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[Soziologie] Was passiert mit einem entführten Kind, wenn es nach Hause kommt?

Begonnen von Sipres, 09. Februar 2015, 21:13:55

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Sipres

Hi Leute,

ich versuche mich gerade an einer Kurzgeschichte, deren Plot ich schon zu Ende gesponnen habe. Es geht um ein elfjähriges Mädchen, dass kurz nach ihrer Geburt entführt wurde und seitdem mit seinem Entführer durch Deutschland reist. Der Entführer, den das Mädchen bis dato für seinen Vater gehalten hat, wird verhaftet und das Kind soll zurück zu seinen richtigen Eltern. Dabei gibt es Komplikationen, da das Mädchen die richtigen Eltern nicht als Eltern akzeptiert.

Nun meine Fragen: Was werden für Maßnahmen unternommen? Wie lange dauert es, bis das Kind zu seinen Eltern kann? Inwiefern ist das Jugendamt involviert? Und muss dieses Kind zwangsläufig in eine Therapie?

Ich hoffe, ihr könnt mir helfen.

Lothen

[ich glaube, der Post sollte eher in das "Autoren helfen Autoren"-Board, aber das nur nebenbei ;) ]

Ich bin kein Jurist, aber ich versuche mich mal an einer Antwort, soweit ich mich auskenne:

Zitat von: Sipres am 09. Februar 2015, 21:13:55Wie lange dauert es, bis das Kind zu seinen Eltern kann?
Ich glaube, dafür gibt es keine Standard-Antwort, weil das Szenario, das du entworfen hast, ja extrem selten wäre. Man muss die Eltern natürlich erst einmal ausfindig machen und das stelle ich mir schon schwierig vor, weil das Kind ja vermutlich keine Papiere hat und der Entführer ja ggf. auch den Namen des Kindes geändert hat. Dass das Mädchen dasjenige ist, das vor 11 Jahren entführt wurde, muss ja erst festgestellt werden.

ZitatWas werden für Maßnahmen unternommen?
Da wäre zunächst die Frage, wie es sich äußert, dass das Kind die Eltern "nicht akzeptiert". Läuft es weg? Boykottiert es den Schulbesuch (ist es überhaupt während der Entführung in die Schule gegangen?)? Verhält es sich aggressiv gegen die Eltern/Geschwister/sich selbst? Zeigen sich Symptome psychischer Störungen?

Wenn solche Verhaltensweisen länger andauern, ist es schon möglich, dass die Eltern das Jugendamt einschalten (vor allem bei der Vorgeschichte ist es ja wahrscheinlich, dass Selbiges schon involviert ist). Das Jugendamt hat verschiedene Alternativen: Es kann den Eltern und dem Kind therapeutische Hilfe (Beratung, Therapie) oder einen Erziehungsbeistand anbieten (eine Person, die in die Familie kommt um direkt vor Ort "anzupacken"), um die Probleme in den Griff zu bekommen. Falls das Kind selbst- oder fremdgefährdende Verhaltensweisen zeigt oder ambulante Maßnahmen nicht dabei helfen, Schulbesuch zu gewährleisten etc., kommt auch eine "Einrichtung der Erziehungshilfe" in Frage, d.h. ein Heim für "schwierige" Kids.

ZitatInwiefern ist das Jugendamt involviert?
Das Jugendamt dürfte von vorneherein hinzugezogen werden, wenn es um das Wohl des Kindes geht. Aber da kenne ich mich nicht so ganz konkret aus.

ZitatUnd muss dieses Kind zwangsläufig in eine Therapie?
Ich denke, man würde das definitiv anbieten, aber zu einer Therapie "zwingen" kann man ja niemanden. Auch kein Kind. Wenn es sich verweigert, dann ist das eben so.

Uff, schwierige Situation. Ein Patentrezept zu empfehlen fällt mir da schwer - ich glaube, da gibt es auch kein Schema F, nach dem man handeln könnte. Ist ja schon eine Extrem-Situation.

Sipres

Erstmal vielen Dank für deine schnelle Antwort.

ZitatMan muss die Eltern natürlich erst einmal ausfindig machen und das stelle ich mir schon schwierig vor, weil das Kind ja vermutlich keine Papiere hat und der Entführer ja ggf. auch den Namen des Kindes geändert hat. Dass das Mädchen dasjenige ist, das vor 11 Jahren entführt wurde, muss ja erst festgestellt werden.

