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[Geschichte] Anrede in England 1900

Begonnen von Franziska, 02. November 2014, 16:33:29

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Franziska

#15
Achso, nein das war falsch ausgedrückt, der Vorschlag kam vom Mann. Ja so ganz glaubwürdig schien mir das auch nicht. Ich dachte, der Autor hätte immerhin noch Zeitzeugen befragen können. Aber na ja. Daher hatte ich dann auch die Idee deutsche Texte aus der Zeit zu nehmen. Ich hatte mir zum Beispiel gerade "Buddenbrooks" angeguckt. Das wurde 1901 geschrieben, spielt aber deutlich früher, daher auch nicht wirklich ideal. Man weiß nicht, woran sich Thomas Mann da orientiert hat. Da wird der Diener jedenfalls geduzt, also der Kammerdiener, nicht der Knecht. (edit: ach ne, der wird Herrschaftsknecht genannt, scheint aber dem Footman zu entsprechen)
Aber so wirklich taugt das auch nicht als Orientierung, denn da Siezten die Kinder die Eltern, was mir im Englischen wieder komsich vorkommt.
Je mehr ich lese, je mehr habe ich das Gefühl, dass sich das in der Zeit so geändert hat, dass man später Diener eher Siezte und Freunde eher Duzte. Na ja, ich tendiere gerade eher dazu, dass Siezen angebracht wäre. Da dieses Gespräch gerade stattfindet, bevor die beiden ähm intim werden, kommt es mir dann wieder komsich vor, dass sie sich danach weiter Siezen, zumindest der Lord den Diener.  ???

Maja

Bei einem Rendevous zwischen einem Mann und einer Frau war es auch üblich, dass der Mann die Frau mit Vornamen, die Frau den Mann aber mit Nachnamen andredete (Miss Eleanor / Mr. Fontainbleau) - in so einer Situation ist es tatsächlich denkbar, dass der Mann an dieser Stelle sagt: "Ach, nennen Sie mich doch Geoffrey", um diese Diskrepanz auszugleichen. Undenkbar aber, dass die Frau dem Mann vorschlägt, das "Miss" wegzulassen und gleich zum Du überzugehen.

Was das Zeitzeugen befragen angeht: Es ist eine Krankheit der Autoren historischer Romane, davon auszugehen, dass sie schon Recht haben werden. Selbst wenn es in den 60ern noch deutlich mehr Leute gab, die die 20er erlebt haben (es hat ja nicht jeder wie ich eine knapp hundertjährige Oma mit gutem Gedächtnis und taufrischem Verstand in der Hinterhand). Deswegen müssen wir bei der Recherche immer vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass ein Autor historischer Romane von nichts wirklich eine Ahnung hat, wobei es hilft, wenn der im Vor- oder Nachwort ausdrücklich den befragten Zeitzeugen dankt und man daraus schließen kann, dass der sich wirklich aus erster Hand informiert hat.

Ansonsten empfehle ich immer die Lektüre von Romanen aus der Zeit, soweit vorhanden. Mit Fin de Siecle, 20ern etc. haben wir es da gut getroffen. Mittelalter wird deutlich schwieriger, und darum merkt man auch, dass die Autoren mittelalterlicher Romane bei anderen Romanautoren abschreiben, die wiederum von anderen Romanautoren abgeschrieben haben ...

Was das "Kinder siezen Eltern" angeht, das würde ich eher in einem in Frankreich spielenden Roman erwarten als in Deutschland, wo das nicht in dem Maße verbreitet war. Ich habe selbst noch nicht damit gearbeitet, aber die Heldin meines viktoriansischen Thrillers (1895) siezt sehr selbstverständlich Onkel und Tante, die sie vorher kaum kannte, und ihre Vetter dutzt sie zwar, aber redet sie mit "Vetter" an (also "Tante Felicity" und "Vetter Gerald". An der Stelle habe ich dann das Problem, was ich mit Cousinen mache. Das deutsche Wort Vetter ist sehr viel verbreiteter als das weibliche Pendant, die Base. Aber die Kombination "Vetter/Cousine" kommt mir auch komisch vor. Wie würdet ihr so etwas lösen?
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

KaPunkt

Ich würde die Base nehmen.
Ich denke, so unbekannt ist das nicht.

