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Historische Romane - Herangehen, Probleme, Möglichkeiten

Begonnen von Malinche, 22. Juli 2014, 11:30:26

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Malinche

Einige von uns schreiben ja auch durchaus mal was Historisches – angereichert mit phantastischen Elementen oder eben rein historisch. Jetzt haben wir durchaus schon einige Threads, die Einzelaspekte des Schreibens mit historischen Aspekten berücksichtigen, aber noch keinen, der sich mit dem Schreiben historischer Romane als Einzelthema beschäftigt. Ich starte hier also mal das Experiment eines solchen Threads für den Austausch zwischen allen, die sich an historischen Stoffen versuchen, mit dem Anspruch, dass wir uns nicht zu sehr mit bestehenden Themen überschneiden. Hier eine Auswahl dessen, was es schon gibt:

Historisches Setting - Mut zur Lücke?
Recherche historischer Orte und Begebenheiten
Historische Persönlichkeiten im Roman
Historische Ungenauigkeit - wie viel davon verzeiht der Leser?

Hilfreich möglicherweise auch:

Wie detailliert recherchiert ihr?
Historische Fantasy

Hier soll es aber schwerpunktmäßig nicht um die Anreicherung historischer Settings mit phantastischen Elementen gehen, sondern um die rein historischen Aspekte.

Der erste Impuls
Für die Entwicklung von Plot und Recherchearbeit kann es hilfreich sein, sich zu fragen, was den Anstoß gegeben hat. Seid ihr über eine historische Gestalt gestolpert, die euch sofort fasziniert hat? Ein Ereignis, dem ihr näher auf den Grund gehen wollt? Ist es eine gesamte Epoche? Bringt der erste Impuls schon eine Geschichte mit, oder bereitet er lediglich die Bühne und/oder den Cast?

Zwischen Fakten und Fiktion: Vom Geschichtsbuch zum Roman

Sicherlich ein Kernproblem: Wie bekommt man diese Balance hin? Wie stelle ich die historischen Ereignisse präzise, plausibel und zugleich romantauglich dar – ohne darüber die Story zu vernachlässigen? Wo finde ich Lücken zum Ausfüllen? Kann ich überhaupt Lücken füllen? Wie schaffe ich den Schritt von der Aneinanderreihung meiner Rechercheergebnisse zu einem Plot?

Was mir geholfen hat: Erwartungen formulieren und bei der Recherche im Hinterkopf haben. Was möchte ich erzählen? Gibt es Aspekte, Ereignisse, Gestalten, die ich gern integrieren möchte? Was könnte ihre Rolle und Funktion sein? Möchte ich Intrigen, Morde, brisante Geheimnisse? Was gibt der Hintergrund dafür her? Wo sitzt historisches Konfliktpotential? Was muss mein Held tun oder sein, damit er in Schwierigkeiten kommt? (Beispiel aus der eigenen Erfahrung: Ich wollte eine Intrige in den Reihen von Pizarros Conquistadoren und stieß auf den Fall der Unterschlagung beträchtlicher Goldsummen, die an der spanischen Krone vorbeigeschmuggelt werden sollten – yay!)

Wer sind meine Figuren?
Auch hier gibt es verschiedene Möglichkeiten. Der Umgang mit historischen Persönlichkeiten im Roman wird teilweise ja schon im o.g. Thread beleuchtet.
Ein historischer Roman kann historische Gestalten als Hauptfiguren und Perspektivträger haben, er muss es aber nicht. Eine andere Möglichkeit sind fiktive Figuren, die es aber in dieser Form gegeben haben könnte. Hier lässt sich natürlich viel spielen. Als »Hybridtyp« sind vielleicht Figuren denkbar, deren Name und Funktion uns historisch überliefert ist, über die wir aber so wenig wissen, dass wir das Vorhandene sehr gut mit plausibler Fiktion auffüllen können.

Frage ist hier auch: Mischt ihr historische mit fiktiven Perspektivträgern? Welche Vor- und Nachteile bieten sich? Es hängt natürlich auch von Impuls und Intention ab, ob ich Napoleons Leben aus seiner Sicht zu erzählen versuche, aus der seines fiktiven Kammerdieners oder aus der einer historischen Nebenfigur, die ihn kennt.

