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Spieglein, Spieglein an der Wand ...

Begonnen von Silvia, 12. September 2008, 22:31:53

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Silvia

Beim Lesen im Montsegur-Forum bin ich in einer Diskussion auf eine Frage gestoßen, die ich hier mal stellen will: Es ging um stilistische Formen der Beschreibung und eine ganze Reihe Mitglieder dort bemängelte es, wenn ein Autor seinen Charakter dadurch einführt, dass dieser in den Spiegel schaut und dabei beschreibt, wie der Charakter aussieht.
Ich selber habe diese Art Szene auch einmal benutzt, einfach aus dem Grund, weil ich die Hauptfigur am Anfang der Story ja kurz beschreiben wollte und in dieser Zeit einfach kein anderer als sie selber anwesend war.

Was ist so schlimm an einer solchen "Spiegelszene", dass sie anscheinend von den Profis als gravierendes Beschreibungmängel angesehen wird?
Wird sie zu oft benutzt?
Oder zu übertrieben benutzt?
Wie könnte man es denn besser machen?

Tenryu

#1
Ich hätte kein Problem mit solch einer Schilderung, wenn sie gut geschrieben ist. Wenn die Erzählung in der ich-Form geschrieben wird, gibt es ohnhin nicht allzuviele andere Möglichkeiten.
Eine Alternative wäre es die Figur in einem Dialog beschreiben zu lassen, was aber auch eher gekünstelt wirkt.
Ich kann mir nur vorstellen, daß vielleicht zu häufig davon Gebrauch gemacht wird. Doch kann ich mich nicht daran erinnern, solch eine Szene gelesen zu haben. (Vielleicht habe ich auch nicht darauf geachtet.)

Vielleicht haben die in jenem Forum auch zu hohe Ansprüche. Das ganze macht auf mich einen ziemlich snobistisch-elitären Eindruck. (Gleichwohl die Beiträge dort auch nicht besser sind als hier, oder in anderen offenen Autorenforen.)

Lavendel

Naja, ich empfinde es als eine Art faulen Trick, den Charakter in den Spiegel sehen und sich beschreiben zu lassen. Wer stellt sich schon vor den Spiegel und denkt darüber nach, welche Farbe seine Augen haben? Man weiß doch, wie man aussieht. Veränderungen oder einen ungewöhnlichen Zustand deutlich machen, das geht in Ordnung, aber es wirkt einfach nicht wie eine natürliche Handlung, wenn sich eine Figur hinstellt und erzählt, sie habe blonde Locken und eine etwas große Nase.

Aber ich bin sicher, man kann den Spiegeltrick auch so geschickt anwenden, dass er nicht aufgesetzt und abgegriffen wirkt. Und dann habe ich sicherlich nichts dagegen einzuwenden.

Antigone

Ich hab die Diskussion auch mitgelesen, und war ganz entsetzt, denn ich habe in meinem Roman sogar DREI (!) Spiegelszenen. (OK, einmal ist es ne Fensterscheibe, aber trotzdem....). Keine Ahnung, ob ich die irgendwie streichen oder umwandeln kann.

Aber ich hätte nie gedacht, dass das soooo verpönt ist. Meine Güte, jeder schaut sich doch jeden Tag mehrmals in den Spiegel und begutachtet sein Aussehen. Warum soll man das in einem Buch plötzlcih nicht mehr tun dürfen?

Mich hat es jedenfalls noch nie in einem Buch gestört. Und ich weiß gerne, wie die Protas aussehen.

lg, A.

Churke

Vielleicht stößt denen ja die Innovationslosigkeit auf. Wenn man sich mal vorstellt, jeder Roman begänne mit dem Satz: "A betrachtete sich im Spiegel", dann nervt das realtiv schnell.

