Heißt das, eine komplexe, differenzierte und weniger zuckersüße Sicht auf die Dinge ist automatisch besser? Oder habe ich hier eigentlich schon Complex Narrative Emotions, weil meine eigene Weltsicht so anders ist als die des Buches, dass es meine Emotionen gegenüber der Geschichte beeinflusst? Ist es am Ende eine Frage der Weltanschauung und nicht jeder Leser wird sich mit jeder Geschichte gleich verbunden fühlen?
Ich lese aus unterschiedlichen Gründen unterschiedliche Bücher, d.h. ich kann einfache Bücher, die nach einfachen Schemata agieren (z.B. Märchen), gleichsam genießen wie hochkomplexe (z.B. der Mann ohne Eigenschaften). Wenn ich mich psychisch auf einem höhen Flug befinde und freie Kapaizitäten habe, um mich auf eine vielschichtige Welt einzulassen, dann sagt mir Mann ohne Eigenschaften eher zu als Rotkäppchen. Wenn ich aber einfach eine Geschichte brauche, von der ich genau weiß, was mich erwartet und die mich einfach nur ablenken soll, ohne dass ich eine großartige denkerische Leistung vollbringen muss, dann wären zB. Märchen perfekt, die durch ihre verklärende Erzählart nochmal eine Pufferzone zur Realität schaffen.
Komplexe Emotionen können meiner Meinung nach nur in einer komplexen Welt entstehen. In einer Welt, in der vorgegaukelt wird, alles wäre schwarzweiß, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. In einer Welt mit Grauzonen schaut es schon anders aus. Wobei ich aber (jetzt, nachdem ich meinen Kommentar fertiggeschrieben habe und ihn nochmal überfliege) komplexe Emotionen lieber durch komplexe Figuren ersetzen wollen würde. Emotionen machen eine Figur komplex, in meinen Augen gibt es keine komplexere Emotion als eine andere.
Ich will keine einfachen Antworten, weil ich auch möchte, dass Leser etwas von meiner Geschichte mitnehmen können.
Leser*innen können auch einfache Antworten "mitnehmen", weil es vielleicht gerade solche sind, die sie im Moment brauchen. Je simpler etwas ist, desto zugänglicher ist es für andere und desto sicherer kann man sich sein, dass es wahrgenommen wird. Ob es akzeptiert wird, ist eine ganz andere Frage. Je komplexer etwas ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es von der breiten Masse erfasst wird und dementsprechend auch geschätzt wird.
Einfache Antworten kennen sie schon, aber ich finde die Geschichten interessanter, in denen die Antworten eben nicht einfach und simpel sind.
Einfache Antworten vielleicht, aber nicht jede einzelne Geschichte, die diese liefert.

Wenn 100 Geschichten dieselbe einfache Antwort liefern, wird womöglich klar, dass die Antwort gar nicht so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hat. Frei nach dem Sprichwort: Alle Wege führen nach Rom. Nicht umsonst haben sich Tropen und Motive bewährt.
Vielleicht steckt da ja auch ein wenig der Drang drin, etwas zu schaffen, das es so nicht schon hundertfach gab. Das ist heutzutage aber kaum noch möglich und wird nicht einfacher.
Milliarden von Menschen haben schon gelebt und dennoch lässt sich ziemlich sicher sagen, dass es jemanden wie dich oder mich noch nicht in dieser Form gegeben hat.

Worauf ich hinaus will: Wir sind das Produkt von unterschiedlichen Faktoren, genauso wie Geschichten. Setting, Figuren, Prämisse etc. erschaffen zusammen etwas Neues, wenn du dich als Individuum darauf einlässt, um deine höchstpersönliche Geschichte zu erzählen. In einem Kurs wurde einmal "wahrhaftiges Schreiben" thematisiert, was zum Ziel hat, mit dir selbst in Kontakt zu treten. Das klingt wahrscheinlich gerade sehr abstrakt und für mich, die eigentlich immer bemüht ist, nicht autobiographisch zu schreiben, war dieses Einlassen auf die eigene Person ein ziemliches Umdenken. Aber wahrhaftig ist kein Synonym für autobiographisch. Es meint unverfälschte Inhalte, ohne sie in irgendwelche Stereotype oder Normen zu passen. Da wir alle auf derselben Erde wandeln, ist es nur einleuchtend, dass mehrere Menschen über dasselbe reden bzw. schreiben, weil sie dieselben Dinge beschäftigen und beeinflussen. Aber es ist die
Art, wie wir darüber denken, deswegen empfinden und was wir davon versprachlichen.
Macht ihr die Unterscheidung zwischen komplexen und einfachen Emotionen?
Für mich ist das keine hilfreiche Unterscheidung. Eine Emotion ist eine Emotion. Wut ist Wut. Zuneigung ist Zuneigung. Für sich genommen sind diese Emotionen simpel, doch wenn sie in Kombination miteinander auftreten, werden sie nicht komplex, schaffen aber eine komplexe Figur bzw. eine komplexe Situation, in der eine Figur handeln muss.
Was macht diese Vielschichtigkeit aus und wie erreiche ich sie als Autor?
Wie gesagt, ich kann mit dem Begriff "komplexen Emotionen" nichts anfangen. Vielschichtigkeit entsteht durch unterschiedliche Handlungsstränge (am besten, wenn diese einander zuwiderlaufen, z.B. Person A möchte eine Bank ausrauben, Person B möchte den Bankraub verhindern, spontan muss ich da an Breaking Bad denken - wir haben einen braven Lehrer, der sich zu einem kaltblütigen Drogenkoch mausert, mit einem Schwager bei der Polizei), durch unterschiedliche Motivationen einzelner Figuren, die sich sogar widersprechen (siehe Breaking Bad: WW möchte gesund werden und gerät deswegen auf die schiefe Bahn, was er sich bis dahin in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hat) und durch unterschiedliche Figuren, die Werte und Motive der anderen Figuren hinterfragen.
Je mehr Ebenen ein Buch hat, desto mehr Gelegenheit bietest du deinen Figuren zu regieren, so können einzelne Szenen von nur einer Emotion beherrscht sein, doch unterm Strich kann das Buch noch immer durch Vielschichtigkeit bestechen.