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Helden von - bis

Begonnen von Maja, 30. März 2010, 17:17:25

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Maja

Aus aktuellem Anlaß ein Thread zum Thema Zielgruppen und Mainstream.

Folgendes ist passiert: Gestern beschließe ich, ein neues Buch zu plotten, "Ganz klassische Fantasy, sowas wollte ich schon ewig mal schreiben". Keine Stunde Plotten später ist mein sanftmütiger Prinz ein eiskalter Psychopath, der steinharte Kämpfer ist schwul, und die restlichen Helden werden auch noch ihr Fett wegbekommen... Ich stelle mehr und mehr fest, daß ich nicht "normal" kann. Durchschnittliche, nette Leute interessieren mich nicht nur nicht so sehr, ich kann mich auch nicht in sie hineinversetzen. Wer keinen seelischen Abgrund hat, braucht mir gar nicht erst ankommen. Für meine Chancen auf dem Buchmarkt habe ich das immer als größten Hemmschuh gesehen, wie selbstverständlich gehe ich davon aus, daß die Leser lieber normalere Figuren haben wollen, zumindest in der Heldengruppe. Die Bücher, die ich über die Jahre aus unserem Genre gelesehen haben, scheinen mir mit dieser Theorie Recht zu geben.

Was ich mich jetzt frage, ist: Wollen die Leser das überhaupt? Wenn ihr die Zielgruppe seid, wollt ihr pflegeleichte Sympathieträger, mit denen sich jeder (außer mir) identifizieren kann, oder ist es für euch okay, auch mal von einem Helden abgestoßen zu werden, wenn er dafür interessanter erscheint? Oder bilde ich mir nur ein, daß das zwei verschiedene Dinge sind, die einander ausschließen, und liege falsch, normal und langweilig gleichzusetzen?

Mich würden eure Ansichten und Erfahrungen sehr interessieren, auch wenn sich bei mir nichts mehr ändern wird, egal was hier rauskommt - ich habe es ja versucht, aber es gelingt mir nicht, meinen Helden ein Profil zu verpassen, ohne ihnen gleich den dicken Hau wech zu geben. Aber vielleicht lieben die Leser ja gerade das an mir?
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Ary

Nun denn, werfe ich doch mal einen Blick auf meinen Bücherschrank und meine Festplatte.
Die Geschichten, die ich am liebsten gelesen habe, sind die mit den nicht-Mainstream-Charakteren. Die mit den etwas anderen Typen, die mit den Abgründigen und Verzweifelten. Als ich Lynn Flewellings Tamir-Trilogie in die Finger bekam, bin ich auf die Knie gefallen und habe sämtlichen Musen dafür gedankt, dass es sie noch gibt - Fantasy, die fast ohne Magie auskommt, dafür aber tief-udn zuweilen auch abgründige Charaktere hervorbringt. Ich habe diese Reihe verschlungen und konnte danach lange keine Fantasy mehr lesen, weil irgendwie nichts diesen Charakteren das Wasser reichen konnte.
Ja, ich mag sie, die Psychopathen und Verdrehten, die Verschwurbelten und manchmal nicht Nachvollziehbaren.

Wenn ich selbst schreibe, ist mindestens eine Hauptfigur traumatisiert und eine schwul oder lesbisch, hat ein tiefgehendes Problem mit der Familie und/oder mit sich selbst und neigt dazu, überall anzuecken. "Nette leute von Nebenan" habe ich im Realleben genug, über die muss ich nicht auch noch schreiben.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Sprotte

Schwierig - oder auch nicht!

Einen Helden im schimmernder Wehr, mit astreiner Abstammung, makellosem Charakter und einer überquellenden Güte finde ich strunzlangweilig.
So einen hatte ich in meinem ersten Fantasyroman erschaffen (okay, er war der Gefährte des Weltdrachen blablablubb). Im Rewrite wurde er plötzlich von boshaftem Humor beseelt, der ihn um Welten echter und sympathischer machte. Wow, ich war begeistert.
Helden müssen Laster haben, Charakterschwächen, vielleicht etwas Traumatisches in ihrer Kindheit, das ihnen im unpassendsten Augenblick in die Quere kommt.