Mich stört daran auch, dass man normalerweise nicht nur kein objektives, sondern ein sehr verzerrtes Bild von sich selbst hat. "Er sah gut aus" oder "sie war hässlich" verrät beim Spiegelblick mehr über das Innere als das Äußere der Figur.
Ehrlich gesagt, wäre ich nicht einmal darauf gekommen, so etwas zu machen. Ich habe mal eine Szene geschrieben, in der sich eine Figur im Spiegel betrachtet. Allerdings weiß der Leser da schon lange, wie sie aussieht, es geht nur noch um ihre Meinung über sich selbst.

Julia

#5
Mir sind diese "Spiegelszenen" selbst erst aufgefallen, als ich angefangen hatte, mich ernsthaft mit dem Schreiben auseinanderzusetzen.

Stören tun sie mich, so sie ordentlich gemacht sind, dabei eigentlich nicht (schmunzeln muss ich inzwischen aber trotzdem drüber, wenn sie mir ins Auge fallen). Es gibt aber auch genug andere Methoden, um seine Hauptdarsteller vorzustellen; beispielsweise, indem andere Personen sich über den Prota äußern läßt ("Ich weiß gar nicht, was Du hast, ich wäre stolz, eine so tolle blonde Mähne zu haben wie du. Schau dir meine Fusseln an: die sind einfach nur nichtssagend braun.") Okay, es sollte nicht ganz so platt sein  ;D, aber dieser Dialog läßt sich in alle Richtungen variieren.

Ansonsten finde ich es übrigens als Leser gar nicht so wichtig zu wissen, ob der Prota jetzt eine Himmelfahrtsnase hat, oder nicht. Mich interessiert der Mensch hinter der Optik viel mehr. Grüne Haare, lila Augen, okay - aber wenn die Hauptfigur eine Dumpfbacke ist, kann sie aussehen, wie sie will, sie wird mir deshalb trotzdem nicht mehr sympathischer. Ob nun mit oder ohne Spiegelszene ...

Tenryu

Allgemein kann man sich natürlich die Frage stellen, wozu man das Äußere eines ich-Erzählers überhaupt beschreiben muß. Sollte für die Handlung aus irgend einem Grunde ein bestimmtes körperliches Merkmal erwähnenswert sein, kann man es auch dort im Zusammenhang anführen.

Fynja

Ich habe nichts gegen solche Szenen, dennoch wirken sie auf mich wie eine Notlösung, die der Autor anwendet, weil ihm nichts Gescheiteres einfällt und er unbedingt das Aussehen beschrieben haben will... Wobei ich zugeben muss, dass es nicht viel Gescheiteres für einen Ich-Erzähler gibt  :hmmm: Also finde ich solche Szenen in Ordnung, wenn sie nicht zu ausführlich werden- es ist unrealistisch, wenn ein Chara sich minutenlang selbst beäugt. Es sei denn, der Prota ist eine Tussi, die viel auf ihr Aussehen hält und sich alle paar Stunden ausführlich bewundern muss ;D.

Ich habe jedoch mal ein Buch gelesen- ein recht unbekanntes, doch der Name will mir gerade nicht einfallen-, in dem der Autor alle Hauptprotagonistin (drei oder vier, wenn ich mich recht entsinne) in einen See, den Rückspiegel eines Autos oder in eine Fensterscheibe hat blicken lassen, um das Aussehen zu beschreiben, da ist es mir unangenehm aufgefallen.

Lomax

Es gibt eine ganze Menge "Mängel", über die sich "Profis" sehr gerne ereifern können - die also als beliebter Diskussionsstoff zwischen Autoren und Lektoren taugen, und auf die mancher erfahrener Leser mit schreibtheoretischem Hintergrund achtet. Die allerdings, rein nüchtern oder wirtschaftlich betrachtet, kein Schwein interessieren, und die man daher recht präzise von "echten" Mängeln, die die Verkaufbarkeit eines Werkes beeinträchtigen, unterscheiden muss.
  Zu diesen "Luxusproblemen" gehören beispielsweise interpretierende Adjektive und Perspektivenfehler - und ich würde auch mal die "Spiegelszenen" dazu rechnen. Negativ auffallen tun die manchen Leuten ja wohl in erster Linie deshalb, weil sie abgegriffen wirken und zu oft vorkommen; aber ein so häufiges Vorkommen spricht selten dafür, dass eine gewisse Ausdrucksform prinzipiell ungeeignet ist ;)