Wichtige Punkte: Wie mache ich aus meiner Figur (ob historisch oder fiktiv) jemanden, der für den Leser interessant ist? Wie bekomme ich die Balance aus epochenspezifischem Denken und Nähe hin? Wie schaffe ich es, meine Figuren weder zu exotischen Aliens noch zu Abziehbildern der Gegenwart zu machen, die nur zufällig in ein historisches Setting verpflanzt wurden?

Erschlagen von alten Folianten: Recherche und ihre Dosierung
Wie viel muss ich recherchieren, bevor ich zu schreiben beginne?
Das lässt sich vermutlich nicht so leicht beantworten. Dazu sind unsere Arbeitsweisen jeweils zu individuell. Grundsätzlich würde ich behaupten, ein historischer Roman braucht auch bei
Bauchschreibern mehr Vorarbeit als vielleicht ein anderes Genre. Viele von uns schwanken zwischen den Extremen, zu früh loszulegen und sich im Unwissen zu verheddern oder aber aus Angst vor Fehlern und vor lauter Recherche den Schreibprozess gar nicht erst aufzunehmen.

Wie viel man im Vorfeld recherchiert, hängt von weiteren Aspekten ab: Welchen Zeitraum behandle ich? Die drei Jahre eines bestimmten Kriegs oder das Jahrhundert einer einflussreichen Kaufmannsfamilie? Welche Eckpfeiler brauche ich für meinen Plot? Welches Detailwissen? Wie lässt sich Recherchebedarf sinnvoll bündeln und strukturieren? Wie komme ich gezielt an Details, die außer mir offenbar noch nie jemanden interessiert haben? (Abstruse Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: die Frage, ob Streichhölzer im 18. Jahrhundert schon in abgelegene Andendörfer vorgedrungen waren und ob die Inka Unterwäsche benutzten. [Zu Letzterem: Nein, taten sie nicht.])

Hilfe! Es wimmelt vor Widersprüchen!
Wie gehen wir mit Widersprüchen in der Recherche um? Haben wir eine Chance, Lügen, Übertreibungen, Auslassungen zu erkennen? Für welche Version entscheide ich mich im Roman? Wie versöhne ich widersprüchliche Darstellungen in meinem Plot? Und wie passe ich meinen Plot Widersprüchen an? Kann ich eine Wahrheit konstruieren, die irgendwo »in der Mitte« liegt (und eventuell sogar elegant genug ist, die jeweils abweichenden Versionen zu erklären)?

Manchmal kann ein Schuss Quellenkritik hier wieder hilfreich sein. Wer sind meine Autoren? Ist vielleicht sogar bekannt, dass sie ganz gezielt gegeneinander anschreiben und sich gegenseitig entkräften wollen? Gibt es weitere Quellen, die ein genaueres Licht auf die strittigen Punkte werfen? Oder weiß man es einfach nicht genau – bin ich als Autor plötzlich ungeahnt frei?


Sammlung: Ideen für die Recherche

Dass Recherche gerade für historische Romane das A und O ist, klingt nach einer Binsenweisheit. Wir haben zwar schon einige Threads für Recherche, aber vielleicht können wir hier noch mal Ideen zusammentragen, was sich aus welchen Gründen eignet.

Text- und Internetrecherche
Sicherlich der Hauptpfeiler für die historische Recherche. Grobe Internetrecherche (Wikipedia und Konsorten) kann für einen ersten Überblick sehr hilfreich sein, auch um gewisse Eckdaten festzustellen oder erste Hinweise auf weiterführende Literatur zu finden. Grundsätzlich würde ich ansonsten immer auf Fachliteratur verweisen, und am besten nicht nur Populärwissenschaftliches, weil dort auch vieles vereinfachend oder lückenhaft dargestellt werden kann. Für mich erweist sich momentan eine gesunde Mischung aus Primär- und Sekundärquellen als optimal.

Auch wenn der Gang in die Bibliothek wahrscheinlich unvermeidbar ist, würde ich das Internet als Recherchemedium nicht unterschätzen. Auch hier lässt sich Fachliteratur finden. Primärquellen sind teilweise digitalisiert und online zugänglich, zudem gibt es Datenbanken und Fachzeitschriften mit Onlinezugang. Googlebooks erlaubt oft einen Blick in ausgewählte Textstellen oder das Inhaltsverzeichnis, was hilfreich sein kann, um einzuschätzen, ob sich ein Buch wirklich lohnt. Tipp für die Kindle-Besitzer: Teilweise sind echte Perlen unter den kostenlosen Klassikern vertreten (ich habe da z.B. haufenweise Werke spanischer Chronisten gefunden). Weiterer Tipp: Fremdsprachenkenntnisse sind von Vorteil. Das hängt natürlich auch von Epoche und Region ab, aber es kann sehr hilfreich sein, wenn man englisch-, spanisch- oder französischsprachige Literatur konsultieren kann.