Denke ich an Pratchett, denke ich an Sam Vimes (Sam Mumm), der ein Säufer (derzeit abstinent, was er mit teuren Zigarren und viel Bosheit kompensiert) und gerechter Rassist ist (er haßt Menschen, Zwerge, Trolle und Untote - er ist selber ein Mensch).

Ein schwuler, steinharter Kämpfer? GÖTTLICH! Warum bin ich nicht auf so etwas gekommen! Du hast meine Idee geklaut, sei ehrlich! Ich will auch einen!

Helden, denen alles auf Anhieb gelingt, denen alle zu Füßen liegen, die dauernd Jungfrauen retten, immer lächeln, immer weiterwissen, nie verzagen, nie müde sind und niemals einen wundgerittenen (ähm, unglückliche Wortwahl, wenn ich an Deinen schwulen Krieger denke!) Hintern VOM AUF DEM PFERDE REITEN haben - nä, schmeiß sie in den Müll.

Die Kane-Romane (in meinen Augen verschenkte, gnadenlos wundervolle Idee) werden von Kain (der von Abel und Kain) beherrscht, der zur Unsterblichkeit verdammt wurde vom liebenden Gott, weil er ja Abel umbrachte. Der Typ ist vollkommen irrsinnig, aber es macht Spaß, sich Seite an Seite mit ihm durch Monsterabschaum zu metzeln.

Felsenkatze

Du kannst Gedanken lesen, oder?

Ich habe gerade neulich über so etwas nachgedacht. (Im Zusammenhang mit der Überlegung, ob ich einen Serienmörder ernsthaft zu einem "Love Interest" des Buches machen kann). Dabei bin ich mehr oder weniger zu dem Schluss gekommen, dass ich

a) Gerne über sanftmütige, nette Charaktere lese (auch schreibe), wenn sie denn auch ein bisschen Charakter mehr haben. Sanftmütig mit Macken. Nett mit Wutausbrüchen oder Paranoia. Jemanden, in den ich mich gerne hereinversetze, und den ich verstehe, der mir aber auch etwas neues bietet. Scherenschnitt muss nicht sein.

b) Über abstoßende Charaktere gerne lese, wenn die Geschichte interessant ist, oder ihre Charaktereigenschaften sehr fesselnd. Als Beispiel habe ich da "König Ratte" von China Miéville. In dem Buch gibt es keinen einzigen sympathischen Charakter, aber ich habe es dennoch gerne gelesen. Das hat dann ein bisschen was von "mal sehen, wie er sich demnächst in die Sch... reitet", oder auch die Handlung reißt mich einfach mit.
Das muss aber ziemlich gut gemacht sein, damit ich es durchhalte - wenn mich ein Charakter nur noch abstößt, aus objektiven oder auch subjektiven Gründen - dann fällt es mir schwer, ihn ... hm ... in meinem Leben einen Platz einzuräumen. Und das tue ich ja, wenn ich mich auf ihn einlasse.

c) Über Charaktere lese, die ich im realen Leben als ziemliche Idioten wahrnehmen würde, deren Beweggründe in der Innensicht aber so einleuchtend und klar dargestellt sind, dass ich mich dennoch in sie hinein versetzen kann. Solche Protagonisten liebe ich sogar ziemlich. Ein gutes Beispiel ist Sangamon Taylor aus Neal Stephensons "Zodiac". Mann, hat der keine Ahnung von Zwischenmenschlichem!

Im Grunde denke ich, kann man alles verkaufen. Ich kann mir vorstellen, dass die Leserschaft für einfach zu handelnde Charaktere größer ist, vielleicht wollen sich nicht alle mit einen kleinen Psychopathen als Prota auseinandersetzen, aber der Buchmarkt beweist auch, dass es auch anders geht. Zu den interessantesten Charakteren gehören letztlich sowieso die im Wandel befindlichen. Von "gut" zu "böse" oder umgekehrt, aber auch nur, wenn es begründet ist. Der letztendliche Abschluss dieser "Reise" ist dann eher nicht so relevant für mich.

