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Fantasy-Literatur = Realitätsflucht?

Begonnen von Ary, 16. September 2008, 11:51:03

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Aithoriell

Ich möchte zu diesem Thema mal etwas grundsätzliches beisteuern und möglicherweise neue Anregung zu weiterer Diskussion geben. Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, in dem Lesen keine besonders große Rolle spielte und spielt. Aber als meine Mutter bemerkte, wie leicht mir das Lesen (später auch Schreiben) fiel und wieviel Spaß es mir bereitete, versorgte sie mich immer mit Büchern. Zuerst die gelben Schneider-Leselernbücher und später wurde mein Geschmack spezieller und ich liebte Märchen, besonders die von Wilhelm Hauff und Hans-Christian Andersen. Später kamen die antiken Heldensagen dazu. Da frage ich mich jetzt zuallererst mal - und gebe damit den ersten Diskussionsansatz - was ist dies anderes als Fantasy? Es sind die klassischen Geschichten, die auch von Literaturkritikern geschätzt werden. Warum also ist Fantasy nicht gut für die Entwicklung eines Kindes?
Heute winkt meine Mutter - die die "Geister" ja selbst rief! - ärgerlich ab und spricht abfällig von den "unrealistischen Märchen" die ich lese. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann aber mir haben die Märchen bei der Prägung meines moralischen Charakters wohl geholfen. Die Kirche oder eine religiöse Erziehung generell hätte mir gar nicht so viel gebracht. Sie hätte mir nur die - unsinnige - Unterscheidung zwischen vermeintlich Gut und vermeintlich Böse beigebracht. Durch Märchen und antike Heldensagen habe ich mir mein eigenes Bild gemacht. Nämlich, das in jedem vermeintlich bösen Menschen möglicherweise ein aus seiner Sicht ehrenvolles Prinzip hinter seinem Handeln stand. Und andersherum tun Menschen, die vermeintlich gut sind, verabscheuungswürdige Dinge, um ihre Ziele zu erreichen.
Gute Fantasy hat auch heute noch diese Motive. Solche Motive finde ich häufig in der High Fantasy. Andere Fantasy-Arten dienen mehr der Unterhaltung (aber das ist nur meine Meinung).
Mich stört der zunehmende Anteil der Kinder- und Jugendliteratur in der Fantasy. Für Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren ist das Genre Fantasy in meinen Augen noch zu komplex. Im übrigen wird heute wirklich alles als Fantasy bezeichnet, was keinen Bezug zur Realität hat. Die japanischen Mangas und Animes haben nun gar nichts mit der Fantasy zu tun, die ich schätze und liebe. Durch die Hektik und Überzogenheit in der Darstellung der Figuren tritt die Handlung teilweise gänzlich zurück, die von den jungen Zuschauern meist ohnehin nicht erfasst werden könnte. Da werden Sendungen nur konsumiert aber nicht verarbeitet.
Was will ich zusammengefasst eigentlich sagen?
Nun, es gibt jedenfalls keine "schlechte" Fantasy aber man sollte den kulturellen Hintergrund nicht außer Acht lassen. In Europa dienen seit Jahrhunderten die Märchen und Sagen der moralischen Entwicklung eines Kindes. Wenn man später Fantasy liebt, was ist dabei?
Japanische und chinesische Traditionen können von unseren Kindern hier mit all ihrer Symbolik gar nicht richtig erfasst und verstanden werden. Deswegen meine ich, dass man sehr stark differenzieren muss. Dazu gehört aber auch, dass Eltern sich selbst mehr mit diesen Themen auseinandersetzen.

Coppelia

#76
Da muss ich ja noch mal glatt mit diskutieren ... ;) Aber ich glaube, wir entfernen uns vom Thema.

Ich scheine in einigen Punkten nicht deiner Meinung zu sein, aber vielleicht hast du es ja anders gemeint, als es beir mir ankommt.

