Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Allgemeines => Tintenzirkel => Thema gestartet von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43

Titel: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43
Mir ist heute etwas aufgefallen, was mich sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben einer Geschichte stark beeinflußt. Ich wüßte gern, ob es euch genauso geht.

Literarisch wird ja gern die "Aussage" einer Geschichte herausgearbeitet, also das, was ein Künstler mit seinem Werk sagen will. Eine Geschichte mit einer prägnanten Aussage reißt den Leser mit, regt zum Nachdenken an und läßt ihn mit der Erinnerung an ein spannendes Erlebnis zurück.

So sagt man.

In der Praxis habe ich festgestellt, daß diese Theorie bei mir nur sehr selektiv greift. Die Aussage einer Geschichte, das Fazit, das der Autor selbst zieht, kann mich sehr mitreißen; aber im Grunde nur, wenn ich dem Autor zustimme. Wenn ein Autor eine Aussage unterbringt, die mir total gegen den Strich geht, kann die Geschichte noch so gut geschrieben sein, und ich werde sie kein zweites Mal anfassen. So geschehen - leider - mit einigen wirklich meisterhaften Werken, z.B. von Ursula K. LeGuin. Ein Werk mit einer festen Aussage wirkt auf mich nur dann, wenn ich mit der Aussage im Grunde ohnehin schon übereinstimme.

Wenn die Geschichte es dagegen schafft, eine Frage aufzuwerfen und deren Beantwortung trotz allem, was in der Handlung passiert, offen genug für eigene Gedanken läßt - dann hat mich der Autor gepackt. Wenn es darauf hinausläuft, daß ich mich immer wieder gefragt fühle "Wie würdest du in dieser Situation handeln?" ... dann fühle ich mich in den Roman einbezogen, dann habe ich die größtmögliche Immersion in die Handlung. So geschehen auch bei vielen eher anspruchslosen Werken, z.B. von Joel Rosenberg.

Das gilt für mich als Leser, und ich stelle fest, auch als Autor fühlen sich meine Ergebnisse viel besser an, wenn ich mit einer offenen Fragestellung an die Geschichte herangehe als mit einer festen Aussage. Eine feste Aussage setzt mich als Autor unter Druck, meine Charaktere an die kurze Leine zu nehmen und ihnen für jede Szene ein Drehbuch vorzukauen. Eine offene Frage läßt den Charakteren in meinem Kopf den Freiraum, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen und mir ihre Geschichte vorzuleben. Und wenn meine Charaktere am Ende für sich eine ganz andere Antwort finden als ich für mich, dann macht das nichts, denn ich bin trotzdem den Weg mit ihnen gegangen, habe an jeder Gabelung mitgefiebert und daraus gelernt.

Wie sieht das bei euch aus? Habt ihr an euch schon ähnliche Beobachtungen gemacht? Könnt ihr welche von euren Werken mit einer knackigen "Kernfrage" zusammenfassen?

Ich bin gespannt. :)
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 08. Oktober 2012, 20:58:55
Ich weiß nicht, ob ich deine Frage richtig verstehe.
Kann es sein, dass du dich mit einem Perspektivträger nicht identifizieren kannst, weil dir der Typ gegen den Strich geht? Das ist höchst ärgerlich, lässt sich aber eigentlich nicht ändern. Wenn Geschichte und Figuren anders wären, wäre es eine andere Geschichte. Und die wollte der Autor wahrscheinlich nicht schreiben.

Zitat von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43
Eine offene Frage läßt den Charakteren in meinem Kopf den Freiraum, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen und mir ihre Geschichte vorzuleben.
Das liest sich sich für mich jetzt wie der Klassiker story-driven vs. character-driven.

Zitat von: Farean am 08. Oktober 2012, 19:24:43
Eine feste Aussage setzt mich als Autor unter Druck, meine Charaktere an die kurze Leine zu nehmen und ihnen für jede Szene ein Drehbuch vorzukauen.
Auch wenn sich die Figuren penibeln an ihre Aufgaben in der Story halten, ist das mit dem Drehbuch schwer genug.  :)



Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Rhiannon am 08. Oktober 2012, 22:03:02
Hmm, ich weiß jetzt nicht, ob ich das richtig verstanden habe, Farean, aber ich interpretiere es einmal so:
Du magst es nicht, wenn der Autor über seine Geschichte eine bestimmte (wohl meistens moralische) Aussage kommuniziert.

Ich kann von mir sagen, dass ich den erhobenen Zeigefinger und die Moralkeule hasse. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Buch nur geschrieben wurde, um eine gewisse Weltsicht zu transportieren, werde ich das Buch auch eher weglegen, als noch einmal lesen.
Ansonsten, wenn eine Geschichte eine Aussage hat, mit der ich nicht übereinstimme, diese aber nur in der Geschichte mitschwingt, ohne zu erschlagen, kann es sein, dass ich das Buch trotzdem toll finde.

Was die Kernfragen angeht... Ich glaube, die sind sehr schwer zu interpretieren, weil ich nicht glaube, dass es so arg viele Autoren gibt, die ihr Werk mit der Absicht, eine genaue Kernfrage zu beantworten, schreiben. Natürlich gibt es Fragen, die einen zu etwas inspirieren (Bei Zwischen den Welten war es bei mir zuerst die Frage: Was geschieht, wenn man einen Erwachsenen in die Fantasiewelt eines Kindes packt?). Aber ich weiß nicht, ob man sagen kann, das Buch beantwortet diese Fragen.
Und ich habe mich inder Schule zum Beispiel immer sehr schwer damit getan, bei einem Buch auf eine Kernaussage festgelegt zu werden, ich hab mir dann immer die Frage gestellt: "Und wenn der Autor eigentlich etwas ganz anderes oder vielleicht auch gar nichts sagen wollte?"
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Zit am 08. Oktober 2012, 22:40:39
Ich denke eher, dass Farean von, wie es so schön nach Frey heißt, der Prämisse spricht -- und die kann sich eben unformuliert allein durch Plot und Charaktere ziehen oder sauber rausgearbeitet daher kommen. Ich denke, eine Prämisse ist dann gut umgesetzt, wenn man sie nicht merkt. (Und imho hat jede Geschichte einen Grundsatz, nach dem sie funktioniert. Das kann so banal sein wie "A kriegt B".)
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 09. Oktober 2012, 12:58:39
@Churke: Nein, damit, ob ich mich mit einem Charakter identifizieren kann oder nicht, hat meine Frage nichts zu tun. Tatsächlich wird für mich die "klare Aussage" eher noch störender, wenn ich mich mit dem Charakter identifizieren kann und dann für ihn die "Zwangsläufigkeit" gewisser Schlußfolgerungen suggeriert wird.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel, LeGuins "Planet der Habenichtse". Der Roman ist meisterhaft geschrieben, sehr lebendig, und Shevek ist mir als Perspektivträger nicht nur sympathisch, sondern bietet auch jede Menge Identifikationsfläche. Aber nachdem LeGuin die Frage aufwirft "Kann eine Anarchie funktionieren?", choreographiert sie die Ereignisse so, daß für Shevek die Antwort herauskommen muß: "Die Anarchie ist die einzig wahre Gesellschaftsform, jede Form von Autorität ist Tyrannei." Hier ließ mich das Buch mit dem Gefühl zurück, daß ich nicht zum eigenständigen Denken angeregt werden sollte, sondern daß ich hinterher gefälligst mit LeGuins Fazit übereinzustimmen hatte.

Zit hat es eigentlich am besten auf den Punkt gebracht, mir geht es um das, was Frey als Prämisse bezeichnet. Allerdings formuliert Frey die Prämisse grundsätzlich als Aussage, während es mich weit mehr anspricht, sie als Frage zu formulieren. Und das ist nicht nur reine Semantik, sondern beeinflußt meinem Empfinden nach spürbar die Art und Weise, wie ein Roman geschrieben ist. Um beim Beispiel "Planet der Habenichtse" zu bleiben, LeGuins Prämisse wird dadurch zur fixen Aussage, daß sie in den Dialogen grundsätzlich jeden, der nicht mit Shevek übereinstimmt, ohne Argumente dastehen läßt; hätte sie an diesen Stellen einen echten Disput geführt, die Aussage wäre in eine Frage an den Leser umgekehrt worden: "Welche Bedingungen muß für dich eine Gesellschaftsform erfüllen?" ... und eben mein schon eingangs erwähntes: "Wie würdest du an Sheveks Stelle handeln? Zu welchen Schlüssen kämst du für dich selbst?"
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Debbie am 09. Oktober 2012, 13:55:53
ZitatWie sieht das bei euch aus? Habt ihr an euch schon ähnliche Beobachtungen gemacht?

