Ich habe eine Zeit lang überlegt, ob ich hierzu etwas sagen soll, denn zu schweigen wäre so viel bequemer und einfacher und ich gehe nicht davon aus, wirklich vermitteln zu können, was mir an diesem Artikel von Herr Kordon und an dieser Diskussion solches Kopfzerbrechen macht. Es wird also wohl ein langer Beitrag werden, nachdem ich mit dem, was ich hier zu sagen habe, nach vier Seiten im Thread vollkommen alleine dastehe.
Vorausgeschickt: Ich kenne zwei Bücher von H. Kordon, beide in den achziger Jahren entstanden: "Die Roten Matrosen" und "Monsun oder der weiße Tiger". Und das sind großartige Jugendbücher. Wirklich spannend und informativ ohne den nervigen Zeigefinger.
Bei den Roten Matrosen geht es um eine Revolution, die den 1. Weltkrieg beendete und man wird in die Welt eines Arbeiterkindes eingeführt, spürt sein Frieren, seinen Hunger... Sehr gut.
Monsun spielt in Indien und wieder geht es um einen Jungen, der arbeiten gehen muss. Und wieder erfährt man, weil das Setting eben dort spielt, unaufdringlich etwas von dieser Kultur.
In beiden Büchern lernen diese Arbeiterkinder, aufrecht zu stehen und sich nicht unterkriegen zu lassen.
Auch vorausgeschickt: ich war einige Jahre in der politischen Jugendarbeit engagiert und das war eben auch in diesen achziger Jahren (ja, dazu bin ich alt genug). Auch Arbeiterklasse, Bildungsarbeit.
In den zwei Büchern von H. Kordon, die ich gelesen habe, sehe ich genau diesen Anspruch: die Augen zu öffnen und Jugendliche dazu zu bringen, für sich selbst einzustehen und etwas besseres aus ihrem Leben zu machen.
Es gibt ja noch mehr Jugendbuchautoren dieser Generation, die einen solchen Anspruch haben.
Nehmen wir diesen Artikel aus Zeit-online mal als das, was er ist: kurz
Und nehmen wir dann einmal an, dass er vor allem gelesen werden sollte, also reißerisch sein musste.
Dann nehmen wir die Tatsache an, H. Kordon hat mehr als drei Aussagen getroffen, von denen in diesem Artikel keine weitere Platz gefunden hat (natürlich weiß ich das nicht, aber man kann ja wohl davon ausgehen, dass er nicht nur Bruchstücke herauslässt) - und dann nehmen wir an, durch Herausschnippeln von bestimmten Passagen aus einem Kontext kann man Meinungen lenken.
Kann man dann so ohne weiteres hergehen, und diesen Artikel als Wahrheit ansehen und einen Schriftsteller dafür verdammen?
Was er über die Masse an Unterhaltung minderer Qualität im TV sagt, ist ja mal Tatsache. Natürlich gibt es immer noch gute Sendungen, aber viel mehr Schrott unter der Gürtellinie, als noch vor 20 Jahren. Das ist unbestritten.
Dann gibt es natürlich momentan einen Fantasy-Boom im Jugendbuchsektor und daneben gehen die aufrüttelnden Bücher unter. (Gut, kann ich verstehen, ich lasse mich auch gerne unterhalten und mache einen Bogen um Jugendproblembücher und ich schreibe solche auch nicht. Wobei die 2. o.g. Bücher von H. Kordon keine Jugendproblembücher sind und trotzdem aufrütteln.)
Und dann meint H. Kordon diese wirklich unglückliche Formulierung "so ein HarzIV-Kind" vielleicht gar nicht abwertend, sondern als Sinnbild für diese Kinder der Arbeiterklasse, die er in seinen Büchern so gerne aufrüttelt und dazu bringt, zu kämpfen, nicht aufzugeben, aufrecht zu stehen und etwas aus ihrem Leben zu machen.
Und dann denkt er vielleicht, - ich meine, aus dem Artikel geht ja nun wirklich nichts hervor und wenn man in die von der "Zeit" gelenkte Richtung spekulieren darf, dann darf man es ach in andere Richtung, - durch die momentane Berieselung im Fernsehen und im Buchmarkt werden sie dazu nicht genug angespornt, sondern eher noch von ihren Möglichkeiten abgelenkt, als darauf hingewiesen.
Hat er damit tatsächlich so unrecht?
Und dann hat dieses Zitat (ich denke, es ist kurz genug, um es posten zu dürfen)
"Ich stelle mir so ein Hartz-IV-Kind vor, das
nur Geschichten über Prinzessinnen und Drachen liest und die Wirklichkeit völlig ausblendet."
plötzlich einen ganz anderen Hintergrund. Vor allem, wenn man das NUR betont. Wenn dieser Mann annimmt, die Leute, die momentan heranwachsen, machen keine politische Bildung mehr durch, werden nicht gefördert, nicht zu selbstständigen, kämpfenden Menschen heranerzogen, sondern zu Konsumenten ohne Widerspruch, dann ist seine Sorge berechtigt.
Und nein, damit sage ich nicht, dass es genauso ist und unsere Jugend nur konsumiert. Wirklich nicht! - Aber das momentane TV-Programm und die am meisten beworbenen Bücher lassen diesen Eindruck entstehen.
Dann wollte er (wie gesagt mit der Betonung auf
nur) nicht hetzen, sondern aufrütteln und erreichen, dass es mehr gibt als Unterhaltung, eben auch Unterhaltung, die einem vor einem realen Hintergrund die Möglichkeit der Selbstbehauptung aufzeigt und Mut macht.
Gut, ich bin Fantasy-Autorin, ich weiß, dass es sehr viele F-Bücher gibt, in denen genau das versucht wird: Küchenjunge muss die Welt retten...
Aber ein Mann wie Klaus Kordon wünscht sich vielleicht einfach nur, dies vor einem realen Hintergrund zu tun, um Jugendlichen, die benachteiligt sind, einen etwas konkreteren Weg zur Selbstverwirklichung aufzuzeigen, als ein Schwert und einen Zauberer, die einen dazu anleiten, mit einem magischen Artefakt die Welt vorm Bösen zu retten.
Wie gesagt, ich kenne nicht mehr als diese 3 Aussagen in dem Zeit-online-Bericht, genau wie alle anderen. Aber es ist möglich, dass H. Kordon es gut gemeint hat und dass diese Ausschnitte aus seinen Aussagen nur wieder eine Meinungsmache sein sollten, um die Leserzahlen und damit die Werbeeinnahmen zu erhöhen. Es verkauft sich besser, jemanden über einen derzeitig beliebten Bereich lästern zu lassen, als all seine Aussagen zu drucken und ihn verstehen zu können.
Und das sollte uns bewusst sein, bevor wir uns dazu benutzen lassen, diese Hetz-Maschinerie anzukurbeln. Solange man nicht wirklich weiß, was hinter diesen Aussagen steckt, sollte man nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen. Umgekehrt würde es uns auch nicht gefallen, wenn man 3 Aussagen von einem von uns aus einem Kontext herausschnippelt und damit eine Hexenjagd startet.
So, dieser Beitrag hat jetzt wahrscheinlich die Höchstlänge überschritten.

Viele Grüße,
Karin