Das stimmt wohl. Diese Zeit will ich aber gekonnt überspringen. Die Trauer des Mädchens lässt es nicht ganz mitkriegen, wie lange das ganze dauert.

ZitatDa wäre zunächst die Frage, wie es sich äußert, dass das Kind die Eltern "nicht akzeptiert". Läuft es weg? Boykottiert es den Schulbesuch (ist es überhaupt während der Entführung in die Schule gegangen?)? Verhält es sich aggressiv gegen die Eltern/Geschwister/sich selbst? Zeigen sich Symptome psychischer Störungen?

Alma (echter Name Maja) will immer wieder weglaufen und zu ihrem "Papa". Agressiv wird sie nicht, aber sie gibt jedem zu verstehen, dass nur ihr "Papa" ihr richter Papa ist. Ihre echten Eltern bezeichnet sie als Fremde und Entführer. Eine Schule hat sie nie besucht, weshalb sie durch ein Förderprojekt eingegliedert wird.

ZitatEs kann den Eltern und dem Kind therapeutische Hilfe (Beratung, Therapie) oder einen Erziehungsbeistand anbieten (eine Person, die in die Familie kommt um direkt vor Ort "anzupacken"), um die Probleme in den Griff zu bekommen.

Ich finde die Idee mit dem Beziehungsbeistand super. So kann ich eine Person einbauen, zu der Alma/Maja ein wenig vertrauen fasst. Dann ist sie nicht ganz so allein.

FeeamPC

Ähnliche gelagerte Fälle gab es in den Pionierzeiten der USA häufig, entführte weiße Kinder, die unter Indianern aufwuchsen und um nichts in der Welt sich wieder in der Welt ihrer weißen Eltern einfügen wollten oder konnten. Gut, da kam noch ein Kulturschock dazu, das machte die Sache um einiges schwieriger, aber auch hier ...
Ein Kind, das sich zurückzieht, trotzt, "seinen" Vater zurück will, überforderte Eltern, die vom Nervenzusammenbruch bis zum hilflosen Alkoholbesäufnis alles mögliche tun könnten...
Dazu, nicht zu vergessen, die Sensationspresse, die die Familie mit absoluter Sicherheit belagern wird und das Drama noch zuspitzt.

Sipres

An die Presse hab ich gar nicht gedacht. Da kann man ja noch mehr Emotionen herausholen. Und das Ende von Almas/Majas Geschichte wird noch verständlicher.

Imperius

ZitatWie lange dauert es, bis das Kind zu seinen Eltern kann?

Die Eltern haben das Sorgerecht. Egal, ob die Tochter nun eine Woche oder elf Jahre weg war. Das Sorgerecht beinhaltet das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das Kind wird also so schnell wie möglich zu den Eltern gebracht.

Das Jugendamt ist nicht zwangsläufig involviert und eine Zwangstherapie gegen den Willen der Eltern wird es auch nicht geben.

Die Eltern haben aber natürlich das Recht, sich entsprechende Hilfen zu holen. Und wenn Dritte Bedenken haben, dass das Kindeswohl gefährdet ist, könnten sie zum Beispiel auch das Jugendamt informieren. Zu denken wäre an die Schulleitung, wenn das Mädchen nicht zur Schule erscheint, oder  an die Polize ( nach dem Auffinden des Kindes).

Felsenkatze

Ich kann mir vorstellen, dass das Jugendamt sowieso ein Auge darauf hat, denn wenn das Kind befreit worden ist, muss ja jemand die Sorge übernehmen, bis die Eltern ausfindig gemacht worden sind. Das wird in dem Fall denke ich das Jugenamt übernehmen, wahrscheinlich über eine Pflegefamilie. Insofern kann es durchaus sein, dass die weiterhin die Entwicklung des Mädchens im Auge behalten. Und ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Familienhilfe angeboten wird, entweder über eine außerfamiliäre Bezugsperson oder über eine Therapie. Wobei das vermutlich schon eine Familientherapie wäre, denn es geht ja darum, dass die ganze Familie wieder "zusammenfindet."