Primärquellen
Ganz grob besagt: Texte aus der entsprechenden Zeit. Häufig ist die Unterteilung in Dokument- und Narrativquellen hilfreich. Was es jeweils gibt, variiert natürlich auch extrem. Wichtig hier (wie immer): Die Autoren einordnen. Der Sohn eines Inkaherrschers wird dessen Rebellion logischerweise anders bewerten als ein spanischer königstreuer Chronist. Alexander von Humboldt als Vertreter einer preußischen Bildungselite betrachtet die Dinge anders als ein mexikanischer Sekretär mit Stauballergie.
Vorteile: Mit Primärquellen kommt man häufig sehr nah an damalige Denk- und Darstellungsmuster heran. Testamente und Tributlisten, aber vielleicht auch Romane und ähnliches aus den Epochen können helfen, Einblick in Alltagsdetails zu bekommen, die in anderen Quellen vernachlässigt werden, weil sie natürlich für Zeitgenossen selbstverständlich sind (Was besaßen die Menschen? Wie benutzten sie es? Wie sahen Häuser und Möbel aus?).

Beispiele:


  • Chroniken
  • Reiseberichte
  • Briefe und Tagebücher
  • Gerichtsakten, Zeugenbefragungen, Testamente, amtliche Protokolle
  • Zeitungsartikel (und Zeitungen insgesamt, z.B. Annoncen, Werbeanzeigen u.ä.)

  • Romane und Gedichte aus der entsprechenden Zeit

Sekundärquellen
Wie bei allen Quellen gilt hier natürlich auch: Gucken, wer der Autor ist, ob man ihn vielleicht in eine bestimmte Schule/andere theoretische Richtung stecken kann, die seine Darstellung beeinflusst. Ein überzeugter Kommunist wird Che Guevara anders porträtieren als ein Pazifist, der an neoliberale Marktwirtschaft glaubt.
Vorteile: Sekundärliteratur erlaubt es oft, gezielt zu einem Thema und bestimmten Aspekten zu recherchieren, eine Analyse von Zusammenhängen zu bekommen, die man selbst so nicht hergestellt hätte, und aufgrund der Literaturverweise dann auch gezielt die Primärquellen zu finden, die einem die gewünschten Informationen bieten.

Beispiele:


  • Überblickswerke (Monographien) zu einer Epoche oder bestimmten Ereignissen
  • Biographien
  • Sammelwerke zu einem Thema mit Artikeln verschiedener Autoren
  • Einzelne Artikel in Fachzeitschriften

  • Historische Romane zur gleichen Epoche/Persönlichkeit (natürlich mit Vorsicht zu genießen)

Nicht-textliche Quellen
Kati hatte das in einem anderen Thread mal sehr schön ausgeführt: Andere Quellen als Texte können hilfreich sein, um sich ein optisches (oder haptisches) Bild von der Epoche zu machen, Verständnisprobleme lösen oder Darstellungen aus Textquellen ergänzen.

Beispiele und Möglichkeiten:


  • Museen und ihre Exponate (z.B. archäologische Objekte, Kleidung)
  • Fernsehdokumentationen und Historienfilme (sehr gut zur Visualisierung, oft nur eingeschränkt zur Darstellung von historischen Zusammenhängen)
  • Historische Stätten (Burgen, Schlösser, erhaltene Stadtstrukturen, Ruinen, Wohnhäuser historischer Persönlichkeiten ...)
  • Bilder und Gemälde
  • Musik (und Musikinstrumente)
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Alaun

Woa. Danke für diesen ausführlichen Beitrag, das ist ja super! :knuddel:

Churke

Da fehlt noch etwas zum Thema Stil und Sprache.
Wenn Hera "nervt" und Zeus jemanden "im Fokus" hat und das erkennbar nicht humoristisch gemeint ist, wird das nicht so überzeugend. Die sprachliche Anpassung ist wichtig. Stil, Duktus, Wortschatz. Auch die Sprache lässt sich aus den Quellen ziehen.