Das Argument, dass antike Sagen Fantasy seien, wird gern gebracht. Ich bin selbst Fachfrau für antike Sagen. Ich denke, dass der Übergang zur Fantasy fließend ist, aber der Hauptunterschied ist sicherlich, dass diese Sagen zu ihrer Entstehungszeit (nicht zwingend in der Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden) für wahr gehalten wurden. Selbst diejenigen, die in ihrer Bearbeitung schon nicht mehr für wahr gehalten wurden - wohl so ziemlich alle römisch bearbeiteten Texte wie die Aeneis - stecken voller komplexer Symbolik und einer Wahrheit, die über den bloßen Text und die Handlung hinausgeht. Das trifft natürlich auch auf andere Bücher zu. Und im Vergleich zu chinesischen oder japanischen Texten sollen diese Geschichten für ein Kind also einfach genug sein? Ich kenne mich zwar nicht übermäßig gut aus mit der japanischen Mythologie, aber ich weiß, wie komplex der griechisch/römische Mythologie-Teil ist. Du schreibst ja selbst, dass du als Kind nicht abgeschreckt wurdest, diese Texte zu lesen, und so ging es mir auch. Natürlich habe ich nicht die gesamte Symbolik verstanden, und mir geht noch heute oft ein Licht auf. Aber ich denke, auch als Kind hat man ein gewisses Gespür für Texte. Michael Ende sagt ja (zu Recht, meiner Ansicht nach) "Kinder sehen mit dem Herzen". Einerseits sagst du also, Sagen wären Fantasy und du hättest sie als Kind mit Erfolg gelesen, andererseits meinst du, für Kinder wäre Fantasy nichts? Habe ich dich da falsch verstanden?

ZitatNun, es gibt jedenfalls keine "schlechte" Fantasy
Ist das dein Ernst? Was ist denn mit den Schwarz-Weiß-schlagdieorkstot-Geschichten, durch die das Genre seinen schlechten Ruf bekommen hat? Und dabei handelt es sich doch um sogenannte "Erwachsenen"fantasy.

Und dann sagst du noch, dass die Entscheidung zwischen Gut und Böse unsinnig ist.
ZitatAber gerade dadurch Durch Märchen und antike Heldensagen habe ich mir mein eigenes Bild gemacht. Nämlich, das in jedem vermeintlich bösen Menschen möglicherweise ein aus seiner Sicht ehrenvolles Prinzip hinter seinem Handeln stand. Und andersherum tun Menschen, die vermeintlich gut sind, verabscheuungswürdige Dinge, um ihre Ziele zu erreichen.
unterscheidest du doch zwischen Gut und Böse, und auf eine Weise, die mir auch sehr sinnvoll erscheint.
Aber gerade die antiken Heldensagen fördern dieses Bild eigentlich nicht. Wenn doch, hast du wahrscheinlich eine Bearbeitung mit christlichem Einschlag gelesen, in der "unmoralisches" Verhalten verurteilt wird. Gerade in der frühen Epik wie der Ilias kommt dergleichen aber praktisch überhaupt nicht vor. Da metzelt der Held Diomedes den alten wehrlosen Seher nieder - und es wird festgestellt, nicht verurteilt. Der fromme Aeneas hat eine Affäre mit Dido und lässt sie dann sitzen, weil die Götter es ihm befohlen haben. Jupiter sieht Frauen, die ihm gefallen, und vergewaltigt sie (viele Bearbeitungen sprechen hier von Liebe). Hinter diesen Geschichten steckt ein vollkommen anderes Moralsystem als unseres, das vor allem vom Christentum beeinflusst ist. Ich denke, dass die antiken Sagen einen hellen jungen Kopf mit Bearbeitung und vor unserem christlichen Moralsystem lehren können, was hässlich und was heldenhaft ist, weil sie zum Nachdenken anregen können. Aber das gesellschaftliche und moralische System, das sie einmal vermitteln wollten (z. B. die Aeneis will das auf jeden Fall) ist nicht unseres (Aeneas tut ständig Dinge, die ihm widerstreben, weil es sein göttlicher Auftrag ist). Daher können die Originaltexte dadurch einen Denkanstoß geben, dass sich ihr Hintergrund von dem uns bekannten unterscheidet.

"Mein" Epiker Lucan, der allerdings keinen Mythologiestoff bearbeitet, setzt moralische Maßstäbe an, die uns nicht so fremd erscheinen. Ich glaube aber, dass das "Problem" darin liegt, dass wir vermeintlich ähnliche Denkstrukturen schnell auf unser eigenes Weltbild übertragen "Lucan sagt, Krieg sei schlimm, das finde ich auch, also denkt er modern, genau wie du und ich". So lässt sich das schnell in Gedanken zusammenschustern, nur leider funktioniert das so nicht. Wenn man genauer hinsieht, werden einem die Unterschiede auch klar.

Man muss auch kein Christ sein, um am christlichen Wertesystem teilzuhaben. Das lässt sich quasi nicht vermeiden.