Ich würde solche "Spiegelszenen" also so betrachten, wie viele anderen Mängel nachgeordneter Bedeutung auch: Sie sind nicht unbedingt der Gipfel schriftstellerischer Kunst; wenn einem was Besseres einfällt, sollte man die Alternativen nutzen; sie können oft zu den Merkmalen der "Trivialität" zählen, und man sollte sie daher mit Bedacht und Gespür für die Zielgruppe einsetzen. Ansonsten wird nur dann ein relevanter Anteil an Lesern darüber stolpern, wenn man sie ungeschickt einsetzt.
  Ich persönlich bin kein Freund von "Spiegelszenen", weil ich sie auch weitgehend überflüssig finde. Aber wenn sie in einem Buch nicht so oft vorkommen, dass sie wie ein Manierismus des Autors wirken, würde ich sie als Lektor nicht anstreichen.

Maja

In einem Schreibratgeber, den ich vor Jahren gelesen habe (ich glaube, es war "Kreativ Schreiben" von Fritz Gesing) wurde mir der Spiegeltrick als fauler Schwindel aufgezeigt, und ich mußte dem Autor schon damals voll Recht geben. Seitdem müssen meine Leser damit leben, daß man nur relativ wenig über das Aussehen der Hauptfigur erfährt, zumindest wenn niemand sonst die Perspektive hat. Auch Leute, welche die Hauptfigur schon gut kennt, werden nicht mehr extra beschrieben - es sei denn, sie sehen verändert oder komisch oder sonstwie anders als sonst aus.

Dennoch gibt es bei mir eine Spiegelszene, relativ am Anfang der "Spinnwebstadt" (das bedeutet, sie ist noch 1997 entstanden; den Schreibratgeber habe ich aber frühestens 1998 gelesen) - aber dabei hat der Held Grund, in den Spiegel zu starren, denn er hat sich gerade die Haare gefärbt und das Ergebnis ist anders geworden als erwartet. Viel mehr als die Haare (Grün! nicht goldblond, sondern grün!) werden dabei aber nicht beschrieben. Im Kapitel Vier gibt es einen zweiten Spiegelmoment, Wand, und auch dieser wird hauptsächlich deshalb thematisiert, weil Mowsal (er mit den grünlichen Haaren) entsetzt feststellt, wie verquollen er am Morgen nach einem Saufgelage aussieht. Im fünften Kapitel schließlich spiegelt er sich in einer gläsernen Wand und findet Erwähnung, weil sein Spiegelbild andere Augen hat als die, an die Mowsal von sich gewöhnt ist. Als er dann im dritten Buch, Kapitel vier oder fünf, wiederum vor einem Spiegel landet, schmiert er mit Zahnpasta ein Gesicht drauf und geht wieder. Und hat damit alle Spiegelbegegnungen aller meiner Figuren aufgebraucht.

Wenn ich beim Lesen auf so ein "Der Charakter wird beschrieben, indem er vor einem Spiegel steht und sich betrachtet"-Moment kommt (und er nicht Fragen thematisiert wie "Sind das schon Falten?" oder "Ob dieser Pickel *sehr* auffällt?", sondern nur der Beschreibung dient) ist das für mich Grund, das Buch beiseitezulegen und davon auszugehen, daß der Autor es einfach nicht besser kann. Da verzichte ich sonst lieber auf eine Beschreibung, und fülle die Lücken im Kopf aus.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Franziska

ich habe auch schon überlegt, diese Frage zu stellen. Da ich gerne in der Ich-Perspektive schreibe , hatte ich das Problem auch. Aber mir fällt einfach nichts besseres ein. Es würde keinen Sinn machen, wenn eine andere Person in einem Dialog ausführlich den Ich-Erzähler beschreibt. Das würde noch künstlicher wirken.
Einmal habe ich es so gelöst, dass der Ich-Erzähler in den Spiegel schaut, weil er sich seine Wunde anschauen will und nebenbei bemerkt er, dass seine blonden Haare durcheinander sind und eine andere Person bemerkt, dass er sich rasieren sollte.