Kati

Deine Idee gefällt mir schon jetzt zehnmal besser als viele Geschichten mit "normalen" Protagonisten. Ich habe nichts dagegen etwas über "normale" Leute zu lesen, aber Protagonisten mit einer Vergangenheit und mit eindeutigen Macken sind mir um einiges lieber. Das macht die Geschichte interessanter.

Ich bin auch so, Maja. Ich schreibe ja eigentlich nur Urban Fantasy für Jugendliche und meine Ich-Erzähler sind eigentlich auch nie "normale Mädchen von nebenan". (Oder eben Jungs... ;)) Die Prota meines letzten NaNos hat zum Beispiel alles, was ihr nicht gefiel, einfach wieder verdrängt, sich eingeredet alles wäre okay und Probleme oftmals durch Gewalt gelöst, die Fehler nie bei sich selbst gesucht und arrogant war sie auch noch. Eigentlich niemand mit dem man sich gern identifizieren möchte.

Mir ist allerdings aufgefallen, dass besonders in der Urban Fantasy, die ich auch viel lese, viele "Heldinnen" nach demselben Schema funktionieren: Durchschnittlich, etwas schüchtern und sie haben nur wenige Freunde. Damit können sich besonders viele Mädchen bestimmt gut identifizieren, aber mich langweilt das. Aber da es das so oft gibt, wird es anscheinend auch gern genommen. Also kann ich mir schon vorstellen, dass die meisten Leser so etwas mögen. Meine Beta, eine Vielleserin, mag meine Protas zum Beispiel nie und bevorzugt die "normalen".

Luna

Oh, das sind ja jetzt schon krasse Abweichungen ...

Ich bin dafür einen halbwegs normalen Prota zu haben, das heißt, dass er nicht nur stärken und eine glänzende Rüstung hat, sondern auch irgendwo seine Probleme, seine schwächen - ohne das kann man keine ordentliche Geschichte erzählen. Es geht einfach nicht. Man muss Probleme haben, die es zu bewältigen gibt - am besten persönliche. Sonst hat man keine glaubwürdige Motivation.
Dazu kannst du auch gerne stets irgendwelche Psychopaten oder schwule Kämpfer mixen - warum nicht? Je nach Prota dürfte gerade das sehr interessante Augenblicke geben - gerade, wenn die beiden zusammenarbeiten müssen. Dürfte interessant werden, wenn der schwule den Psychopaten stets anbaggert, der dauernd mit Morddrohungen zurückschlägt und das vielleicht auch fürs Ende der "Mission" im Hinterkopf behält ... und je nachdem könnte er sich vielleicht auch soweit ändern, dass er den anderen nicht mehr umbringen kann ...

Ary

Hab noch was vergessen - Majas Elomaran sind auch so eine Offenbarung, was schräge/schwierige/traumatisierte/schwule/bösartige/hinterhältige Charaktere angeht. :)

Mal ehrlich, jeder Schreibratgeber kommt daher mit dem Tip, dass Protagonisten gefälligst interessant zu sein haben, schillernde Persönlichkeiten, gern ein wenig übertrieben in ihren Schrulligkeiten. ich habe das eigentlich schon immer so gemacht. Alles andere war mir schlichtweg zu öde.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Lomax