Ehrlich gesagt, nein. Ich mag Bücher nicht, die der Autor nicht auch irgendwie moralisch wertet - durch Bestrafung der Charaktere in irgendeiner Form - das gehört für mich zu einem guten Buch (und einem guten Autor) dazu. Allerdings passiert es mir eher selten, dass ein Autor mit seiner Geschichte meine Ansichten und Prinzipien ins Wanken bringt ... Meist gehe ich mit den gängigen "Gut-Böse-Vorstellungen" konform.
Hat ein Buch dagegen ein offenes Ende - also wird die zentrale Frage von Seiten des Autors nicht geklärt - oder wagt es solch politisch gewagte Aussagen, wie "Anarchie ist eigentlich die einzig wahre Gesellschaftsform", bewerte ich es (ganz unterbewusst bisher) als "schlechtes" Buch. Aber auch in dem Fall, würde ich die Variante mit einer deutlichen "Stellungnahme" des Autors vorziehen - u. U. kann sowas natürlich zu einem gesellschaftlichen Diskurs anregen, und abseits der "gängigen Struktur" ist in so einem Fall auch definitiv nicht immer was schlechtes. Zumindest hat man am Ende etwas in der Hand, an dem man eigene Moralvorstellungen, Prinzipien, etc. messen - und eventuell stoßen - kann.

Ich halte allerdings GARNICHTS von "allgemeingültigen Textanalysen". Das was in der Schule heute (oder auch schon etwas früher) betrieben wird, von wegen "nur was im Literaturschlüssel zur Ausgabe steht, ist richtig", finde ich übelkeiterregend. Solche Schlüssel sollten - und können teilweise auch - nur eine Anleitung sein, wie man einen Text richtig analysiert, welche Punkte beachtet werden müssen, etc.. Ansonsten finde ich, muss jeder Leser gefühlsmäßig für sich die richtige "Textaussage" finden - trotz der "vermeintlichen" Textaussage des Autors. Dazu ist Literatur m. M. nach nämlich da, um sich und die Welt besser kennenzulernen und zu verstehen, zum Nachdenken anzuregen - und nicht dazu, die Gedanken anderer zu einem Text auswendig zu lernen und wiederzukäuen.  ::)

ZitatKönnt ihr welche von euren Werken mit einer knackigen "Kernfrage" zusammenfassen?

Ich denke ... Aber sicher bin ich mir da nicht. Die Prämisse stand bei mir nämlich nicht am Anfang. Aber ich nehme sehr wohl (durch das Schicksal der Charaktere) moralische Wertungen vor. Allerdings wird alles meistens von "beiden Seiten" beleuchtet, und verschiedene Standpunkte aufgezeigt. Im Großen und Ganzen geht es wohl (bis zu einem gewissen Grad?) um Moral an sich, und darum, dass jeder helle und dunkle Seiten hat. Zufrieden bin ich, wenn es am Ende für jeden Leser möglich ist, eine eigene, persönliche Aussage im Text zu finden. Dann hab ich, als Autor, meinen Job gemacht.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 09. Oktober 2012, 14:18:32
Ah, jetzt verstehe ich, was du meinst.

"Planet der Habenichtse" kenne ich nicht, aber so wie du es darstellst, sind die Dispute eher schlecht geschrieben. Die Antagonisten müssen ihre Gegenpositionen glaubhaft vertreten - und daran scheint es bei "Planet der Habenichtse" zu fehlen. Abgesehen davon, dass LeGuins These ziemlich gewagt ist und damit Widerspruch provozieren muss.

Andererseits frage ich mich, ob man eine Frage aufwerfen und die Antwort schuldig bleiben kann. In vielen Fällen ist das ein mehr oder weniger elementarer Bestandteil des Plots. Wenn ich einen Anarchisten-Roman schreibe, muss ich mich als Autor nun mal entscheiden, ob die Utopie funktioniert oder nicht. Wenn sie nur funktionieren könnte, brauche ich einen anderen Plot.

Farean, du hast nur etwas über Dialoge geschrieben. Wie stehst du zu "Spielszenen", die die Message des Autors transportieren? Ich arbeite weniger mit großen Fragen/Antworten, sondern eher mit kleinen, verborgenen Messages.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Zitat von: Debbie am 09. Oktober 2012, 13:55:53
Zufrieden bin ich, wenn es am Ende für jeden Leser möglich ist, eine eigene, persönliche Aussage im Text zu finden. Dann hab ich, als Autor, meinen Job gemacht.
Das ist ganz genau mein Punkt. :) Wenn meine Geschichte eine Frage behandelt, ohne dem Leser "die" Antwort aufzudrängen, dann bin ich ebenfalls zufrieden.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 14:18:32
Andererseits frage ich mich, ob man eine Frage aufwerfen und die Antwort schuldig bleiben kann. In vielen Fällen ist das ein mehr oder weniger elementarer Bestandteil des Plots. Wenn ich einen Anarchisten-Roman schreibe, muss ich mich als Autor nun mal entscheiden, ob die Utopie funktioniert oder nicht. Wenn sie nur funktionieren könnte, brauche ich einen anderen Plot.
Jein. Was für den einen als Gesellschaft "funktioniert", ist für den anderen die Hölle. Denkbar wäre ja auch ein Ende, bei dem der Protagonist gern in seine Anarchie zurückkehrt, ein anderer Charakter hingegen in dem Staat mit der Obrigkeit bleibt, weil er dort glücklicher wird.

Das Vorgehen, das ich für mich selbst beim Schreiben sehe, besteht darin, (a) eine Frage aufzuwerfen und (b) die Geschichte meiner Charaktere zu beschreiben, wie sie ihre persönliche Antwort darauf finden. Diese Antwort muß nicht die des Lesers sein, sie muß noch nicht einmal meine eigene als Autor sein. Mindestens eine Antwort auf die gestellte Frage muß ich als Autor schon geben, da hast du recht. Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 14:18:32
Farean, du hast nur etwas über Dialoge geschrieben. Wie stehst du zu "Spielszenen", die die Message des Autors transportieren? Ich arbeite weniger mit großen Fragen/Antworten, sondern eher mit kleinen, verborgenen Messages.
Das kommt ganz auf die Message an. Läßt du die Fakten (bzw. die fiktive Situation) für sich sprechen, oder lieferst du die Bewertung gleich mit?
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Lomax am 09. Oktober 2012, 18:25:17
Also, ich finde mich in der Darstellung schon ganz gut wieder. In meinen Geschichten steht auch eher eine "Wahrheit" am Anfang, die dann erschüttert wird - sei es eine Wahrheit in der Geschichte, oder eine Wahrheit, die in der Welt gerne verkündet wird oder die ich auch so in einem anderen Werk gefunden habe und bei der ich das Gefühl hatte, dass sie es wert ist, in Frage gestellt zu werden. Ich würde also schon sagen, dass ich in meinem Geschichten eher Fragen stelle und damit auch besser zurechtkomme.
  Wie es mit Antworten aussieht - natürlich findet die ein oder andere Figur in den Geschichten ihre persönlichen Antworten. Aber ebenso natürlich sind die auch wieder in Frage gestellt dadurch, dass andere Figuren oder der Leser andere Antworten auf dieselbe Frage finden mögen. Oder das die Antwort der Figur durch die Geschichte am Ende schon widerlegt ist. Was am Ende bleibt, ist halt eher die Frage, die ich für wichtig halte, und die Suche nach der Antwort - nicht die Antwort selbst.
  Ich würde sogar sagen, dass ich allen meinen Geschichten gerne die grundsätzliche Aussage mit auf den Weg gebe, dass man immer fragen sollte und es nie nur eine Wahrheit gibt ;)
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 09. Oktober 2012, 21:26:22
Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Nun führt das Liefern von alternativen Antworten aber auch zu deren Relativierung. In einer klassischen Tragödie lässt die dramatische Logik dem Helden keine andere Wahl. Das mag einem missfallen, aber so erzeugt man die maximale Wirkung.
Ein Beispiel: Letztes las ich 10 Theorien, warum die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg verloren haben. Die Bandbreite reicht von "hatten nie eine Chance" bis zu Dolchstoßlegenden. Eine Romanfigur, die sich des "lost cause" bewusst ist, ist eine völlig andere, als eine, die an den Sieg glaubt. Nun kann ich zwar als Autor beide Positionen nebeneinander stehen lassen. Aber: Wenn ich den ganzen Roman ins Zeichen des lost cause setze, verleihe ich der ganzen Sache mehr Gewicht und Dramatik.

Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Das kommt ganz auf die Message an. Läßt du die Fakten (bzw. die fiktive Situation) für sich sprechen, oder lieferst du die Bewertung gleich mit?
Ich präsentiere Fakten oder Situationen, die nur eine Bewertung zulassen. Das ist wie bei Voltaires Candide, der in der besten alle möglichen Welten lebt und dabei ständig in den A*** getreten bekommt.  ;)
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 11. Oktober 2012, 09:52:50
Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 21:26:22
Nun führt das Liefern von alternativen Antworten aber auch zu deren Relativierung. In einer klassischen Tragödie lässt die dramatische Logik dem Helden keine andere Wahl. Das mag einem missfallen, aber so erzeugt man die maximale Wirkung.
Dem kann ich aus meiner Sicht nicht zustimmen, weder als Autor, noch als Leser. Was einen Charakter für mich interessant macht, sind seine Entscheidungen (selbst wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen und ihn tiefer in die Tragödie reinreiten). Wenn der Charakter nur von Zwängen und Notwendigkeiten getrieben seiner Bestimmung folgt, wird es für mich schnell langweilig.

Zitat von: Churke am 09. Oktober 2012, 21:26:22
Ich präsentiere Fakten oder Situationen, die nur eine Bewertung zulassen.
Kannst du dafür mal ein Beispiel nennen?
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 11. Oktober 2012, 19:56:38
Zitat von: Farean am 11. Oktober 2012, 09:52:50
Was einen Charakter für mich interessant macht, sind seine Entscheidungen (selbst wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen und ihn tiefer in die Tragödie reinreiten). Wenn der Charakter nur von Zwängen und Notwendigkeiten getrieben seiner Bestimmung folgt, wird es für mich schnell langweilig.

Aber ist er denn überhaupt "frei"? Wenn ein Charakter ein Draufgänger ist, dann wird er in der entsprechenden Situation auf Angriff schalten. Das Tun ist Spiegelbild des Charakters. Schau dir mal das Euro-Drama an: Angela Merkel fällt auch immer um. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Langweilig? Keineswegs, denn das Drama geht weiter. Obwohl im 3-Monatsrhythmus das Ende der Krise verkündet wird.

Zitat von: Farean am 11. Oktober 2012, 09:52:50
Kannst du dafür mal ein Beispiel nennen?
Die DDR.
Bis 1989 hat da jeder, der was werden wollte, das Lied von der Überlegenheit des Sozialismus gesungen.





Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Tanrien am 11. Oktober 2012, 20:45:21
Zitat von: Farean am 09. Oktober 2012, 16:46:56
Besser finde ich je nach Story mehrere Antworten - eine pro Charakter, um genau zu sein. Denn im Grunde erlebt ja jeder im Rahmen des Plots seine eigene Geschichte.

Da stimme ich absolut zu. Churke hat natürlich auch recht, dass es stärker sein kann, in einer klassischen Tragödie jeden auf die gleiche Art ins Unheil zu schicken - ist auch eine Botschaft -, aber heutzutage gibt es so viel Diversität zu sehen, dass ich es für Autoren eigentlich wichtig finde, gerade eben nicht in die schon so oft geschlagenen Kerben zu treffen.

Wenn es eine neue Botschaft ist, die herüber gebracht wird, dann finde ich es ja vielleicht noch spannend, ein Konzept zu sehen, wo es allen Charakteren mehr oder weniger gleich ergeht, also der Weg akribisch beleuchtet wird, aber meistens sind es ja dann doch stumpfe, teils gefährliche Botschaften ("Frauen vergeben fremdgegangenen Ehemännern", "Autorität ist böse", "Der Sieg über den bösen Herrscher wird das Königreich retten", "Zwanghafte Kontrolle in Beziehungen ist sexy"), die einfach jedes Mal wieder auftauchen und wenn sie sich wirklich bei jedem einzelnen Charakter manifestieren und nie differenziert werden, dann fragt man sich als Leser, ob der Autor überhaupt darüber reflektiert hat oder schlicht eine begrenzte, westlich-kulturelle "Weisheit" wiederholt. Und dafür sieht der Leser in der Realität ja oft genug, dass es nicht funtioniert.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 15. Oktober 2012, 08:57:06
Zitat von: Tanrien am 11. Oktober 2012, 20:45:21
heutzutage gibt es so viel Diversität zu sehen, dass ich es für Autoren eigentlich wichtig finde, gerade eben nicht in die schon so oft geschlagenen Kerben zu treffen.
Danke, Tanrien, das faßt wunderbar mein Gefühl bei der Sache in Worten. Früher, als das klassische Drama sich entwickelte, ging es noch darum, überhaupt eine Aussage zu finden. In der heutigen Zeit mit modernen Reproduktionsmitteln und einem riesigen Angebot an Werken stehen wir eher vor der Herausforderung, bestehende Aussagen in Frage zu stellen und auszusortieren.

Zitat von: Churke am 11. Oktober 2012, 19:56:38
Die DDR.
Churke, nur um sicherzugehen: verstehe ich dich richtig? Du behauptest, die reale Geschichte der DDR mit etlichen Millionen beteiligten Personen und Schicksalen lasse nur eine einzige, zwangsläufige moralische Bewertung zu?
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 16. Oktober 2012, 16:19:01
Zitat von: Farean am 15. Oktober 2012, 08:57:06
Churke, nur um sicherzugehen: verstehe ich dich richtig? Du behauptest, die reale Geschichte der DDR mit etlichen Millionen beteiligten Personen und Schicksalen lasse nur eine einzige, zwangsläufige moralische Bewertung zu?

Fortgesetzte und offensichtliche Insolvenzverschleppung ist keine moralische Bewertung.

Die Verantwortlichen sind zudem tragische "Helden". Die DDR-Oberen wussten bereits in den 70ern, dass die DDR bei der Fortsetzung ihrer Politik unausweichlich pleite gehen würde. Aber das war halt alternativlos und so wurde weiter gewirtschaftet bis zum bitteren Ende. Die Aussage der Geschichte: Ein totalitäres System kann nicht geändert werden. Um es zu ändern, müsste man es in Frage stellen. Aber wenn man es in Frage stellen dürfte, wäre es nicht mehr totalitär.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 17. Oktober 2012, 08:06:58
Schön. Nachdem du jetzt dein politisches Statement losgeworden bist: hast du auch noch ein Beispiel zum Thema? Also ein Beispiel dafür, wie du in einem Fantasy-Roman Ereignisse für sich sprechen läßt, so daß sie nur eine einzige Bewertung zulassen?
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 17. Oktober 2012, 10:27:13
Ich habe ein real existierendes Beispiel genommen aufgrund der Plastizität. Wenn ein "antifaschistischer Schutzwall" den Stacheldraht und die Selbstschussanlagen auf der Innenseite hat, ist es ganz offensichtlich kein antifaschistischer Schutzwall.

Zitat von: Farean am 17. Oktober 2012, 08:06:58
Also ein Beispiel dafür, wie du in einem Fantasy-Roman Ereignisse für sich sprechen läßt, so daß sie nur eine einzige Bewertung zulassen?
In einer SF-Geschichte tritt die Protagonistin ihren Dienst in einem "Musterreservat an", in dem "alles zum Besten bestellt" ist.
Kurz darauf wird ihr Fähnrich von einem Heckenschützen erschossen. Die Gouverneurin zwingt sie dazu, einen Unfall zu melden, weil es in Gouverneurins Musterreservat keine Heckenschützen gibt.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Zanoni am 17. Oktober 2012, 10:47:28
Vielleicht hilft es, wenn man nicht von der "Aussage" einer Geschichte spricht, sondern stattdessen von einer "These", die von zentraler Bedeutung für die Geschichte ist?!
Weil es dann weniger um eine konkrete "Botschaft" geht, die man als Autor zu vermitteln versucht, sondern eher um ein Thema, dem man sich nähern versucht.

Beispiel:
"Liebe überwindet alle Hindernisse"

Als Aussage verstanden, könnte man versucht sein, die Geschichte so aufzubauen, dass diese mit ihrer Hilfe "bewiesen" wird. (Etwas, was ja auch Frey mit seiner Prämisse propagiert.) Als These verstanden, kann man sich ihr wesentlich offener widmen.