Malinche

Japp, das ist natürlich ein sehr wichtiger Punkt, Churke. Das hatte ich im Hinterkopf, habe es aber nicht dazu geschrieben. Sprachstil und Wortwahl, die historisch "harmonisch" klingen und Anachronismen vermeiden gehört auf jeden Fall dazu.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Franziska

Es ist schon nicht so einfach die richtigen Quellen zu finden, besonders wenn man nicht Geschichte studiert hat und erstmal gar nicht weiß, wo man anfangen soll, zu suchen. Man muss erstmal auf die richtigen Stichwörter kommen bei der Katalogsuche. Und erstmal die richtigen Kataloge finden. Ich hatte das Glück, dass meine Stabi die meisten Bücher hatte, die ich gesucht habe. Aber leider habe ich nicht allzu viel gefunden, obwohl man meinen könnte, dass die Zeit um 1900 gerade sehr in ist.
Ich habe es ja so gemacht, erstmal den Roman zu schreiben und dann zu recherchieren, ob das alles stimmt. Das ist aber wohl nur zu empfehlen, wenn man schon einen groben Überblick über die Zeit hat. Und es kann natürlich passieren, dass irgendein Detail den ganzen Plot umwirft.
Und einige Sachen sind wirklich schwer zu recherchieren. Zum Beispiel habe ich versucht, herauszufinden, ob mein Prota für das, was er getan hat aus der Uni geworden werden würde. So ganz klar ist mir das nicht geworden. Da muss man sich dann schon die Freiheit nehmen, das so festzulegen.
Mir hat auch sehr geholfen, Romane aus der Zeit zu lesen, um in die Stimmung und die Denksturktur damals reinzukommen. Man lernt auch am besten, wie die Umgangsformen waren.
Ich traue mich aber glaube ich nicht, über eine Epoche zu schreiben, zu der es wenige Quellen gibt oder über die ich gar nichts weiß.

Beim recherchieren sind mir dann auch noch eine Menge Plotideen gekommen.
Ich glaube nicht, dass es eine Anleitung für historische Romane gibt. Jede Epoche war anders, für jede muss man woanders nach Quellen suchen.

Zum Stichwort Internetrecherche fällt mir noch ein: ich habe zum Beispiel einen Zeitungartikel gefunden über einen Mann, der zu dem Thema forscht, was mich brennend interessiert und der darüber seine Doktorarbeit schreibt. Es wird sich also lohnen ab und zu zu gucken, ob diese Arbeit schon erschienen ist. Ist man ganz frech, traut man sich vielleicht sogar solche Leute anzuschreiben. Die meisten Forscher reden ja gerne über ihre Arbeit.
Auch hat es mir geholfen, die Blogs von Autoren zu stalken, die auch Bücher schreiben, die in der Zeit spielen. Einige hatten gute Tipps.

Alana

#5
Ein wirklich toller Beitrag, Malinche mit richtig guten Tipps! Danke. :)

Ich hab da noch zwei kleine Anmerkungen aus meinen eigenen Erfahrungen:

1. Kleiner Trick: Wenn es nicht so sehr auf 10 Jahre hin oder her ankommt, sollte man sich vorher anschauen, wo besonders viel dokumentiert wurde und die Handlung dann in diese Zeitspanne legen. Das sind meist Kriege, große Umstrukturierungen oder umfassende städtebauliche Veränderungen. Ich hatte in dieser Hinsicht Glück, ich hatte mir 1888 ausgesucht, weil ich die neue Speicherstadt in Hamburg als Setting wollte, was sich für mich als Glücksgriff herausgestellt hat, weil der Bau der Speicherstadt so umfassend war und sich heute noch auswirkt, so dass es unheimlich viel Material darüber gibt. So konnte ich tatsächlich die meiste Recherche bequem online erledigen.

