Praxis ist, über Cousins, Cousinen, Tanten, Onkel etc. meist mit dem Zusatz spricht. Also: "Morgen kommt Cousine Berta zum Tee." Direkt angeredet werden sie dann nur mit Vornamen oder bei nicht so innigen Beziehungen tatsächlich auch nur mit "Cousine" oder vielleicht auch mit "liebe Cousine" oder oder "liebste Cousine.

Bürgerliche Herrschaften werden mit Madam bzw. Ma'am und Sir angeredet. Unverheiratete Mädchen und Frauen natürlich mit Miss (+Vorname) und Jungen unterhalb eines Gewissen Alters - schätzungsweiste jünger als 14 oder 15 oder so mit Master (+Nachname, manchmal Vorname, aber einheitlich).
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 03. November 2014, 00:47:28
Danke. Ja den Eindruck bei Cousins hatte ich auch. Dann ist das ja richtig.
In meinem Fall habe ich eine unverheiratete Hausherrin (erwachsen), die mit ihrem Bruder zusammen lebt. Bisher habe ich sie immer als Miss bezeichnet. Zu sagen zum Beispiel: "Wird Miss zum Diner zurück sein?" klingt irgendwie komisch.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Lavendel am 03. November 2014, 09:39:00
In dem Fall benutzt du Miss+Vorname. Fremde reden sie natürlich trotzdem mit Miss+Nachname an. Wenn sie erwachsen ist, wird sie evtl. auch von der Dienerschaft mit Miss+Nachname angeredet. Es könnnte sein, dass manche Diener sie schon ihr Leben lang kennen, der Butler, falls sie einen haben vielleicht oder die Haushälterin, die Köchin oder ihre Zofe - aber ich weiß ja nicht, wie groß der Haushalt so ist. Das sind dann schon besondere Beziehungen, da Kinder auch durchaus durch die Bedienstetentrakte liefen und auch von den Dienern mit erzogen wurden. Die sagen vielleicht Miss+Vorname, wenn sonst niemand da ist.
Und Hausherrin ist sie sowieso nicht. Das ist sehr wahrscheinlich ihr Bruder - außer ihre Eltern haben einen echt skandalöses Testament aufgesetzt.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 03. November 2014, 13:35:02
Danke. Ja dann wird sie wohl mit Miss und Nachname angesprochen. Die Diener haben sie alle noch nicht lange.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Malinche am 14. Oktober 2015, 15:17:40
Auf Franziskas Bitte aus dem Archiv geholt.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 14. Oktober 2015, 17:55:49
Ah vielen Dank Malinche!
Inzwischen habe ich mich mehr mit dem Theme beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass es nicht ganz so unüblich war mit dem Vornamen, wie ich zuerst dachte. Ich habe den Eindruck, das hat sich auch im Verlauf zwischen 1900 und 1920 stark gewandelt. So habe ich in Büchern aus der Zeit schon gefunden, dass sich enge Freunde mit Vornamen anreden, besonders, wenn sie sich lange kennen. Ich habe ein Buch gefunden (Abingdon Hall), das spielt um 1914, da schlägt zum Beispiel ein Mann einer Frau beim ersten Date den Vornamen vor. Sie ist Unterschicht, er Mittelschicht. (Das Buch stammt aber nicht aus der Zeit sondern aus den 60ern)

Mein Probelm jetzt ist aber ein anderes. Die Anrede von Dienern. Ich finde das immer noch etwas schwer, das elegant zu lösen. Ich dachte, ich hätte es ganz gut gelöst, doch jetzt kommt es mir gerade wieder komisch vor. Soweit ich das rausgelesen habe, sprach man Diener mit Nachnamen an, Köche und Butler und Haushältern mit Miss oder Mr. Junge Footmen und Küchenmagd und Zofen mit Vornamen. Ebenso spielt das Alter wohl eine Rolle dabei. Da bleibt nur immer noch das Problem mit dem Duzen/Siezen. Ich habe in einem deutschen Buch aus der Zeit gefunden, dass man es hier ähnlich handhabte. Aber junge Diener mit Vornamen und Sie ansprach.
Während ich es vorher auch gelesen habe, dass man die auch duzte, bzw. ich das ansprechen mit Vornamen mit Duzen übersetzen würde. Es klingt für uns heute ja auch sehr komisch, und macht man ja eigentlich nur noch bei öffentlichen Berufen (z.B. Supermarkt etc, wenn man nicht will, dass die Kunden den Nachnamen kennen). Die Frage ist dann, übersetzt man das wie es auf Englisch sein würde ins Deutsche zur gleichen Zeit oder ins heutige Deutsch.