Zum Beispiel in dem man nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch einige Nebenfiguren mit dieser These konfrontiert. Und diese dann womöglich noch völlig unterschiedlich damit umgehen. Also während es "Romeo und Julia" in der Haupthandlung tatsächlich gelingt, positive Erfahrungen damit zu machen, könnte es weitere Nebenfiguren geben, denen dasselbe in der Nebenhandlung nicht gelingt.

Ein anderes Beispiel:
"Macht korrumpiert"

Egal ob es dem Prota in der Haupthandlung gelingt, diese These zu widerlegen, oder ob er zum tragischen Helden wird, indem er sie bestätigt - gleichzeitig gäbe es sehr viele mögliche Nebenhandlungen, auf den verschiedensten Ebenen, wo gezeigt wird, wie die unterschiedlichen Charaktere jeweils auf ganz eigene Art und Weise mit dieser Herausforderung umgehen.

Auf diese Weise kann man auch der Eigendynamik der verschiedenen Figuren wesentlich mehr Spielraum bei der Entwicklung der Geschichte lassen. Man gibt nicht zwingend vor, sondern lässt sie so agieren, wie es ihrem "Naturell" entspricht. Als Autor muss man dann nur noch darauf achten, dass sie auf der grob vorgegebenen Spur bleiben ... also dem Thema und damit dem roten Faden folgen, der sich durch die Geschichte ziehen soll.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Lomax am 17. Oktober 2012, 11:46:56
Zitat von: Churke am 17. Oktober 2012, 10:27:13Wenn ein "antifaschistischer Schutzwall" den Stacheldraht und die Selbstschussanlagen auf der Innenseite hat, ist es ganz offensichtlich kein antifaschistischer Schutzwall.
Ein gutes Beispiel ... um zu zeigen, dass das "Offensichtliche" nicht immer die einzig mögliche Deutung ist ;).
  Ich würde dir Recht geben, wenn man den "antifaschistischen Schutzwall" so versteht, dass der Faschismus eine von außen kommende, materiell gemeinte Bedrohung ist, die es physisch fernzuhalten gilt. Versteht man die "faschistische Bedrohung" allerdings als eine ideologische, die das Denken der eigenen Bevölkerung im Inneren zu beeinflussen droht, kann es durchaus ein Schutz sein, wenn man nach innen gerichtete Maßnahmen trifft, die das Denken der Bevölkerung in eine andere Richtung manipulieren und damit sozusagen vor dem von außen kommenden und als bedrohlich empfundenen "faschistischen Gedankgut" schützen.

Ob die nach innen gerichtete Mauer eine solche Wirkung hatte, ob es die dafür geeignete Wirkung war und ob die Erbauer überhaupt so einen Schutz im Sinn hatten, sei dahingestellt - mein Einwand sei nur, dass es selbst zum scheinbar Offensichtlichen durchaus noch andere Sichtweisen geben kann, die je nach Konstellation durchaus plausibel begründbar sein mögen - oder die sich zumindest plausibel machen lassen oder für einzelne Individuen als plausibel empfindbar sind.
  Und gerade das sind die Fragen und Hinterfragungen - also das Infragestellen des scheinbar Offensichtlichen -, ab dem es für mich in einer Geschichte interessant zu werden beginnt. Das Offensichtliche feststellen und bestätigen ist demgegenüber so banal und redundant, dass ich mich immer frage, warum man dazu noch eine Geschichte schreiben ... oder lesen sollte.
  Vor allem dann, wenn es so platt umgesetzt ist, dass selbst offensichtliche Lücken im Offensichtlichen vom Autor der Geschichte nicht wahrgenommen oder thematisiert wurden.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 23. Oktober 2012, 18:57:41
Zitat von: Lomax am 17. Oktober 2012, 11:46:56
Und gerade das sind die Fragen und Hinterfragungen - also das Infragestellen des scheinbar Offensichtlichen -, ab dem es für mich in einer Geschichte interessant zu werden beginnt. Das Offensichtliche feststellen und bestätigen ist demgegenüber so banal und redundant, dass ich mich immer frage, warum man dazu noch eine Geschichte schreiben ... oder lesen sollte.
Danke, Lomax, du bringst es wunderbar auf den Punkt - wie immer. :jau:

Zitat von: Zanoni am 17. Oktober 2012, 10:47:28
Zum Beispiel in dem man nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch einige Nebenfiguren mit dieser These konfrontiert. Und diese dann womöglich noch völlig unterschiedlich damit umgehen. Also während es "Romeo und Julia" in der Haupthandlung tatsächlich gelingt, positive Erfahrungen damit zu machen, könnte es weitere Nebenfiguren geben, denen dasselbe in der Nebenhandlung nicht gelingt.
Das ist genau ein Beispiel dafür, was ich meine. Ich mag es, die Geschichte als eine Art Gedankenexperiment anzusehen und ergebnisoffen zu schauen, ob unterschiedliche Charaktere zu demselben Ergebnis kommen oder zu jeweils ihren eigenen. Und ich selbst fühle mich als Leser am stärksten in die Geschichte eingebunden, wenn ich mich immer wieder frage: wie würde ich in dieser Situation handeln?

Was einen Charakter für mich interessant und lebendig macht, sind seine Entscheidungen. Und das bedingt für mich eine Handlung, in der der Charakter möglichst oft am Scheideweg ankommt - und zwar an einem Scheideweg, an dem es keine eindeutig "richtige" oder "falsche" Entscheidung gibt. Besonders bravourös finde ich es mitunter, wenn die Entscheidung ohne die (zusammen mit den Charakteren erlebte) Vorgeschichte offensichtlich wirken würde und man sich z.B. sowohl in den Charakter einfühlen kann als auch in die Beobachter, die ihn dafür verurteilen. Denn wenn Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen, schon vorher offensichtlich falsch wären, würde sie ja wohl nie jemand so fällen.

Nichts ist einfacher, als "die Anderen" zu verurteilen. Nichts ist schwieriger, als Verständnis für die vermeintlich "Anderen" zu wecken. Letzteres ist für mich künstlerisch ganz klar die größere Leistung.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 23. Oktober 2012, 20:27:42
Zitat von: Farean am 23. Oktober 2012, 18:57:41
Denn wenn Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen, schon vorher offensichtlich falsch wären, würde sie ja wohl nie jemand so fällen.

Offensichtlichkeit ist ein relativer Begriff. Menschen folgen Träumen, Emotionen und Werten und glauben außerdem gerne das, was sie glauben wollen. Obendrein fehlt es oft an Einsicht. Die Geschichte ist voller Katastrophen der Reihe "Wie kann man so blöd sein?"
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Zitat von: Churke am 23. Oktober 2012, 20:27:42
Die Geschichte ist voller Katastrophen der Reihe "Wie kann man so blöd sein?"
Stimmt: Im Nachhinein.

Die Geschichte ist auch voller Überraschungserfolge der Reihe "gewagt, aber genial", von denen die Zeitgenossen vor dem glücklichen Ausgang sicher gesagt haben: "Wie kann man so blöd sein?" Die Geschichte ist sogar voller Ereignisse, die von Zeitgenossen als Blödheit verurteilt und von heutigen Geschichtsschreibern als Genialität gefeiert wurden und umgekehrt. Hinterher ist man immer klüger; insbesondere klüger als diejenigen, die bereits Geschichte sind und sich nicht mehr dazu äußern können.

Dabei fällt mir auf, daß ich ganz vergessen hatte, auf dein Beispiel zu antworten:
Zitat von: Churke am 17. Oktober 2012, 10:27:13
In einer SF-Geschichte tritt die Protagonistin ihren Dienst in einem "Musterreservat an", in dem "alles zum Besten bestellt" ist.
Kurz darauf wird ihr Fähnrich von einem Heckenschützen erschossen. Die Gouverneurin zwingt sie dazu, einen Unfall zu melden, weil es in Gouverneurins Musterreservat keine Heckenschützen gibt.
Darin kann jetzt erst mal eine ganze Menge verschiedener Aussagen liegen. Welche "Offensichtliche" ist in diesem Fall diejenige, die du mit diesem "für sich sprechenden" Vorgang transportieren möchtest?
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 26. Oktober 2012, 11:19:52
Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Hinterher ist man immer klüger
Die klassische Ausrede vor Wirtschaftsstrafkammern und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Warum haftet jeder von uns straf- und zivilrechtlich für Fahrlässigkeit und grobe Fahrlässigkeit? Weil die Rechtsordnung, die immerhin auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens und Jahrtausende alter Übung beruht, der Meinung ist, dass wir das erkennen können. Ich sehe keinen Grund, an historische oder fiktive Personen andere Sorgfaltsmaßstäbe anzulegen. Und das ist gut so, denn ihre Fehler verraten mir mehr über den Charakter einer Person als ihre Erfolge.

Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Die Geschichte ist auch voller Überraschungserfolge der Reihe "gewagt, aber genial", von denen die Zeitgenossen vor dem glücklichen Ausgang sicher gesagt haben: "Wie kann man so blöd sein?"
Da stimme ich dir zu: Man kann mit gewagten Aktionen Erfolg haben. Nur: Wer ein Wagnis eingeht, ist sich der Risiken im Klaren und weiß auch im die Konsequenzen eines Scheiterns. Möglicherweise ist das Risiko nicht verantwortbar und der Entscheider ein Hasardeur. Aber das zeigt sich in der Tat oft erst hinterher.
Etwas gänzlich anderes ist es, sich der Risiken überhaupt nicht bewusst zu sein. Da gibt's so Klassiker wie "Feindaufklärung lohnt sich nicht" (Adrianopel, 378), "Russland hat keine Eisenbahn" (Berlin, 1914) oder "deutsche Panzer kommen nicht durch die Ardennen" (Paris, 1940).

Zitat von: Farean am 25. Oktober 2012, 14:40:40
Welche "Offensichtliche" ist in diesem Fall diejenige, die du mit diesem "für sich sprechenden" Vorgang transportieren möchtest?
Dass das behauptete Musterreservat keines ist.

Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 26. Oktober 2012, 13:08:06
Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 11:19:52
Die klassische Ausrede vor Wirtschaftsstrafkammern und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Nichts ist einfacher, als "die Anderen" zu verurteilen.

Sicher, man kann literarisch auf den (unzweifelhaft vorhandenen) tatsächlich offensichtlichen Fehlern, Verbrechen etc. diverser Mitmenschen rumreiten. Mit denen erzählt man dem Leser aber nichts Neues. Für mich persönlich hat das, ehrlich gesagt, die Qualität von Stammtischgefasel, bei dem man sich gegenseitig auf die Schulter klopft und darin bestärkt, daß alle miteinander dasselbe denken. Und nein, das würde ich nicht lesen wollen.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 11:19:52
Dass das behauptete Musterreservat keines ist.
Das ist eine ziemlich offensichtliche Aussage über etwas in der Geschichte. Eine "Aussage der Geschichte" kann ich dem bislang nicht entnehmen.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Lomax am 26. Oktober 2012, 14:30:47
@Churke: Nun es sind dann aber deine Maßstäbe, die du an den Einzelfall anlegst. Oder zumindest von dir gewählte Maßstäbe, die nicht unbedingt die sein müssen, die für die Betroffenen Personen relevant gewesen wären - und die, im Gegensatz zu gerichtlichen Einschätzungen von Fahrlässigkeit, sich nicht einmal einmal aus einem angenommenen Konsens heraus rechtfertigen lassen. Denn für historische Einschätzungen gibt es keinen Konsens, der überhistorische Gültigkeit hätte ... Womit die Eindeutigkeit dann schon fragwürdig wird, oder sich zumindest auf die allerbanalsten Fälle beschränkt.

Nehmen wir beispielsweise einmal die Staufer. Sie waren für den neuzeitlichen Reichsgedanken im zersplitterten Deutschland so etwas wie Ikonen und wurden vor allem im 19. Jahrhundert als so was wie tragische, aber heldenhafte Kämpfer fürs einheitliche Deutschland angesehen - sozusagen die letzten, die noch für das vereinigte deutsche Reich und gegen die Partikularinteressen der Fürsten gekämpft haben.

Aus heutiger Sicht, ohne Reichsromantik und ökonomisch zentriert, wie unsere Zeit nun einmal ist, muss man eher feststellen, dass die Staufer sehr offensiv das Reichsgut verschleudert haben, um sich die Unterstützung zu kaufen, die sie brauchten, um sich in der Auseinandersetzung gegen die Welfen zu behaupten, denen sie aus eigenen Mitteln einfach unterlegen waren. Und dieser Substanzverzehr war letztlich die Grundlage, dass nach ihnen einfach nicht mehr genug Reichsgut da war, was es einem späteren Kaiser erlaubt hätte, zusammen mit den eigenen Mitteln noch eine zentralistischere Politik in Deutschland durchzusetzen.
Welche Wertung dieser Dynastie wäre also die eindeutig richtige? Die moderne, oder die des 18. Jht.? Natürlich bin ich als Kind meiner Zeit geneigt zu sagen, dass der Fall eindeutig ist - andererseits sind im 18. Jhdt. genug Bücher mit der gegenteiligen Aussage zu dem Thema geschrieben worden, und die Autoren damals hätten den Fall wohl ebenso eindeutig gefunden ... Was nahelegt, dass er es wohl nicht ist. Nicht über die Zeiten hinweg.
Und noch neindeutiger wird es dann, wenn man auch noch ethische Dimensionen hinzufügt - wenn nun also die Staufer Apologeten oder Totengräber eines Reiches waren, was von beidem wäre dann, unabhängig von der sachlichen Richtigkeit, ein "falsches", "schlechtes" Verhalten gewesen? Wäre die gleichmäßige Entwicklung eines Zentralstaates in Deutschland seit dem Mittelalter wie in Frankreich oder England wirklich wünschenswert gewesen? Oder hat nicht eher die Kleinstaaterei die Entwicklung eines Rechtsstaats begünstigt und Deutschland für die Zeit des alten Reiches zu ekndm friedlicheren Teil Europas gemacht?
Auch die Stimmen habe ich gehört, die in den Kleinstaaten unter dem Dach einer mehr Judikativ als Exekutiv präsenten "Zentralautorität" ein Vorbild für die moderne europäische Entwicklung insgesamt sehen wollen.

Wie man es also dreht, und selbst wenn man sich für ein isoliertes historisches Ereignis aus einer Perspektive einmal auf eine eindeutige Antwort festgelegt hat, habe ich doch das Gefühl, dass man dieses Einzelereignis damit in eindm Gesamtzusammenhang positioniert, der am Ende immer mehr neue Fragen aufwirft, als man eindeutige Antworten finden kann.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Farean, ich beginne mich langsam zu fragen, wie deine Geschichten funktionieren. Eine Geschichte sollte einen Anfang haben und ein Ende und auch wenn es Irrungen und Wendungen gibt, sollte sie diesem Ende m.E. zielgerichtet entgegen streben. Dementsprechend sind die Handelnen determiniert. Sie können alleine schon deshalb keine freien Entscheidungen fällen, weil dann das Plothole droht. Wie willst du das als Autor verhindern? Wenn meine Story mit dem Fall von Jerusalem enden soll, dann muss König Guido alle Warnungen in den Wind schlagen und mit dem Kreuzfahrerheer nach Hattin ziehen.
Die Aufgabe des Autors sehe ich dann darin, die Handelden überzeugend zu motivieren und die Illusion einer Entscheidungsfreiheit zu schaffen.

Noch ein Wort zu moralischen Wertungen: Je negativer ich eine Person darstellen will, desto mehr lasse ich ihr Handeln durch Charakterschwächen wie Hochmut, Neid, Missgunst, Habgier, aber auch Hass und Liebe (!)  bestimmen.

Zitat von: Farean am 26. Oktober 2012, 13:08:06
Sicher, man kann literarisch auf den (unzweifelhaft vorhandenen) tatsächlich offensichtlichen Fehlern, Verbrechen etc. diverser Mitmenschen rumreiten. Mit denen erzählt man dem Leser aber nichts Neues.
Wirklich nicht? Ich finde die Frage nach dem Weshalb interessanter als die nach dem Was.