2. Bei historischen Romanen ersetzt meiner Meinung nach nichts die Recherche vor Ort. Bei einem Contemporary Projekt kann man auch mal was schreiben, ohne vor Ort gewesen zu sein, aber bei historischen Romanen wird das schwer. Ich hatte einige Fragen, die ich online trotz tagelanger Recherche nicht beantworten konnte und auch hier in der Bibliothek nicht. In Hamburg in einer gut sortierten Bibliothek habe ich die Antworten auf meine Fragen innerhalb von einer Stunde alle gefunden. Einfach weil dort ganz andere Bücher vorrätig gehalten werden und die Bibliothekare sich auch mit der Materie dort natürlich auskennen. Das sollte man sich bewusst machen, bevor man so ein Projekt angeht.
Alhambrana

Akirai

Ich grabe mal den Thread aus, weil ich mir ein bisschen Input erhoffe. Kurz zur Erklärung: ich schreibe an einem historischen Roman. Beim Schreiben stelle ich mir bei einigen Szenen aber immer wieder die Frage, ob ich an der Stelle nicht Dinge voraussetze, die ein potentielles Lesepublikum überfordern bzw. verwirren.

Mal ein Beispiel: Mein Prota grübelt gerade darüber, ob ein nächtliches Erlebnis jetzt ein Traum oder eine Vision war.
Hintergrund des Problems: Wenn es ein Traum war, dann war es nicht real, wenn es eine Vision war, dann war sie real. Hinzu kommt: wer Visionen empfängt, ist potentiell heilig, denn er steht im Gespräch mit Gott. Träume können sowohl von guten als auch bösen Mächten geschickt werden. Und wer will schon vom Teufel eine Nachricht erhalten?

Meine bisherige Lösung: Ich lasse meinen Prota über den Unterschied zwischen Traum und Vision philosophieren  ;D (Halbwegs un-elegant, ich weiß, aber ich bin noch in der 1st Draft-Phase). 

Nun frage ich mich, wie ich den Lesern das doch ziemlich unterschiedliche Lebenskonzept meines Protas und seiner Zeit rüberbringe, ohne dabei zu sehr in Richtung "Erklärbär" abzudriften.

Habt ihr da irgendwelchen Input für mich? Wie geht / würdet ihr an das Problem rangehen? Ich bin gespannt auf eure Antworten!




Araluen

#7
Hmm die größte Sorge des Protas dürfte wohl sein, dass die Botschaft vom Teufel kommt. Das Konstrukt Vision oder Traum dürfte da für ihn zweitrangig sein , vor allem je nach Stand und damit auch Bildungsstand der Figur. Also würde der Prota wohl eher darüber grübeln ob es das Wort Gottes (was auch sehr anmaßend ist, würde ich meinen) oder eine Einflüsterung des Teufels war oder vielleicht doch einfach nur ein Traum. Und diese Problematik ist auch dem Leser klar auch ohne, dass er den Unterschied zwischen Traum und Vision in diesem historischen Kontext kennt.

In welcher Zeit/Setting bewegen wir uns eigentlich?

Churke

Ich finde das nicht anmaßend. Für derlei Visionen gibt es im Mittelalter genau 3 Erklärungen: a) Du spinnst. b) Gott will dir etwas sagen. c) Der Teufel will dich verführen. Denn eines ist klar: Alles Übernatürliche kommt entweder von Gott oder vom Teufel. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Gott ist nicht nur groß, er hat besonders in der katholischen Kirche auch viele Helfer sprich Heilige, die Aufträge erteilen können.

Es wird also letztlich darauf ankommen, was die Vision beabsichtigt. Wenn sie etwas Gutes will, kann sie nur von Gott kommen, denn Augustinus zufolge kommt alles Gute nur von Gott. Will sie aber etwas Böses, muss es der Teufel sein. Interessant wird es, wenn die Sache interpretationsfähig ist.

Akirai

Zitat von: Churke am 02. Januar 2020, 12:49:39
Interessant wird es, wenn die Sache interpretationsfähig ist.