Chuck

#77
Zitat von: CoppeliaMan muss auch kein Christ sein, um am christlichen Wertesystem teilzuhaben.

:vibes: Schöne Worte.

Was Coppelia so schrieb, würde ich direkt unterschreiben. Die Wahrnehmung alter Sagen, Legenden und Geschichten können teils sehr wahrhaftig von der Realität abweichen.

Zitatdass diese Sagen zu ihrer Entstehungszeit (nicht zwingend in der Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden) für wahr gehalten wurden.

Das fällt ja unter anderem auch auf Homer zu. Homer und andere Quellen lagen bereits zum Hellenismus Jahrhunderte zurück und man musste sich seinen Teil zurecht reimen. Und selbst dabei hat ja nicht jeder Mensch das selbe darüber gedacht. Gotteskritik, wenn auch nicht wie in heutiger Form, gab es ja schon damals. Für diese Leute wären Oddysee und Ilias vermutlich Fantasy gewesen, für die anderen nicht.

Allerdings ist es tatsächlich das Christentum bzw. (besser) das Christen Dasein, durch das viele Dinge außerhalb des Kontextes betrachtet werden, da wir uns noch mitten drin befinden. Zumindest in der Masse.

Und das Prinzip von Gut und Böse wird vor allem auch durch die Götter selbst maßgeblich verwischt. Zur Not reicht da schon der Blick auf Disneys Herkules (ich kenn aber auch andere Quellen :) ), um zu sehen, dass es vorwiegend die Götter waren, die wie Arschgeigen lebten, oder wie die Menschen. Zeus war ja auch kein Couchpotatoe, wenn es um Frauen ging. Solche Thematiken lassen sich dann zwar nicht bei Tolkien finden, aber zum Beispiel in Poul Andersons das zerbrochene Schwert. Da haben sich beide, fast zur selben Zeit, den selben Quellen bedient, aber ganz unterschiedlich ausgeführt.

Oder um es für mich auf einen Punkt zu bringen:
Orks und Elben sind Fantasy, die Muppets hingegen nicht, denn die gibt es (doch hoffentlich) wirklich. :)

Linda

#78
Hi,

eine schöne Abhandlung, Coppelia. (Ich finde, du hättest dir langsam den Titel "Alte Lateinerin" verdient).

Trotzdem denke ich, dass Sagen, Mythen, Legenden, Märchen und gut gemachte Fantasy einen innere Kern in uns ansprechen, jenen, der das "Wunderbare" mag oder wahlweise auch das "Fürchterliche". Ich meine, Geschichten zu rezipieren und sich darin teilweise wiederfinden / hineinträumen usw, ist etwas zutiefst menschliches, das uns immer begleiten wird.
Geschichten wären nicht so lange und so getreu überliefert worden, wenn sie nicht (über ein beispielsweise erzieherisches Motiv hinaus) ein Bedürfnis stillen würden.
Ob es nun das "innere Kind" ist, oder das kollektive Unterbewusstsein, das von Archetypen angesprochen wird - Geschichten bleiben auf ihre eigene Weise wahr.
Man kann mythologische Texte fast immer auf mehreren Ebenen lesen (wie gute Literatur), Kinder etwa verstehen dann eben nur den Teil, der ihrer Erfahrung entspricht.

Man mag sie aus literaturwissenschaftlicher Sicht ungerne alle in einen Topf werfen, aber letztlich sind sie doch ein "Teil der Suppe" (um mal Tolkien zu zitieren; sinngemäß aus: "Über Märchen")
Und die Autorenintention fällt ja eigentlich immer zugunsten der Lesersicht weg, (außer in lieblos gegebenem Deutschunterricht) von daher ist es "egal", warum jemand schreibt (wahre Historie, erbauliche Götteranekdote, dramatisierte Heldengeschichte, um die Abkunft des Königshauses direkt von den Göttern darzulegen), wichtig ist, was ankommt!
Und da funktionieren altägyptische Zaubermärchen tatsächlich für einen modernen Leser immer noch - ob die nun damals an Ra und Isis glaubten, oder nicht.

Gruß,

Linda Budinger

Coppelia

Zitat(Ich finde, du hättest dir langsam den Titel "Alte Lateinerin" verdient).
:vibes: :innocent:

Yamuri

ZitatWas meint ihr dazu?
Ist das Lesen phantastischer Literatur Realitätsflucht? Führt das Lesen von Fantasy zu Realitätsverlust? Was haltet ihr von diesem "Hartz IV-Kind"-Beispiel? Wären nicht, wenn es denn tatsächlich so ist, alle Menschen von diesem Realitätsverlust durch Fantasy betroffen?