ZitatDas ist eine ziemlich offensichtliche Aussage über etwas in der Geschichte. Eine "Aussage der Geschichte" kann ich dem bislang nicht entnehmen.
Die Geschichte stellt ein System als Fake bloß. Der Clou dabei ist, dass die Protagonistin (Perspektivträgerin) bis zur letzten Seite bedingungslos von der Perfektion des Systems überzeugt ist, obwohl sie ständig in den A*** getreten bekommt. Sie sucht den Fehler immer bei sich, weil das System ja perfekt ist. Das ist so gemacht, dass der Leser eine völlig andere Realität erlebt als die ideologisch hirngewaschene Perspektivträgerin. Ich für meinen Teil finde den ständig provozierten Widerspruch extrem witzig. 
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 26. Oktober 2012, 18:40:53
Zitat von: Lomax am 26. Oktober 2012, 14:30:47
Nehmen wir beispielsweise einmal die Staufer. Sie waren für den neuzeitlichen Reichsgedanken im zersplitterten Deutschland so etwas wie Ikonen und wurden vor allem im 19. Jahrhundert als so was wie tragische, aber heldenhafte Kämpfer fürs einheitliche Deutschland angesehen - sozusagen die letzten, die noch für das vereinigte deutsche Reich und gegen die Partikularinteressen der Fürsten gekämpft haben.
Das ist jetzt interessant, weil es nämlich einen verbreiteten Fehler vieler Historiker zeigt: Sie legen die Maßstäbe ihrer Zeit an Vertreter vergangener Epochen und kommen dann zu lächerlichen Urteilen. Friedrich der Große war undemokratisch und Bismarck ein neoliberaler Marktprediger und so weiter.
Bei den Staufern wären nun die Fragen zu stellen, ob es für sie überhaupt naheliegend war, einen Nationalstaat anzustreben, noch mehr aber, ob es ihre Zeitgenossen/Rivalen wollten. Wahrscheinlich käme man zu dem Schluss, dass ein Nationalstaat damals so abwegig war wie heute ein Königreich Deutschland. Alles in allem dürfte man folgern, dass die Staufer beim Verfolgen ihrer politischen Ziele zumindest nicht völlig erfolglos waren, was dafür spricht, dass sie ihren Aufgaben gewachsen waren. Natürlich hatte ihre Politik Folgen, aber historische Kausalität ist etwas anderes als historische Verantwortung. Ein Cesare Borgia ist nicht denkbar ohne Jesus Christus.  ;)
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 27. Oktober 2012, 11:26:49
Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Dementsprechend sind die Handelnen determiniert. Sie können alleine schon deshalb keine freien Entscheidungen fällen, weil dann das Plothole droht. Wie willst du das als Autor verhindern?
Indem ich, und zu diesem Thema habe ich diesen Thread doch überhaupt erst angefangen, die zentrale Frage im Auge behalte.

Als Autor habe ich durchaus die "Macht", meinen Charakteren Dinge zustoßen zu lassen, die sie dazu bringen, sich mit dieser zentralen Frage zu beschäftigen. Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, wenn diese zentrale Frage eine Herzensangelegenheit der Charaktere ist, die sie mit genügend Leidenschaft verfolgen, deuten sie das meiste, was ihnen zustößt, ganz von selbst im Hinblick auf diese zentrale Frage und verhalten sich entsprechend. Dabei kann ich häufig nicht vorhersehen, was sie tun werden; es ist für mich vollkommen denkbar, eine Geschichte anzufangen, ohne vorher zu wissen, wie sie ausgeht. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß bei diesem Vorgehen auf jeden Fall eine spannende Geschichte herauskommt, mit wohldefiniertem Anfang, Ende und Spannungsbogen; und zwar deutlich mitreißender, als wenn ich meine Charaktere an der kurzen Leine halte und immer wieder mit Gewalt zu "meinem" Plot zurückführe.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Wenn meine Story mit dem Fall von Jerusalem enden soll, dann muss König Guido alle Warnungen in den Wind schlagen und mit dem Kreuzfahrerheer nach Hattin ziehen.
*Seufz* Eigentlich will ich hier über Fantasy-Romane reden (deren Ausgang offen sein kann) und nicht über Historienromane (deren Ausgang feststeht), aber meinetwegen: in diesem Fall bestünde meine Vorarbeit als Autor in einer intensiven Recherche über die Person von König Guido und sein Umfeld. Ich muß ihn kennenlernen und verstehen, wie der Mann tickt. Ich muß ihn (ohne das Vorwissen über den Ausgang bei Hattin) in meinem Kopf "interviewen" und fragen, wie er handeln würde. Im Idealfall fühle ich mich so stark in ihn hinein, daß ich, wenn ich seine Rolle in einem Larp verkörpern würde, im Brustton der Überzeugung dieselben Entscheidungen fälle und voller Leidenschaft alle meine Kämpfer in den vermeintlichen Triumph führe.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Noch ein Wort zu moralischen Wertungen: Je negativer ich eine Person darstellen will, desto mehr lasse ich ihr Handeln durch Charakterschwächen wie Hochmut, Neid, Missgunst, Habgier, aber auch Hass und Liebe (!)  bestimmen.
Das ist wieder ein grundlegender Punkt, der sich auf mein ursprüngliches Topic bezieht: warum "willst" du einen Charakter negativ darstellen? Warum nicht einfach den Charakter handeln lassen und es dem Leser überlassen, was er von ihm hält?

Natürlich habe ich als Autor gewisse Sympathien für meine Protagonisten und Antipathien gegen meine Antagonisten. Natürlich schildere ich ihr Handeln subjektiv aus meiner Warte, und natürlich freue ich mich, wenn meine persönlichen Sympathieträger auch dem Leser sympathisch sind. Aber ich verknüpfe damit keinen felsenfesten Anspruch, daß dieser oder jener Charakter unbedingt auf eine bestimmte Weise rüberkommen muß. Wenn eine Leserin findet, meine wahnsinnige Edeldame, die von Meuchelmord an Unschuldigen bis zum großangelegten Gemetzel so ziemlich nichts ausläßt, sei eine bewundernswerte Powerfrau, dann möchte ich mit dieser Leserin bestimmt nicht zu Abend essen, aber ich kann - und will - ihr nicht das Recht absprechen, so zu empfinden.

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Wirklich nicht? Ich finde die Frage nach dem Weshalb interessanter als die nach dem Was.
Stellst du sie denn? Bislang hatte ich den Eindruck, du reduzierst diese Frage jedesmal auf die Antwort: "Pure Blödheit, die richtige Sichtweise ist doch offensichtlich."

Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 15:36:19
Die Geschichte stellt ein System als Fake bloß. Der Clou dabei ist, dass die Protagonistin (Perspektivträgerin) bis zur letzten Seite bedingungslos von der Perfektion des Systems überzeugt ist, obwohl sie ständig in den A*** getreten bekommt. Sie sucht den Fehler immer bei sich, weil das System ja perfekt ist. Das ist so gemacht, dass der Leser eine völlig andere Realität erlebt als die ideologisch hirngewaschene Perspektivträgerin. Ich für meinen Teil finde den ständig provozierten Widerspruch extrem witzig.
Dann viel Spaß dabei. Auf mich wirkt es im Moment so, als hättest du einen Charakter erschaffen, über dessen Blödheit der Leser hämisch lachen kann, während er sich zurücklehnt und toll dafür fühlt, daß er den Durchblick hat. Das scheint mir nicht unbedingt geeignet, im Kopf des Lesers Fragen aufzuwerfen oder ihn auf neue Gedanken zu bringen. Es scheint mir eher ein Mittel zu sein, ihn in seinen vorherigen Ansichten zu bestärken - vorausgesetzt, sie stimmen mit deinen überein.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 27. Oktober 2012, 15:56:04
Zitat von: Farean am 27. Oktober 2012, 11:26:49
Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß bei diesem Vorgehen auf jeden Fall eine spannende Geschichte herauskommt, mit wohldefiniertem Anfang, Ende und Spannungsbogen; und zwar deutlich mitreißender, als wenn ich meine Charaktere an der kurzen Leine halte und immer wieder mit Gewalt zu "meinem" Plot zurückführe.
Da ist wohl der Unterschied zwischen uns beiden, dass bei dir die Charaktere die Geschichte bestimmen, während bei mir die Geschichte die Charaktere bestimmt. 

Ich habe historische Beispiele gebracht, weil man da nicht lange erklären muss. Für mich spielt es keine Rolle, ob eine Geschichte historisch ist oder ich sie mir ausgedacht habe. Ich könnte ebenso gut den Herrn der Ringe bemühen: Natürlich ist es eine interessante Überlegung, Frodo den Ring nicht ins Feuer werfen zu lassen. Aber das ist dann eine andere Geschichte.