Oh, die Sache ist sehr interpretationsfähig, immerhin treffen zwei Heere aufeinander, die eigentlich nicht miteinander kämpfen sollten, und dann kommt es zu einem blutigen Schlachten, in dem mein Prota eine längst verstorbene Sagengestalt auf sich zukommen sieht.  ;D
Normalerweise wäre das doch ein schöner Auftakt: potentielles foreshadowing, wir steigen mitten in die action ein und ziehen schön das Tempo an, dazu konfrontieren wir den Leser noch mit unerklärlichen Dingen, die seine Neugier wecken.
Nur, was bei Fantasy vielleicht ein netter Auftakt ist, wirkt aus meiner Sicht beim historischen Roman nicht mehr.
Meine Befürchtung ist nämlich:
Bei dieser Vision wird sich ein Großteil der Leser denken: uuuh, Prota, du musst das Reich vor dem Untergang retten! Spannend!
Und anstatt in erwartbaren Aktionismus zu verfallen, um auch wirklich das Reich zu retten, überlegt sich mein Prota, ob das nächtliche Erlebnis jetzt eine von Gott gesandte Vision oder ein dämonisch eingeflüsterter Alb-Traum ist. Irritationslevel des Lesers: maximal. Identifikationsfläche für den Leser: nur gering ausgeprägt. Und das beim Buch-Auftakt. Gnarf  :versteck: .

Zitat von: Araluen am 02. Januar 2020, 09:47:32
Hmm die größte Sorge des Protas dürfte wohl sein, dass die Botschaft vom Teufel kommt. Das Konstrukt Vision oder Traum dürfte da für ihn zweitrangig sein , vor allem je nach Stand und damit auch Bildungsstand der Figur.  Also würde der Prota wohl eher darüber grübeln ob es das Wort Gottes (was auch sehr anmaßend ist, würde ich meinen) oder eine Einflüsterung des Teufels war oder vielleicht doch einfach nur ein Traum. Und diese Problematik ist auch dem Leser klar auch ohne, dass er den Unterschied zwischen Traum und Vision in diesem historischen Kontext kennt.
Ääähm - nein. Vor dem Problem stand schon der Kirchenvater Hieronymus, mein Prota wandelt da also in sehr bekannten Spuren*. Das kann ich aus meines Protas heute noch überlieferten Quellen sogar mit Beispielen belegen: wenn das Kind einschläft und am nächsten Tag gelähmt aufwacht, dann hatte es einen bösen Traum und ist vom Teufel heimgesucht. Wenn ein anderes Kind einschläft und den verstorbenen Heiligen sieht, dann ist das eine Vision.
Jetzt zeigt sich (sorry, wenn ich den Kommentar jetzt überbewerte  :versteck: Nicht böse sein!) in deinen Zeilen aber das grundsätzliche Problem, das ich sehe. Um es sehr überspitzt auszudrücken: mein Prota lebt in einer Welt, in der Gott und Teufel keine abstrakten, alltagsferne Konstruktionen mehr sind, sondern real. Beide greifen in das Weltgeschehen ein und es ist ein beständiges Ringen. Uns heute banalen Dingen wird eine unglaubliche Wichtigkeit beigemessen (Beispiel: Träume, Wetterphänomene, unerklärliche Krankheiten). Und die Leute lebten wesentlich vergangenheitsverbundener, denn die Zukunft war von den in der Vergangenheit festgelegten Dingen beeinflusst. Anders ausgedrückt: jede Neuerung konnte mit einem "Aber das haben wir schon immer so gemacht!" abgelehnt werden.

Und wenn ich versuche, die Welt nach diesen mittelalterlichen Prinzipien aufzubauen und meinen Prota wirklich diese Gedanken denken zu lassen, die uns seine Schriften heute noch vermitteln, dann habe ich manchmal das Gefühl, als würde ich ein fremdes Fantasy-Volk beschreiben. Das fremde Fantasy-Volk kann ich allerdings "OC" werden lassen, um dem Leser eine größere Identifikationsfläche zu bieten. Meinem Prota und seinem Umfeld würde ich nur ungern moderne Konstruktionen überstülpen (das wird besonders bei der Haltung gegenüber Frauen noch ein schöner Drahtseilakt ... wieso sind das auch alles Mönche und Kleriker!  :wums:).
Wie aber bringe ich Lesern die Unterschiede zur heutigen Gesellschaft näher, ohne ins Erklärbär-Dasein abzudriften?