Was ich bisher an Beispielen gefunden habe war:
Junge Magd wird gedutzt, siezt aber Haushältern und Chauffeur etc.
Junger Diener wird mit Vornamen und Sie von Herrschaften angesprochen
Die junge Magd wird auch von den Herrschaften geduzt.

Dann hat man aber irgendwann vier Anredeformen:
Sie und Nachname
Sie und Vorname
Du und Nachname
Du und Vorname

Aber das sind ja auch nur Beispiele, die irgendjemand mal übersetzt hat.
Bei mir habe ich jetzt konkret einen jungen Diener. Ich habe in deutschen Texten aus der Zeit verschiedene Anreden gefunden, also mit Sie oder Du durch die Herrschaften. Bei mir hatte ich mir wegen dem Alter fürs duzen entschieden. Jetzt habe ich aber auch Gespräche zwischen diesem Diener und anderen nicht zum Haushalt gehörenden Leuten, also Gästen der Hausherren. Und ich überlege hin und her, ob die den Diener jetzt Duzen oder Siezen würden.  :hmmm: Meine Frage ist jetzt, habt ihr Beispiele, wo das gut gelöst wurde. Und würdet ihr das mit den vier Formen so machen oder würdet ihr mehr so übersetzten, wie man sich heute anredet?
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Maja am 14. Oktober 2015, 18:19:06
Ich denke, einen Diener würden die Gäste der Herrschaften Siezen und mit Vornamen ansprechen (da ein Diener üblicherweise nur unter seinem Vornamen, nicht unter vollem Namen vorgestellt wird), einen Knecht duzen und auf den Namen verzichten (oft kennen die Herrschaften die Namen des niederen Personals nicht einmal, die Kommunikation läuft da über Butler/Haushälterin).

Das einzige literarische Beispiel, das mir gerade dazu einfällt, ist ausgerechnet "Heidi kann brauchen, was es gelernt hat", was allerdings noch aus dem späten 19. Jahrhundert stammt (hierbei meine ich die Szenen, in denen Claras Oma zu Besuch kommt, und ihren Umgang mit dem Diener Sebastian) - was ich aber habe, sind Aussagen meiner Oma, die in den 20ern Kind in einem gutbürgerlichen Haushalt war, der selbstverständlich auch ein Mädchen hatte. Ich hatte mit ihr darüber gesprochen, als ich selbst angefangen habe, in den 20ern zu schreiben, weil ich vor einem ähnlichen Problem stand und mich auch daran orientieren wollte, wie das in Deutschland gehandhabt wurde.

Im Fall meiner Oma war das Mädchen "unsere Änne", wurde von den Kindern und ihrer Mutter geduzt, vom Vater gesiezt und von den Gästen ebenfalls, blieb aber immer nur "unsere Änne" - tatsächlich wusste meine Oma nicht mehr, ob sie jemals Ännes Mädchennamen erfahren hat. Änne war eine Bauerntochter, die wie damals üblich mehrere Jahre als Hausmädchen arbeitete, um die nötigen Kenntnisse in Haushaltsführung zu erlernen, und die unsere Familie dann verließ, als sie selbst heiratete und eine Familie gründete (und danach endlich auch offiziell einen Nachnamen hatte).