Wie definieren wir Realität? Ich denke davon hängt die Antwort auf die Frage ab. Was können wir, basierend auf unseren Erfahrungen und unserem individuellen Weltbild, ausgehend von unserer Persönlichkeit als unsere Wahrheit akzeptieren? Wenn wir die Geschichte betrachten, so erkennen wir, dass Menschen vor 200 Jahren einen Computer für Magie gehalten hätten, wenn ein Zeitreisender ihnen einen solchen vorgesetzt hätte. Sie hätten sich damals gar nicht vorstellen können, dass es Computer, Mobiltelefone und dergleichen geben könne. Ein Mensch der darüber geschrieben hätte, wäre als Phantast bezeichnet worden, als jemand, der Realitätsflucht betreibt. Denn das, was die Mehrheit der Menschen damals als Wahrheit akzeptieren konnte, basierte auf dem, was wie mit ihren Sinnen wahrnehmen konnten. Es scheint mir auch heute noch so zu sein. Die Menschen akzeptieren das, was sie mit der heutigen Naturwissenschaft beweisen können. Alles andere ist imaginär und wird sehr schnell als reine Phantasie abgetan.

Ich denke nicht, dass Fantasy Realitätsflucht ist. Ich denke genau umgekehrt. Fantasy bedeutet wir erweitern unseren Horizont, wir erlauben uns andere Seinsebenen zu ergründen, erlauben uns zu träumen, erlauben uns der Möglichkeit, der Idee Raum zu geben. Wir blicken über unseren Tellerrand hinaus, wir hören auf in Grenzen zu denken. Die physisch erfahrbare Realität oder das was herkömmlicherweise als Realität bezeichnet wird, begrenzt den Raum, begrenzt unser Denken und verhindert damit, dass wir über uns hinauswachsen und das Unmögliche Wirklichkeit werden lassen. Für mich sind tatsächlich alle Geschichten Teil einer wesentlich größeren Wirklichkeit, die den Menschen, die sich der Fantasy oder die Science Fiction verwehren, eben verborgen bleibt. Für mich ist das keine Realitätsflucht, es ist eine Erfoschung des unbekannten Landes unserer Phantasie, die Erforschung von Wundern, die Hoffnung in die Welt bringen können, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben zu wachsen.

Insofern nein, das Lesen von phantastischer Literatur ist keine Realitätsflucht. Es ist ein aufbrechen dessen, was die Gesellschaft noch nicht für möglich hält, was in einem anderen Universum, einer parallelen Erde jedoch erfahrbare Realität sein könnte. Uns fehlen die Mittel das nachzuweisen. Aber das bedeutet nicht, dass diese Parallelwelten deshalb nur eine Illusion sind. Es bedeutet nur, wir haben bisher keine Möglichkeit physisch in diese Welten zu reisen und zu beweisen, dass es mehr gibt, als wir derzeit beweisen können. Als Autor*in können wir zumindest im Geist in diese Welten reisen und über sie berichten.

Darüber hinaus finde ich diese Sichtweise von Fantasy einfach wesentlich spannender und faszinierender, als ein Weltbild, das nur das als Wirklichkeit zulässt, was wir beweisen können. :)
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Amanita

#81
Ein interessantes Thema, das ich mir jetzt auch mal komplett durchgelesen habe. Danke fürs Hochholen, @Yamuri.
Ich muss zugeben, dass ich etwas unangenehm überrascht war, dass sich ausgerechnet Klaus Kordon damals in dieser Form geäußert hat. Ich habe nämlich als Kind und Jugendliche mehrere seiner Bücher gelesen und sie haben mir sehr gut gefallen. Das waren zur deutschen Geschichte "Mit dem Rücken zur Wand" und "Der erste Frühling" und außerdem noch "Wie Spucke im Sand" über ein Mädchen in Indien, das von Gewalt gegen Frauen betroffen ist. Hier würde ich aber fast vermuten, dass das nach heutigen Vorstellungen von Antirassismus als problematisch eingestuft werden würde.
Ich habe die Bücher eigentlich nicht als die nervige Betroffenheitsliteratur empfunden, die es auch gibt. (Das Antidrogenbuch "Die Einbahnstraße" allerdings schon.) Wobei mir die "Kinder von Schwevenborn" und "Die Wolke" zum Glück erspart geblieben sind. Ersteres habe ich mal in einer Buchhandlung angelesen und das hat mir schon gereicht.