Zitat von: Maja am 30. März 2010, 17:17:25Wenn ihr die Zielgruppe seid, wollt ihr pflegeleichte Sympathieträger, mit denen sich jeder (außer mir) identifizieren kann, oder ist es für euch okay, auch mal von einem Helden abgestoßen zu werden, wenn er dafür interessanter erscheint?
Das Problem bei der Frage ist nur, die Leute, die hier mitlesen, sind leider nicht "die" Leser der Bücher. Überhaupt ist die Einschätzung von Büchern durch engagierte und langjährige Genreleser nicht repräsentativ für den Markt - das merkt man am deutlichsten daran, dass eigentlich in allen Foren und Gruppen, die ein wenig tiefer in die Szene gehen, genau die Bücher regelmäßig mit Fassungslosigkeit betrachtet werden, die sich in den Läden verkaufen wie warme Semmeln.
  Das Problem ist, der "Leser" in seiner Masse liest halt nur, er redet eher selten darüber und schreibt noch seltener. Ist also verdammt schwer, da eine klare "Ansage" zu bekommen. Man kann eigentlich nur schauen, was am Markt besser oder schlechter läuft. Oder die nicht repräsentative Auswahl der aktiven Leser befragen, was die sich vorstellen, und darauf hoffen, dass es für das, was da ankommt, wenn es auch nicht repräsentativ sein mag, doch zumindest eine hinreichende kleinere Zielgruppe gibt.
  Aber am Ende muss man wohl so oder so selbst "erfühlen", wo die Grenzen liegen und wo der Kompromiss zwischen dem, was man selbst schreiben will, und dem, was man verkaufen zu können glaubt. Ganz gegen den eigenen Strich schreiben geht meistens ja auch nicht gut ... und wenn doch, ist es zumindest nicht befriedigend ;)
  Und wenn man sich den Markt anschaut, findet man zumindest, dass eine ganze Menge theoretisch geht, dass es neben den glatten Figuren auch viele "kantige" gibt, die durchaus auch von genug Lesern goutiert werden ... wenn auch vielleicht nicht in den Auflagenzahlen von "Biss". ;) Aber entscheidender als die Frage, was "man" machen kann, scheint doch zu sein, wie es umgesetzt wird, ob die Mischung stimmt, ob man genau den richtigen Punkt trifft. Ich denke mir, wichtiger für den Publikumserfolg als die Grundsatzentscheidung, ob man einen glatten Helden oder einen miesen Unsympathling als Hauptfigur nimmt, ist am Ende vermutlich, ob man es schafft, genau den miesen Unsympathling zu charakterisieren, der den Lesern gefällt, die miese Unsympathlinge mögen - denn da kann man durchaus immer noch falsch liegen, selbst wenn man prinzipiell ein Publikum hätte.

Das ist ein wenig so wie beim Kochen: Es hilft nicht viel, die Gäste vorher zu fragen, ob sie es gerne scharf mögen. Wenn alle "Ja" rufen, und man kocht sein Essen scharf, mag es vielleicht hinterher trotzdem keiner, wenn man nicht genau das richtige Maß an Schärfe gefunden hat.

Thaliope

Hm, was DIE Leser wollen, ist immer so ne Sache ...
Ich als Leser möchte gerne was Authentisches lesen. Was Eigenwilliges. Wo die Verrücktheit des Autors durchschimmert.
Aber es gibt sicherlich viele Leser, die das lesen wollen, was sie immer lesen.
Ich bin immer noch der völlig blauäugigen Ansicht, dass Literatur nicht für den Massen-Markt geschrieben werden sollte. Sondern dass man die Geschichten schreiben muss, die in einem drin sind.
Ob man es damit der breiten Masse recht machen kann - wer weiß das schon. Aber muss es eigentlich immer die ganze breite Masse, müssen es immer DIE Leser sein?

Maran

Ich sah letztens zum ersten Mal "Pans Labyrinth". Dieser Film beschäftigt mich immer noch. Die Figur, der mein größtes Interesse gilt, ist der Hauptmann - obwohl ich diesen Charakter wirklich hasse. Na, hassen ist zuviel gesagt, aber er ist mir mehr als unsympathisch.

Ich brauche beim Lesen oder Sehen von Filmen Charaktere, mit denen ich mich auseinandersetzen kann, Charaktere mit Ecken und Kanten und Abgründen. Ein "absolut guter" Charakter dürfte genauso Ecken, Kanten und Abgründe besitzen, nur werden die so selten thematisiert, wodurch der Charakter eine gewisse Oberflächlichkeit nach außen trägt. So ein Kuschel-Wuschel-Friede-Freude-Eierkuchen-Typ turnt mich irgendwie ab.