Das kann man nicht eins-zu-eins auf die Situation in England übertragen, aber wir müssen ja hier abstrahieren, weil es bei uns den Unterschied zwischen Du und Sie gibt und drüben nicht. Einen Roman aus den 60ern würde ich aber als Quelle für Informationen ausschließen. Immer nur Bücher aus der jeweiligen Zeit - dafür machen Autoren historischer Romane einfach zu viel falsch, und das Beispiel, das du da bringst, klingt mir historisch völlig unglaubwürdig, vor allem, wenn der Vorstoß auch noch von der Frau kommt.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 14. Oktober 2015, 18:30:00
Achso, nein das war falsch ausgedrückt, der Vorschlag kam vom Mann. Ja so ganz glaubwürdig schien mir das auch nicht. Ich dachte, der Autor hätte immerhin noch Zeitzeugen befragen können. Aber na ja. Daher hatte ich dann auch die Idee deutsche Texte aus der Zeit zu nehmen. Ich hatte mir zum Beispiel gerade "Buddenbrooks" angeguckt. Das wurde 1901 geschrieben, spielt aber deutlich früher, daher auch nicht wirklich ideal. Man weiß nicht, woran sich Thomas Mann da orientiert hat. Da wird der Diener jedenfalls geduzt, also der Kammerdiener, nicht der Knecht. (edit: ach ne, der wird Herrschaftsknecht genannt, scheint aber dem Footman zu entsprechen)
Aber so wirklich taugt das auch nicht als Orientierung, denn da Siezten die Kinder die Eltern, was mir im Englischen wieder komsich vorkommt.
Je mehr ich lese, je mehr habe ich das Gefühl, dass sich das in der Zeit so geändert hat, dass man später Diener eher Siezte und Freunde eher Duzte. Na ja, ich tendiere gerade eher dazu, dass Siezen angebracht wäre. Da dieses Gespräch gerade stattfindet, bevor die beiden ähm intim werden, kommt es mir dann wieder komsich vor, dass sie sich danach weiter Siezen, zumindest der Lord den Diener.  ???
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Maja am 14. Oktober 2015, 19:11:44
Bei einem Rendevous zwischen einem Mann und einer Frau war es auch üblich, dass der Mann die Frau mit Vornamen, die Frau den Mann aber mit Nachnamen andredete (Miss Eleanor / Mr. Fontainbleau) - in so einer Situation ist es tatsächlich denkbar, dass der Mann an dieser Stelle sagt: "Ach, nennen Sie mich doch Geoffrey", um diese Diskrepanz auszugleichen. Undenkbar aber, dass die Frau dem Mann vorschlägt, das "Miss" wegzulassen und gleich zum Du überzugehen.

Was das Zeitzeugen befragen angeht: Es ist eine Krankheit der Autoren historischer Romane, davon auszugehen, dass sie schon Recht haben werden. Selbst wenn es in den 60ern noch deutlich mehr Leute gab, die die 20er erlebt haben (es hat ja nicht jeder wie ich eine knapp hundertjährige Oma mit gutem Gedächtnis und taufrischem Verstand in der Hinterhand). Deswegen müssen wir bei der Recherche immer vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass ein Autor historischer Romane von nichts wirklich eine Ahnung hat, wobei es hilft, wenn der im Vor- oder Nachwort ausdrücklich den befragten Zeitzeugen dankt und man daraus schließen kann, dass der sich wirklich aus erster Hand informiert hat.

Ansonsten empfehle ich immer die Lektüre von Romanen aus der Zeit, soweit vorhanden. Mit Fin de Siecle, 20ern etc. haben wir es da gut getroffen. Mittelalter wird deutlich schwieriger, und darum merkt man auch, dass die Autoren mittelalterlicher Romane bei anderen Romanautoren abschreiben, die wiederum von anderen Romanautoren abgeschrieben haben ...

Was das "Kinder siezen Eltern" angeht, das würde ich eher in einem in Frankreich spielenden Roman erwarten als in Deutschland, wo das nicht in dem Maße verbreitet war. Ich habe selbst noch nicht damit gearbeitet, aber die Heldin meines viktoriansischen Thrillers (1895) siezt sehr selbstverständlich Onkel und Tante, die sie vorher kaum kannte, und ihre Vetter dutzt sie zwar, aber redet sie mit "Vetter" an (also "Tante Felicity" und "Vetter Gerald". An der Stelle habe ich dann das Problem, was ich mit Cousinen mache. Das deutsche Wort Vetter ist sehr viel verbreiteter als das weibliche Pendant, die Base. Aber die Kombination "Vetter/Cousine" kommt mir auch komisch vor. Wie würdet ihr so etwas lösen?
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: KaPunkt am 14. Oktober 2015, 19:22:43
Ich würde die Base nehmen.
Ich denke, so unbekannt ist das nicht.

Liebe Grüße,
KaPunkt
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Franziska am 14. Oktober 2015, 19:41:45
@Maja: ja, ich denke, ich lasse es jetzt enfach so. Alles andere wird irgendwie zu verkrampft. Ich habe auch den Eindruck, so ganz festgeschriebene Regeln gab es da auch nicht, also mache ich es lieber einheitlich. Wie gesagt, ich habe auch in Büchern aus der Zeit verschiedene Informationen gefunden. Eine hundertjährige Oma ist da natürlich sehr praktisch. :D

Base? Cousine? hm, schwierig. Da würde ich auch gucken, ob du da Beispiele aus der Zeit findest. Spielt das denn in Deutschland? Wenn es in England spielt würde ich nur Cousin und Cousine nehmen.
Wenn man hier Base gesagt hat, dann nimm das. Ich denke schon, dass man das kennt.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Belle_Carys am 14. Oktober 2015, 19:42:41
Der Thread führt einem mal wieder vor Augen mit was für Kleinkram man sich als Autor so täglich rumschlägt.