Mich nervt es, wenn ich überhaupt nicht weiß, wie eine FIgur aussieht. Ich finde das schon wichtig. Klar kann man sich denken, dass eine Figur gut aussehen muss, wenn ihm die Frauen reienweise zu Füßen liegen, aber wenn man gar nichts efährt, und der Stil dazu auch noch distanziert ist, bleibt der Ich-Erzähler für mich abstrakt.

Tenryu

Eigentlich sollte der ich-Erzähler aber über seine Denk- und Sprechweise charakterisiert werden.
Vielleich kennt ihr einen der berühmtesten Detektive: Phil. Marlowe. Ich denke, wer mal eines der Bücher gelesen hat, wird sich bestimmt an diesen originellen Charakter erinnern. Aber weiß auch noch einer, wie er aussah?
Eine Möglichkeit, derer ich mich auch gerne bediene, ist, die Figuren nicht gleich zu Beginn ausführlich zu beschreiben, sondern erst nach und nach gewisse Merkmale beiläufig zu erwähnen.

Maja

Marlowe halte ich nicht für das allerbeste Beispiel, weil er natürlich schnell automatisch mit Humphrey Bogart assoziiert wird (der nur einer von einem Dutzend Marlowe-Darstellern war, aber sicher der prägendste). Ansonsten muß ich Tenryu zustimmen, was die Bedeutung von Figurenbeschreibungen hat - sie tritt hinter Verhaltensmustern und Selbstcharakterisierung zurück.

Es gibt auch genug andere Möglichkeiten, das Aussehen von Figuren anzudeuten: Wenn sich die Icherzählerin beim Spöbern in der Wäscheabteilung beschwert, daß ausgerechnet die hübschen Schlüpfer wieder nicht in XL erhältlich sind, sie sich aber in britischen Museen darüber amüsiert, daß das Schild "Mind Your Head" gut dreißig Zentimeter *über* ihrem Kopf hängt, dann haben wir schon eine gewisse Vorstellung von ihrer Statur. Nur als Beispiel. Der Möglichkeiten gibt es viele. Wenn das Aussehen denn von Bedeutung sein soll.

Um auf Bogart zurückzukommen - es gibt einen Film mit ihm (Name fällt mir nicht ein) über einen Mann, der nach einem Unfall (?) ein neues Gesicht bekommt. Der Film ist mit subjektiver Kamara gedreht. Sein altes Gesicht bekommt der Zuschauer nie zu Gesicht, nur das neue - weil es eben falsch und fremd ist. 
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Churke

Man kann auch eine Person mit einer anderen Person vergleichen. Also "größer als", "kleiner als" etc.. Wenn sich der Protagonist vor einem Türsteher ebenbürtig fühlt ("Der Honk ging mir auf den Sack und seine Oberarme waren nicht halb so dick wie er sich einbildete."), dann verrät uns das schon einiges.

Tenryu

Zitat von: Maja am 13. September 2008, 00:22:32Um auf Bogart zurückzukommen - es gibt einen Film mit ihm (Name fällt mir nicht ein) über einen Mann, der nach einem Unfall (?) ein neues Gesicht bekommt. Der Film ist mit subjektiver Kamara gedreht. Sein altes Gesicht bekommt der Zuschauer nie zu Gesicht, nur das neue - weil es eben falsch und fremd ist. 

Du meinst wahrscheinlich "Das unbekannte Gesicht" (Dark Passage) 1947. Mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. (Die Frau ist 84 und dreht immer noch Filme!) Ein spannender Film noir, den ich in meiner Sammlung besitze.