Allerdings, und auch das ist mir wichtig, sollte innerhalb einer Geschichte ein gewisser Ausgleich geschaffen werden, was die Charaktere anbelangt. Ein noch so kleiner Sympathieträger ist mir wichtig.

Wuo Long

Zitat von: Thaliope am 30. März 2010, 18:06:53
Ob man es damit der breiten Masse recht machen kann - wer weiß das schon. Aber muss es eigentlich immer die ganze breite Masse, müssen es immer DIE Leser sein?

Ich sehe das ähnlich. Man weiß nie, was die Leser eigentlich wollen und wenn es um Veröffentlichung und Marketing geht, hängt so vieles sowohl von Glück oder den Vermarktungsfähigkeiten des Verlags/Agenten oder wen auch immer ab. Meine Charaktere, zumindest die, aus deren Sicht ich schreibe, sind allesamt Exzentriker. Jeder auf seine sehr eigene Art, aber oft besitzen sie Eigenarten, mit denen sich "normale" Menschen wohl nur schwierig identifizieren könnten.
Mir ist das schnuppe. Gut, ich bin auch noch Lichtjahre von einer Veröffentlichung entfernt, aber wenn ich nicht von Charakteren schreibe, die mir Spaß machen, dann hätte ich gar keine Motivation, meine Geschichten auch zu Ende zu bringen. Das Bedürfnis der Leser ist für mich da erst mal weniger interessant. Darum kümmere ich mich, wenn ich mich der verzweifelten Aufgabe widme, meine Geschichte an den Mann zu bringen.  ;D

Maja

Ich denke, das ist auch eine Frage der Authentizität. Beispiel aus dem musikalischen Bereich: Unser Star für Oslo, Lena Meyer-Landrut. Kein wiechgespülter Mainstream, sondern eine Sängerin, an der sich die Geister scheiden - komische Art zu singen, komische Art zu Tanzen, man kann sich nicht vorstellen, daß so jemand Erfolg hat - und was passiert? Sie geht weg wie die warmen Semmeln, weil sie das Gefühl vermittelt, authentisch zu sein, unverfälscht und unverstellt. Trotzdem will man nicht, daß nur noch solche Sänger am Markt sind - was einmal klappt, muß nicht immer klappen.

Ich möchte keine Bücher lesen, wo der Autor sagt "So, jetzt machen wir mal einen Helden mit Problemen" und sich dann was aus den Fingern saugt, wie sich Klein Fritzchen den Geisteskranken vorstellt. Das heißt jetzt nicht, daß nur psychisch Kranke Bücher über psychisch Kranke schreiben dürfen, sondern, daß man es manchedn Autoren einfach nicht abkauft, und wenn die Ergebnisse bemüht wirken, hätte der Autor besser etwas normales geschrieben. Ist mir mal mit einem Buch von Anne Fine so gegangen - klang super interessant und ging dann so weit an Lebensnähe vorbei...

Ich schreibe meine Figuren so, wie sie mir einfallen, auch wenn es immer wieder solche Momente gibt wie Anfang 1995, als ich Cip für die "Öbba" ausarbeitete und dann merkte, "Meine Güte, der Kerl ist ein Junkie". Es gibt bestimmte Motive, die mich faszinieren und darum überproportional vertreten sind, dazu gehören Wahnsinn, Suchtverhalten, sexuelle Abweichungen, vielleicht, weil ich von allem betroffen bin. Aber es ist auch eine Trotzreaktion: Mein ganzes Leben habe ich gesagt bekommen, daß ich anders bin, abartig, verrückt, etc - da will ich nicht ausgerechnet im Schreiben, bei dem, was ich mehr liebe als alles andere, mich verbiegen müssen und normal werden. Und ich glaube auch nicht, daß ich sowas glaubhaft rüberbringen würde. Genau wie Lena nicht bei DSDS antritt.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Churke

Ich sehe Figuren, ob nun echte oder erfundene, immer pathologisch. So etwas wie einen inneren Ekel kenne ich da nicht. Mag aber auch eine Berufskrankheit sein. Im Strafrecht hat man viel mit bösen Buben zu tun, die schlimme Dinge tun. Das ist manchmal ganz großes Kino.