Zitat
Das ist wieder ein grundlegender Punkt, der sich auf mein ursprüngliches Topic bezieht: warum "willst" du einen Charakter negativ darstellen? Warum nicht einfach den Charakter handeln lassen und es dem Leser überlassen, was er von ihm hält?
Zu jeder Handlung gehört ein Warum, sonst ist die Figur nicht glaubhaft. Wenn ich einem Charakter Motive zuschreibe, dann sind diese willkürlich ausgedacht. Geh nicht anders, ich kann sie ja nicht auswürfeln, denn dann wären sie nicht mehr glaubwürdig. Hinter den Motiven steht also in jedem Fall meine eigene Entscheidung. Je deutlicher dieser Entscheidung ist, desto lebendiger und glaubwürdiger kann ich den Charakter ausgestalten. Das bedeutet keine Festlegung auf "gut" oder "böse". Beispielsweise kann ich einen König auch mit einer chronischen Entscheidungsschwäche ausstatten. Der hört immer auf seine Berater, und die verfolgen nicht unbedingt die Interessen des Königs. Was nahelegt, dass überall die Missstände blühen... Allerdings - um noch einmal auf meine Arbeitsweise einzugehen - habe ich wahrscheinlich vorher beschlossen, dass im Reich Missstände herrschen und mir dann überlegt, welchen König ich dafür brauche.

ZitatAuf mich wirkt es im Moment so, als hättest du einen Charakter erschaffen, über dessen Blödheit der Leser hämisch lachen kann, während er sich zurücklehnt und toll dafür fühlt, daß er den Durchblick hat.
So einfach ist das nicht. Sie hat sehr gute Gründe dafür, aber das würde hier zu weit führen.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Lomax am 27. Oktober 2012, 18:53:03
Zitat von: Churke am 26. Oktober 2012, 18:40:53Alles in allem dürfte man folgern, dass die Staufer beim Verfolgen ihrer politischen Ziele zumindest nicht völlig erfolglos waren, was dafür spricht, dass sie ihren Aufgaben gewachsen waren.
Hm, damit würdest du allerdings die Frage nach der "eindeutigen Bewertung" auf die bloße Kausalität beziehen. Sprich, man schaut sich an, wie die Figur in der Situation agiert und was sie will, und dann wählst du Konstellationen, die vor diesem Hintergrund klar zu bewerten sind.
  So reduziert ist das vermutlich einfacher. Ich hatte dich allerdings schon so verstanden, dass sich deine Eindeutigkeit nicht nur auf die einfache Kausalität einzelner Handlungen im Text bezog, sondern durchaus auf das Große Ganze: Auf die eine Aussage einer Geschichte insgesamt, auf die übergreifende moralische und/oder sachliche Wertung der Gesamtkonstellation.
  Und schon bei der Reduktion auf die einfachste Kausalität "Was will die Figur" > "Was tut sie" > "Wie lässt sich das werten", kann es schon Willkürlichkeit erfordern, da eine Eindeutigkeit herzustellen. Um beim Beispiel der Staufer zu bleiben, klar: Sie wollten ihre Macht und die Krone erhalten, sie wollten ihre Konkurrenten ausschalten. Dazu haben sie die Mittel eingesetzt, die sie hatten. Der Mitteleinsatz hatte in den meisten Einzelfällen den beabsichtigen Erfolg, und möglicherweise waren die Einzelschritte für die jeweiligen Einzelziele alternativlos. Nur kann man die Einzelfallentscheidung des einzelnen Königs im Falle "Was kann ich jetzt tun, um diese Krise zu meistern und die Krone zu erhalten" nicht von dem Umstand trennen, dass es per se nicht gesund ist, Investitionen auf Kosten der Substanz zu tätigen. Sprich, natürlich kann man festhalten, dass die Entscheidungen in jedem Einzelfall zielführend waren; dass ie aber in ihrer Summe dem Königtum und damit auch der Dynastie, deren Ansprüche sie in jedem Einzelfall schützen sollten und geschützt haben, den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
  Womit man dann doch schon wieder eine "Frage in der Geschichte" hätte, die sich schwerlich so eindeutig beantworten lässt, ohne gewisse Sichtweisen einfach auszublenden - nämlich wie weit sich sich die Kausalität reduzieren lässt. Wenn das Ziel des Protagonisten ist, "die Krone zu erhalten", ist es dann ein Erfolg, dass er jeden einzelnen Angriff von mächtigen Gegnern abwehren kann, die sie ihm streitig machen? Oder ist es der Fehler, nicht direkt von Anfang an zu sehen, dass man sie nicht halten kann, weil man nur die Wahl hat zwischen Niederlage und langsamer Erosion über mehrere Generationen? Ist dann schon der erste Schritt auf diesem Weg ein Erfolg, weil die Krone zunächst verteidigt wurde? Oder ein Misserfolg, weil man den Gesamtverlust, der drohte, nur abwenden konnte, indem man zu dem allmählichen Verlust in Bezug auf das gesteckte Ziel beigetragen hat.
  Und die interessante Frage, die für mich in dieser Geschichte stecken würde, wäre die: Wenn man die Krone will und sie aus irgendwelchen Gründen bekommt, obwohl absehbar ist, dass man sie nicht halten kann - lohnt es sich dann, darum zu kämpfen und den Verlust so lange wie möglich hinzuziehen? Was für einen Preis zahlt man selbst dafür, was für einen Preis lässt man andere zahlen, und gäbe es bessere Alternativen? Und hat man in so einer Situation überhaupt die Wahl, etwas anderes zu tun oder nicht doch noch eine dauerhaft erfolgversprechende Strategie zu finden?
  Für mich laufen Geschichten nun mal gerne auf solche Fragen hinaus, und sie aufzuwerfen, finde ich letztlich spannender, als nur eine Antwort darauf darzustellen.
  König kriegt Krone, verteidigt sie durch hundert Herausforderungen, nur um am Ende dem Rudel seiner Feinde zwangsläufig zu erliegen, nachdem er alles gegeben hat - das wäre in der Tat eine Geschichte, die schon oft erzählt wurde und die ihren Reiz hat. Aber wo wäre der Reiz, wenn alles, was darin passiert, so zwangsläufig und eindeutig ist, dass der Leser nicht zumindest mitfiebern kann, sich Dutzende alternative Verläufe dazu ausdenken kann, wie es anders hätte kommen können, wo Fehler gemacht wurden ... oder doch nicht? Und zwar ohne dass die Geschichte diese Spekulationen des Leser beantwortet und sie damit abschneidet.

Ich gebe zu, viele Leser sind irritiert, wenn am Ende nicht alle diese Fragen, die die Geschichte bei ihm aufwirft, auch (scheinbar) eindeutig beantwortet werden. Aber ich denke auch, dass offensichtlich sein sollte, dass dieses Aufwerfen von Fragen, die man dem Leser allein überlässt, durchaus auch seinen eigenen Reiz haben kann und ein eigenes dramaturgisches Potenzial.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 28. Oktober 2012, 09:19:49
@Churke: Ich bin immer noch nicht überzeugt, daß sich das Threadthema einfach auf die Frage "plot driven vs. character driven" herunterbrechen läßt. Unabhängig von der Schreibmethode: ein Autor, der eine Aussage transportiert, muß zwangsläufig vorher eine Frage aufwerfen, die von dieser Aussage beantwortet wird.

Beispiel LeGuin: Der Aussage "Die Anarchie ist das einzig wahre Gesellschaftsmodell" geht die Frage voraus: "Kann eine anarchische Gesellschaft funktionieren?" Solange LeGuin diese Frage offen hält, hat sie mich als Leser bei der Stange. Sobald die Frage "eindeutig" beantwortet ist, kann ich das Buch im Grunde zuklappen. Ich lese keine Geschichte, um mich hunderte von Seiten durch die Bekräftigung einer längst geklärten Aussage zu wühlen.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03
Zitat von: Lomax am 27. Oktober 2012, 18:53:03
Für mich laufen Geschichten nun mal gerne auf solche Fragen hinaus, und sie aufzuwerfen, finde ich letztlich spannender, als nur eine Antwort darauf darzustellen.

Das kann ich so unterschreiben. Wenngleich ich  mir nicht sicher bin, wie man in einem Roman eine Frage (ich nenne es mal These) aufstellen kann, ohne sie zu beantworten. Sowohl bei Figuren, die die These vertrten, als auch bei Handlung und Geschehensabläufen, die für die Richtigkeit der These sprechen (sollen), greift der Autor selektiv und damit manipulativ in den Prozess ein. Er zeigt dem Leser Dinge und liefert ihm Argumente, die ihn zu den vom Autor beabsichtigten Schlüssen führen sollen. Und die muss er ihm ja auch auftischen, damit der Leser sich überhaupt mit den Fragen befasst.