*Und ein absolut charakteristisches Verhalten für ihn wäre es auch noch, wenn er sich in dem Moment an den "Traum des Hieronymus" erinnert. Doch welcher Otto-normal Leser versteht heute den Hinweis, wenn ich etwas von "nun befand er sich in derselben Zwickmühle wie einst Hieronymus. War dies ein teuflischer Traum oder eine von Gott gesandte Vision?" schreibe? Bis vor einiger Zeit hätte ich selbst damit ja auch nichts anfangen können. Meine Überlegung ist, ein Sternchen an die Stelle zu setzen und hinten ein Glossar für die Anspielungen einzufügen. Allerdings klingt das auch wieder so nach Erklärbär  :versteck: :wums:

Araluen

#10
Ich muss sagen Fußnoten oder Sternchen mit Verweis ins Glossar finde ich im historischen Roman nicht schlimm, eher hilfreich. Denn das sind Erklärungen, die sich der Leser wie im Hieronymusbeispiel abholen kann, wenn er sie braucht oder einfach interessant findet. Du gibst die Möglichkeit, zwingst es aber niemanden auf. Der Erklärbär wäre ein erlärender Monolog in fließenden Text, dem sich der Leser nicht entziehen kann, außer er überspringt die Passage, was nicht gewollt sein kann.
Von daher fände ich eine Fußnote zu Hieronymus und seinem Traumproblem hilfreicher als einen inneren philosophischen Monolog des Protas über den Unterschied von Vision und Traum, den er ja nur für den zeitfremden Leser hält. Prota kennt den Unterschied. Für ihn ist das gelebte Realität. In meinem ersten Beitrag ging es mir auch eher darum, dass der Prota je nach Stand weniger über grundsätzliches philosophieren wird, sondern eher über die direkten für ihn relevanten Konsequenzen nachdenkt. Daher ist es für ihn wichtiger, was es denn nun war und nicht wie man den Unterschied definiert.

Akirai

Dann habe ich dich falsch verstanden, entschuldigung!  :versteck:

Ok, also Sternchen und Glossar fändest du jetzt nicht schlimm? Das ist wirklich sehr interessant! Evtl. wäre das dann doch eine akzeptable Möglichkeit für mich ... Danke für den Hinweis!

Araluen

Ich persönlich mag Glossare sehr gern, grad wie gesagt im historischen Roman oder auch in High Fantasy. Fußnoten hab ich persönlich nicht so gern. Die sind mir zu aufdringlich und zerschießen oft das Seitenlayout.  Man sollte im Glossar nur darauf achten, nicht versehentlich zu spoilern. Das kann leider bei einem Personenglossar leicht passieren. Wobei das bei historischen Figuren und Handlungen auch immer relativ ist. Ein Buch über die Rosenkriege wird rein vom Verlauf der Ereignisse kaum Überraschungen haben. Hier geht es dem Leser ja auch eher um lebendige Geschichte zum Eintauchen.

caity

#13
Ich würde an deiner Stelle deinen Leser*innen mehr zutrauen, nicht zwangsläufig damit, etwas zu kennen, sondern damit, Dinge einordnen zu können.
Um beim Beispiel zu bleiben: "War es nur ein Traum gewesen? Oder gar eine Vision? Bei allen Heiligen, wer hätte gedacht, dass er sich einmal in derselben Situation wie der Heilige Hieronymus befinden würde?"
Ich hätte nicht gewusst, dass Hieronymus sich einmal mit so etwas geplagt hat. Ich kenne ihn jetzt natürlich, aber selbst wenn ich ihn nicht kennen würde, würde ich einordnen können: Okay, diese Person ist als Vergleichspunkt wichtig für den Protagonisten, Hieronymus war also damals so etwas wie heutzutage ... Obama. Und ich würde wissen, dass sich Hieronymus dieselbe Frage gestellt hat. Mehr Informationen brauche ich in dem Moment nicht. Wenn mich interessiert, wer Hieronymus ist, und was bei ihm damals war, kann ich es googeln.

Ich finde, Leser*innen von Historischen Romanen darf man das ruhig zutrauen. Also nicht, dass sie alles wissen, aber, dass sie sich auf die damalige Denkweise einlassen. Solange du den Roman nicht in mittelhochdeutsch verfasst, finde ich es völlig legitim, ja, sogar notwendig, dass andere Sichtweisen zum Tragen kommen. Wie Araluen schrieb, würde ich das so plastisch wie möglich darstellen. ;)

Ich bin da übrigens kein Fan von Fußnoten. Dann lieber am Ende eine Erläuterung unter "Fakt und Fiktion" oder ein Glossar am Ende. Aber das ist Geschmackssache.

EDIT: Hat sich mit Araluen überschnitten.
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Akirai

Hm. Vielleicht habt ihr recht und ich mache mir tatsächlich zu viele Gedanken ...