Aber ich will die Frage mal etwas anders aufziehen: Man sollte nicht allein auf die Figurenzeichnungen schauen, sondern auch ihr Umfeld, sprich den Plot. Da gibt es m.E. 4 Optionen:
a) Normale Leute in abnormalen Situationen.
b) Abnormale Leute in normalen Situationen.
c) Normale Leute in normalen Siutaionen.
d) Abnormale  Leute in abnormalen Situationen.

Variante c) halte ich für literarisch wertvoll (= öde), Variante d) könnte ein Problem mit der Marktanzeptanz haben.

Lomax

#13
Und abgesehen davon habe ich mit dem "Tag der Messer" inzwischen ein Buch am Markt, mit dem ich das ganze Durchexerziert habe. Den Roman habe ich ja immer charakterisiert als "die Bösen gegen die ganz Bösen". Ich habe also durchaus ein persönliches Interesse an der Beantwortung deiner Frage. Und ich weiß immer noch keine Antwort darauf, ob "die Leser so was wollen".
  Der eine Protagonist dort ist ein Psychopath, nicht nur im landläufigen Sinne, sondern durchaus pathologisch und klinisch korrekt, mit allen Höhen und Tiefen. Und ganz nebenbei taugt er von dem, was er drauf hat, durchaus als Held, was manchmal auch durchschimmert in Szenen, wo angedeutet wird, dass es auch anders sein könnte, wenn er auf einem anderen Platz stünde, in einer anderen Konstellation.  Es gab Leser, die hatten stellenweise Mitleid mit ihm; und solche, die haben ihn gehasst. Manchmal beides.
  Die andere Protagonistin ist ein zickiger, verwöhnter Teenager und wird im Jahr der Revolution mal eben "erwachsen geklopft". An der Figur wollte ich durchspielen, ob Nachtalben nun von Natur aus böse sind oder zu dem gemacht werden, was sie sind - eine Frage, auf die der Roman insgesamt durchaus verschiedene Antworten gibt, aber die Hauptfigur selbst war stellenweise schon nervig und unsympathisch angelegt. Da paart sich kindliche Unschuld und Naivität mit einem hohen Schadenspotenzial ...
  Und selbst der "Gutalb" des Buches zeichnet sich dadurch aus, dass er von Anfang an mit den besten Absichten die ekligsten Dinge macht und auch später aus politischen Erwägungen genau da landet, wo es wirklich unmenschlich wird. Und davon wohl auch innerlich zerrissen wird, selbst wenn er kein Mensch ist.
  Und so geht es in dem Buch eigentlich weiter, Intriganten, Barbaren, Rassisten geben sich die Klinke in die Hand, vernünftige Militärs taugen auch nur bedingt als Lichtgestalten, und die wenigen aufrechten Gestalten müssen schon ordentlich kämpfen, um nicht unterzugehen - aber ganz verzichten wollte ich auf ein paar Sympathieträger dann doch nicht, auch wenn sie eher in Nebenrollen landen.