Zitat von: Farean am 28. Oktober 2012, 09:19:49
Beispiel LeGuin: Der Aussage "Die Anarchie ist das einzig wahre Gesellschaftsmodell" geht die Frage voraus: "Kann eine anarchische Gesellschaft funktionieren?" Solange LeGuin diese Frage offen hält, hat sie mich als Leser bei der Stange.
Mangels Kenntnis des Buches hänge ich wie gesagt etwas in der Luft. Ich habe mal auf Wikipedia geschaut. Dort liest sich die Anarchie-Begeisterung etwas anders. Nebenbei bemerkt ist das Wesentliche einer Utopie, dass sie a) ideal ist, b) funktioniert und c) total unrealistisch ist. Man könte LeGuin also attestieren, dass sie sich an die Regeln des Genres gehalten hat. Analog Platon oder Thomas Moore.


Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Farean am 29. Oktober 2012, 14:18:57
Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03
Nebenbei bemerkt ist das Wesentliche einer Utopie, dass sie a) ideal ist, b) funktioniert und c) total unrealistisch ist. Man könte LeGuin also attestieren, dass sie sich an die Regeln des Genres gehalten hat. Analog Platon oder Thomas Moore.
Stimmt, aber diese Erkenntnis hat hier nichts mit dem Thema zu tun. Es geht mir in diesem Thread nicht primär darum, LeGuin zu kritisieren, sondern ich habe ihren "Planet der Habenichtse" lediglich als Beispiel für den Konflikt "offene Frage vs. feste Aussage" gewählt.

Tatsächlich würde ich LeGuins Buch in Bezug auf die Technik "den Leser mit einer offenen Frage bei der Stange halten" sogar (fast) als Positivbeispiel werten, denn sie hält die Kernfrage, die das ganze Buch durchzieht, bis zum Schlußplädoyer des Protagonisten im letzten Kapitel (scheinbar) offen. Erst dort macht sie klar, was seiner (und meinem starken Eindruck nach auch ihrer) Ansicht nach "die" Antwort darauf ist.

Streiche das "fast" und das "scheinbar" (LeGuin arbeitet zwischendurch für meinen Geschmack extrem manipulativ), und das Buch wäre - bei identischer Schlußaussage aus Sicht des Protagonisten - gemäß meiner Anforderung "Ich will eine Frage, keine feste Aussage" perfekt.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Lomax am 30. Oktober 2012, 19:04:32
Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03Wenngleich ich  mir nicht sicher bin, wie man in einem Roman eine Frage (ich nenne es mal These) aufstellen kann, ohne sie zu beantworten.
Nun ja, da kann ich zumindest ein paar Beispiele liefern, auf die ich selbst gern zurückgreife ;). Eine meiner Lieblingstechniken ist dabei sicher
(1) "Der Erzähler lügt" - man stellt Geschehnisse und deren Interpretation aus der Sicht einer Figur dar, die naturgemäß von der "objektiven" Sicht oder der Sicht anderer Figuren abweichen kann. Dazu nimmt man als Autor nie "objektiv" Stellung, aber aus Inkonsistenzen in der Darstellung kann der Leser durchaus entnehmen, dass das, was da in der Geschichte aufgetischt wird, nicht unbedingt so stimmen kann. Und dann mag er darüber spekulieren, was denn "objektiv richtig" ist, oder auch nicht ... Selbst wenn ich als Autor dazu eine klare Vorstellung hatte, kommt die nicht unbedingt explizit in der Geschichte vor.
(So was habe ich beispielsweise mit der Figur des "Baskon" in den Gefährten des Zwielichts gemacht, der auf den ersten Blick für die Idee des Bösewichts steht, der durch seine "schwere Jugend" und die "Umwelt"/"Gesellschaft"/wie auch immer man es nennen will zum Bösen getrieben wurde. Baskon selbst jedenfalls lamentiert oft genug darüber. Wenn man allerdings seine Rückblicke mal genauer liest und seine eigenen "Kommentare" dabei herausfiltert, kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass er letztlich für all dieses "Unglück", dass ihm von anderen Leuten in seiner Jugend zuteil wurde, selbst verantwortlich ist, weil er damals schon dieselben Fehler gemacht hat, die ihn jetzt zu einem unausstehlichen und nervigen Bösewicht machen. Gesagt wird das explizit im Roman nicht, weil man Baskons Vergangenheit halt nur durch seine eigene Brille sieht - es wird halt nur das Konzept des "Bösewichts, der von der Gesellschaft dazu gemacht wurde" vorgestellt und in Frage gestellt, so dass der Leser darüber spekulieren kann, ohne dass das Buch eine Antwort gibt)
(2) Sympathie: Ich gehe davon aus, dass Leser Gedanken, die ihnen sympathisch sind, nicht gerne loslassen. Also setze ich Sympathien und explizite Aussagen konträr. Sprich, der Typ, der in der Handlung gegen die "These" steht, wird sympathisch gezeichnet; der Unsympath ist derjenige, der die vordergründige "Aussage" der Geschichte trägt; oder man fängt mit einer These an, der der Leser gerne folgt, und lässt sie durch eine Hölle gehen, die sie in Frage stellt ... Allein schon, weil der Leser an dem, was ihm sympathisch ist, festhalten will, sorgt man dafür, dass nicht einfach eine anderslautende Aussage in der Geschichte unhinterfragt akzeptiert wird, sondern dass der Leser die ganze Zeit nach einer anderen Antwort sucht, die Sympathie und Aussage zusammenbringt ... und wenn man die in der Geschichte nicht gibt, hat man eine offene Frage darin.
(3) Man führt die These über einen Protagonisten und seine Ziele ein, die im Laufe des Romans bestätigt werden ... wobei der Protagonist selbst aber diese Ziele im Laufe des Buches verliert bzw. einen so hohen Preis für den Erfolg zahlt, dass die Ziele und die These damit in Frage gestellt werden - obwohl der Erfolg sie ja bestätigt hat. Damit stellt sich dann auch die Frage, "ob es das wert war", und diese Frage bleibt durchaus offen, je nachdem, welche der Aussagen der Leser höher wertet - was er als Aussage zur Grundthese wertet, und was letztendlich nur als individuelles Problem des Protagonisten.

Das (und natürlich Mischformen davon), wären erst mal drei Varianten, die mir aus eigener Anwendung als erstes einfallen, um Aussagen in einem Roman aufzustellen unf sie zugleich in Frage zu stellen.
Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03Sowohl bei Figuren, die die These vertrten, als auch bei Handlung und Geschehensabläufen, die für die Richtigkeit der These sprechen (sollen), greift der Autor selektiv und damit manipulativ in den Prozess ein. Er zeigt dem Leser Dinge und liefert ihm Argumente, die ihn zu den vom Autor beabsichtigten Schlüssen führen sollen. Und die muss er ihm ja auch auftischen, damit der Leser sich überhaupt mit den Fragen befasst.
Der Autor muss zwar die These und Argumente liefern, und letztlich vielleicht auch Auflösungen anbieten. Aber es gibt im Roman mehr als genug Gelegenheit, mehrere Perspektiven auf ein und dieselbe "These" (oder Situation) vorzustellen, und sei es auch nur, dass unterschiedliche Figuren und unterschiedliche Handlungsstränge dieselbe These unabhängig voneinander und mit unterschiedlichem Ergebnis durchexerzieren.
  Natürlich gibt der Autor dabei die Argumente vor und hat möglicherweise auch eine eigene Meinung, zu der er hinmanipulieren kann. Aber ob er das als Frage tut oder als Antwort, und wie einseitig er alles auf ein Ergebnis zuführt, da besteht doch eine Menge Freiraum.
Titel: Re: Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!
Beitrag von: Churke am 05. November 2012, 14:28:54
Ich sitze gerade an einer Story, in der eine Gruppe von Personen vor der Frage steht, ob sie einen Mord begehen soll, um jemanden, der ihnen nahe steht, zu retten.

Dazu kann man nun stehen wie man will. Aber ich habe die Varianten durch gespielt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es Larifari ist, wenn sie die "richtige" Entscheidung treffen und als strahlende Sieger in den Sonnenuntergang reiten. Es braucht die Katastrophe einer falschen Entscheidung, um diese Frage für den Leser überhaupt erst zuzuspitzen.