Liebe Grüße,
KaPunkt
She is serene
with the grace and gentleness of
the warrior
the spear the harp the book the butterfly
are equal
in her hands.
(Diane di Prima)

Franziska

@Maja: ja, ich denke, ich lasse es jetzt enfach so. Alles andere wird irgendwie zu verkrampft. Ich habe auch den Eindruck, so ganz festgeschriebene Regeln gab es da auch nicht, also mache ich es lieber einheitlich. Wie gesagt, ich habe auch in Büchern aus der Zeit verschiedene Informationen gefunden. Eine hundertjährige Oma ist da natürlich sehr praktisch. :D

Base? Cousine? hm, schwierig. Da würde ich auch gucken, ob du da Beispiele aus der Zeit findest. Spielt das denn in Deutschland? Wenn es in England spielt würde ich nur Cousin und Cousine nehmen.
Wenn man hier Base gesagt hat, dann nimm das. Ich denke schon, dass man das kennt.

Belle_Carys

Der Thread führt einem mal wieder vor Augen mit was für Kleinkram man sich als Autor so täglich rumschlägt.

Maja, ich bin da ganz bei KaPunkt, ich würde auch die Base nehmen. Zum einen kann man die Verwandtschaftsbeziehung der beiden ja auch allein vom Vetter her herleiten, wenn man Base nicht versteht, und zum anderen sind Leser, die gern historisch lesen, mit dem Begriff vermutlich vertraut. Und wenn nicht, lernen sie noch was dazu.

Fianna

Zitat von: Maja am 14. Oktober 2015, 19:11:44Deswegen müssen wir bei der Recherche immer vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass ein Autor historischer Romane von nichts wirklich eine Ahnung hat,
Ich gehe sogar davon aus, dass Autoren von Sachbüchern oder Fachbüchern nicht wirklich Ahnung haben. Wenn ich einen singulären oder abweichenden Fakt nicht mit Fussnote, Quelle oder sonstwie belegt finde, dann gehe ich nicht davon aus, dass das stimmt, sondern dass ich es (falls ich exakte Sicherheit will) nochmal selbst überprüfen will.

Aber auch Fußnoten und so weiter bieten keine Sicherheit. Ich finde es erschreckend, wie Autoren-hörig man bei der historischen Recherche oft ist, nur weil jemand ein Sachbuch über ein Thema geschrieben hat oder das schön mit Fussnoten belegt hat.

Mein Lieblingsbeispiel ist da immer noch Schulman (englischsprachiger Ägyptologe) und seine angebliche Meinung zu einer ägyptischen Kavallerie-Einheit im Neuen Reich. In x deutschen Aufsätzen habe ich Sätze gefunden, dass entgegen Schulman sowas ja nicht wahrscheinlich sei.
Leider habe ich in dem bekanntesten Aufsatz von Schulman nichts dazu gefunden. Also habe ich mir nochmal die deutschen Quellen hergenommen, weil ich dachte, der Schulman hat seine Meinung dann ja offensichtlich geändert (wenn sich ein halbes Dutzend Leute darauf beziehen, muss es seine Richtigkeit haben), und nochmal genau nachgesehen, welchen Aufsatz die in der Fussnote stehen haben.
Überraschung - das Ding, das ich doch schon in der Hand gehabt hatte!
Eine sehr verwirrende halbe Stunde später hatte ich das Mysterium dann geklärt - bei Schulman steht "not a cavalry" - ganz ausdrücklich mit diesem Wortlaut.
Und da hat dann wohl der erste dieser deutschen Ägyptologen aus meinem Quellen-Pool das "not" überlesen.
Und die anderen Hansel müssen einfach bei dem Deutschen abgeschrieben haben (wozu das Original lesen, hat doch der andere Typ schon gemacht), aber immer brav die Literaturangabe und teilweise auch Fußnote bei geschrieben.

Es gibt zwar bestimmte Kandidaten und Veröffentlichungsdaten, wo man als Ägyptologe schon weiß, dass man das lieber nochmal selber checken sollte. (Eine Fussnote habe ich sogar niemals zuordnen können, weil ich nicht wusste, ob der Herr sich bei Autor oder Buchnamen verschrieben hat. Bzw. beim Buchnamen auf jeden Fall, ein solches Buch existiert
nicht. Nach etwa 3 Stunden Suche habe ich das Unterfangen aufgegeben.)


Aber die Schulman-Schummelei war wesentlich später, locker 20-30 Jahre, und hat mich dann doch ein bisschen verstört. Jedenfalls, solange ich nicht die genaue Quellenlage kenne (im Falle, dass sich jemand auf einen fremdsprachigen Autor bezieht, diesen selbst lesen, falls möglich) würde ich auch bei Sach- und Fachbüchern nichts glauben.


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Hoffe ich werde nicht gepfannt, ich hielt diesen Zusatzfür zum Thema passend, da es um Quellenkritik geht.