Insgesamt war die Reaktion auf den Roman besser als auf den "harmloseren" Vorgänger ... ob sich das auf die Verkäufe auswirkt, wer weiß? Es gibt ja nicht nur im Fußball den Ausdruck von "in Schönheit sterben", und Lob nutzt ja nichts, wenn es sich nicht in Verkäufe umwandeln lässt. Die letztendliche Antwort auf diese Frage steht noch aus.
  Von den öffentlichen Leserkommentaren habe ich bisher eigentlich nur Lob zu dem Buch gehört. Im privaten Umfeld habe ich allerdings durchaus Leser und Testleser erlebt, denen der erste Teil besser gefiel, weil er humorvoller war und auch "netter"; und die die "Messer" durchaus als (zu) harten Tobak empfanden. Welche Seite der Reaktionen nun repräsentativer für "die" Leser ist, darüber grübele ich seither auch noch nach.
  Interessant mag die Feststellung sein, dass gerade von den wenigen Nicht-Fantasylesern, die ich bisher kennen gelernt habe und die das Buch in die Hand bekamen, durchweg positive Reaktionen gehört habe. So viele Bekannte und Verwandte habe ich leider nicht, die das Buch gelesen haben und die ansonsten mit Fantasy nichts anfangen können und die "Messer" trotzdem gelesen haben, oder entsprechende andere Leser mit ähnlicher Ausrichtung; aber ein paar gibt es doch, und die habe ich mit dem Titel (endlich) erwischt - die Leute also, die Fantasy insgesamt und auch meine anderen Bücher ansonsten scheiße oder "belanglos" finden, mochten die "Messer". Aus diesem halben Dutzend Beispielen kann man natürlich schwerlich eine allgemeine Aussage ableiten, aber zumindest habe ich mich deswegen schon gefragt, ob das nicht doch ein Beleg für die Annahme ist, dass in der Fantasy mehr Leser "Harmonie" wollen, während außerhalb der Fantasy Authentizität  durchaus eher als Qualität angesehen wird.
  Aber, wie gesagt, nach diesem "Versuchsballon" bleiben auch für mich erst mal mehr Fragen als klare Eindrücke zurück. Wenn die Auflagenzahlen mal über 50,000 steigen sollten, dann werde ich das wohl als eindeutig positive Antwort auf deine Frage zur Publikumsakzeptanz solcher Figurenkonstallationen werten. Bis dahin würde ich erst mal nicht ausschließlich auf so kantige Stoffe und Figuren setzen wollen. Meine eigenen Bedenken in diese Richtung bin ich durch den Versuch nicht gleich losgeworden, auch wenn ich es einfach mal getan habe.

Die schwierige Frage der Verkaufbarkeit habe ich darum für den nächsten Roman erst noch mal an die Leute delegiert, die am Ende auch die Bücher ans Publikum bringen werden: Ich habe jetzt zwei Expos an den Verlag geschickt, einmal klassische Fantasy mit etwas kantigen Figuren, aber durchaus versöhnlichem Potenzial; und einmal düstere Fantasy mit tief gestörten Figuren, kranken Beziehungen und einer harten Ecke in Horror und "grim & dark". Wenn ich die Antwort auf diese Angebote habe, dann weiß ich zumindest, wie die Verkaufbarkeit der unterschiedlichen Stoffe von Verlagsseite her beurteilt wird  ;)
  Sollte das dann auch eine Erfahrung sein, die dich interessiert, kann ich dich von dem Ergebnis gerne in Kenntnis setzen ...

Darkstar

Ich denke persönlich, ein Held darf gern anders sein als gängige Klischees, solange er - als Hauptfigur - eine Figur ist, mit der ich sympathisiere. Den ich verstehe.

Z. B. Dan Wells Hauptfigur in "Ich bin kein Serienmörder": Das ist ein Teenager, der das Bedürfnis hat, Leute umzubringen. Definitiv kein netter Charakter, den man auf den ersten Blick mag. Warum aber lieben ihn die Leser: Weil er darum kämpft, diesem Drang nicht nachzugeben. Weil er versucht, das Richtige zu tun.

So wird aus dem eigentlichen Antihelden ein Typ, den man gern hat. Ein Held.

Was schwule Krieger angeht, nur so zur Info:

Richard Morgans "The Steel Remains" hat einen schwulen Krieger zur Hauptfigur. Das Buch ist frisch unter dem Titel "Glühender Stahl" bei Heyne herausgekommen und fällt in die Sparte "gritty fantasy" - also ein Subgenre, in dem man nicht mit einem schwulen Helden rechnet.

Trotzdem: da die Welt mehr von schwulen, maskulinen Helden braucht: ich bin auf dein Projekt gespannt! ;-)