Maja, ich bin da ganz bei KaPunkt, ich würde auch die Base nehmen. Zum einen kann man die Verwandtschaftsbeziehung der beiden ja auch allein vom Vetter her herleiten, wenn man Base nicht versteht, und zum anderen sind Leser, die gern historisch lesen, mit dem Begriff vermutlich vertraut. Und wenn nicht, lernen sie noch was dazu.
Titel: Re: [Geschichte] Anrede in England 1900
Beitrag von: Fianna am 15. Oktober 2015, 00:04:29
Zitat von: Maja am 14. Oktober 2015, 19:11:44Deswegen müssen wir bei der Recherche immer vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass ein Autor historischer Romane von nichts wirklich eine Ahnung hat,
Ich gehe sogar davon aus, dass Autoren von Sachbüchern oder Fachbüchern nicht wirklich Ahnung haben. Wenn ich einen singulären oder abweichenden Fakt nicht mit Fussnote, Quelle oder sonstwie belegt finde, dann gehe ich nicht davon aus, dass das stimmt, sondern dass ich es (falls ich exakte Sicherheit will) nochmal selbst überprüfen will.

Aber auch Fußnoten und so weiter bieten keine Sicherheit. Ich finde es erschreckend, wie Autoren-hörig man bei der historischen Recherche oft ist, nur weil jemand ein Sachbuch über ein Thema geschrieben hat oder das schön mit Fussnoten belegt hat.

Mein Lieblingsbeispiel ist da immer noch Schulman (englischsprachiger Ägyptologe) und seine angebliche Meinung zu einer ägyptischen Kavallerie-Einheit im Neuen Reich. In x deutschen Aufsätzen habe ich Sätze gefunden, dass entgegen Schulman sowas ja nicht wahrscheinlich sei.
Leider habe ich in dem bekanntesten Aufsatz von Schulman nichts dazu gefunden. Also habe ich mir nochmal die deutschen Quellen hergenommen, weil ich dachte, der Schulman hat seine Meinung dann ja offensichtlich geändert (wenn sich ein halbes Dutzend Leute darauf beziehen, muss es seine Richtigkeit haben), und nochmal genau nachgesehen, welchen Aufsatz die in der Fussnote stehen haben.
Überraschung - das Ding, das ich doch schon in der Hand gehabt hatte!
Eine sehr verwirrende halbe Stunde später hatte ich das Mysterium dann geklärt - bei Schulman steht "not a cavalry" - ganz ausdrücklich mit diesem Wortlaut.
Und da hat dann wohl der erste dieser deutschen Ägyptologen aus meinem Quellen-Pool das "not" überlesen.
Und die anderen Hansel müssen einfach bei dem Deutschen abgeschrieben haben (wozu das Original lesen, hat doch der andere Typ schon gemacht), aber immer brav die Literaturangabe und teilweise auch Fußnote bei geschrieben.

Es gibt zwar bestimmte Kandidaten und Veröffentlichungsdaten, wo man als Ägyptologe schon weiß, dass man das lieber nochmal selber checken sollte. (Eine Fussnote habe ich sogar niemals zuordnen können, weil ich nicht wusste, ob der Herr sich bei Autor oder Buchnamen verschrieben hat. Bzw. beim Buchnamen auf jeden Fall, ein solches Buch existiert
nicht. Nach etwa 3 Stunden Suche habe ich das Unterfangen aufgegeben.)


Aber die Schulman-Schummelei war wesentlich später, locker 20-30 Jahre, und hat mich dann doch ein bisschen verstört. Jedenfalls, solange ich nicht die genaue Quellenlage kenne (im Falle, dass sich jemand auf einen fremdsprachigen Autor bezieht, diesen selbst lesen, falls möglich) würde ich auch bei Sach- und Fachbüchern nichts glauben.


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Hoffe ich werde nicht gepfannt, ich hielt diesen Zusatzfür zum Thema passend, da es um Quellenkritik geht.