Wenn Kinder häufig weglaufen und es Probleme mit der Familie gibt, kann es sicher auch mal sein, dass sie zeitweise anderswo untergebracht werden. Unsere Kindersportleiterin hier ist Pflegemutter und hat öfter mal für ein-zwei Wochen Kinder bei sich, die es zu Hause nicht so gut aushalten. In dem Kinderheim, in dem ich soziales Jahr gemacht habe, gab es auch ein, zwei Fälle von Selbstmeldungen, da sind Kinder, die ihre Familie für unerträglich hielten, hingegangen, und haben sich selbst "eingewiesen". Falls deine Prota also die Familie so unerträglich findet, aber auch nicht zu ihrem "Papa" kann, wäre das vielleicht auch ein Zufluchtsort.
Natürlich keine Dauerlösung, denn da gibt es immer noch das Sorgerecht, und das dürfte ganz klar bei den Eltern liegen, wenn sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen - wovon ich mal ausgehe.

Tigermöhre

Zitat von: Felsenkatze am 02. März 2015, 12:35:56
In dem Kinderheim, in dem ich soziales Jahr gemacht habe, gab es auch ein, zwei Fälle von Selbstmeldungen, da sind Kinder, die ihre Familie für unerträglich hielten, hingegangen, und haben sich selbst "eingewiesen". Falls deine Prota also die Familie so unerträglich findet, aber auch nicht zu ihrem "Papa" kann, wäre das vielleicht auch ein Zufluchtsort.
Natürlich keine Dauerlösung, denn da gibt es immer noch das Sorgerecht, und das dürfte ganz klar bei den Eltern liegen, wenn sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen - wovon ich mal ausgehe.

Ich kenne mehrere Fälle von Jugendlichen, die sich ans Jugendamt gewendet hatten, damit sie aus ihrer Familie raus kommen. Alle wurden wieder nach Hause geschickt. Meiner Erfahrung nach, funktioniert so eine Selbstmeldung nicht.

Felsenkatze

Zitat von: Tigermöhre am 02. März 2015, 12:43:50
Ich kenne mehrere Fälle von Jugendlichen, die sich ans Jugendamt gewendet hatten, damit sie aus ihrer Familie raus kommen. Alle wurden wieder nach Hause geschickt. Meiner Erfahrung nach, funktioniert so eine Selbstmeldung nicht.

Hm, komisch, bei uns gab es zwei. Eine junge Türkin, der von ihrem Vater verboten wurde, das Gymnasium zu besuchen und ein Mädchen, das vom Lebensgefährten der Mutter geschlagen worden war. Beide waren nicht ewig bei uns, aber schon einige Zeit. Über den rechtlichen Hintergrund weiß ich natürlich nix, Akteneinsicht hatte ich keine.
Hängt vielleicht vom zuständigen Jugendamt ab.

War aber ja auch nur als Anregung für die Situation gedacht.

Nycra

Mein Vorschlag wäre ja, mal eine Anfrage ans Jugendamt zu stellen, da gibt es m.E. auch Pressestellen, die können vielleicht adäquate Aussagen treffen.

Was die Verantwortlichkeit des Jugendamtes angeht, gibt es meines Erachtens nach keine bundeseinheitlichen Regeln, daher kann es schon sein, dass eure Erfahrungen @Tigermöhre und @Felsenkatze voneinander abweichen. Klar soll das Kindeswohl im Vordergrund stehen, in Hessen - wie ich aus leidiger Erfahrung miterleben musste - darf ein Richter beispielsweise per Gesetz kein Kind in therapeutische Maßnahmen schicken, wenn die Eltern nicht zustimmen, selbst wenn akute Kindeswohlgefährdung vorliegt. In diesen Fällen kann (wird aber meist gar nicht) ein betreuender Sozialarbeiter bestimmt werden, der dann 0,05h am Tag Zeit hat, sich auch um eines der 400 Kinder, die er betreut, zu kümmern.  ::)

Im Fall einer Entführung kann es eine Sonderregelung geben. Normalerweise gibt es für so etwas Notfallseelsorger, die ggf. auch entsprechend helfen, den Übergang zu organisieren, aber auch hier würde ein Anruf beim Jugendamt/Polizei vermutlich der sinnvollere Weg sein, Details in Erfahrung zu bringen.

Churke

Jugendämter haben große Spielräume, was sie machen und wie sie's machen. Teils gibt's auch ziemlich große Geldtöpfe. Aber um was zu tun, müssen entsprechende Gefährdungsmeldungen vorliegen.