Bei Kordon hatte ich aber angesichts der Bücher schon den Eindruck, dass er politisch sehr deutlich links steht, vielleicht kommt da auch noch ein darin begründetes Problem mit "kommerzialisierter" Fantasy dazu. Vielleicht auch irgendwelche Gedanken in die Richtung, dass Fantasy als eine Art Brot und Spiele wirkt, die die Leute von der Revolution abhält. ;)
Selber habe ich als Kind und Jugendliche sehr querbeet gelesen. Da waren wie schon gesagt Bücher wie von Kordon dabei, aber natürlich auch Fantasy, Märchen, Sagen, Tiergeschichten, später dann schwerpunktmäßig mit Pferden ;)
Wenn Kinder nur einseitig ein Genre lesen, ist das sicherlich nicht ideal, aber meiner Meinung nach trotzdem wesentlich besser, als wenn sie gar keine Bücher lesen. Selbst das schlechteste (professionell lektorierte) Buch schult nämlich Rechtschreibung und Grammatik und macht die Kinder im Umgang mit Sprache sicherer. (Ich habe praktisch durch Harry Potter Englisch gelernt und bin durch die Beschäftigung mit den Büchern auf Englisch von einer drei auf eine eins gekommen.)
Da habe ich neulich einen ziemlich erschreckenden Beitrag gehört, wie viele Kinder nach der Grundschule noch gar nicht richtig lesen und schreiben können. Da hilft dann auch das kitschigste Drachen- und Prinzessinenbuch.

Zum Thema Realitätsflucht finde ich auch, dass ein gewisses Maß normal ist und auch auf andere Art, beispielsweise durch exzessive Fußballbegeisterung gelebt werden kann. Wenn das überhand nimmt, liegt das aber nicht am Medium oder Thema, um das es geht, sondern die Probleme sind andere und müssen von Eltern oder Lehrern angegangen werden, anstatt etwas zu verbieten, ohne dass sich die Gesamtsituation ändert.
Grundsätzlich finde ich beispielsweise Liebesromane mit toxischen Beziehungsverhältnissen, die romantisiert werden, deutlich gefährlicher als Fantasy, denn dort ist klar, dass es nicht real ist, während diese Liebesromane unter Umständen als Muster für tatsächliche Beziehungen genutzt werden. Oder auch verniedlichende Tiergeschichten, die nicht das reale Verhalten der Tiere widergeben und dann zu gefährlichen Situationen oder zumindest zu nicht artgerechter Haltung führen.

Gerade Harry Potter, was ja zur Eröffnungszeit des Threads groß in den Medien war, hat ja auch ziemlich viele realistische Elemente drin. Themen wie Mobbing, soziale Ungleichheit, mangelnde Pressefreiheit, Korruption etc. kommen da ja durchaus auch vor. Da finde ich eine gewisse Distanz durch eine Fantasywelt gar nicht schlecht. Wie an anderer Stelle schon erwähnt, glaube ich auch, dass das einen erheblichen Beitrag zur Popularität von Harry Potter geleistet hat.
(Ich mag ja auch grundsätzlich lieber die Fantasy mit mehr Bezug zur heutigen Realität als möglichst realistische Mittelalterdarstellungen...)

Trippelschritt

Für mich ist ganz klar das Lesen von Belletristik bis auf ganz seltene Ausnahmen Realitätsflucht. aber auch noch eine ganze Menge mehr als das. Wir betreten eine andere Welt, die eines Serienmörders, eines Privatdetektivs, eines Bankers, eines Taxifahrers, einer frisch verliebten jungen Frau ... Ach was weiß ich. Und wenn wir das tun, verlassen wir mit unseren Gedanken die Realität. Desgleichen tun wir bei einem Kinobesuch, Theaterbesuch, dem Besuch eines Konzerts etc.

Was ist daran verwerflich? Selbst wenn ich nachdenke, verlasse ich die Realität. die lenkt nur ab vom Wesentlichen.
Warum das gerade bei Fantasy immer wie ein Vorwurf klingt, ist für mich schwer zu verstehen. Ein Drache ist auch nicht realtätsfremder als ein TV-Kommissar.
Und wer glaubt, es gäbe keine Magie oder keine Elfen, der ist ein Ignorant und liest auch keine Lyrik.

Unter den Psychologen unter uns: Gibt es in der Psychologie Untersuchungen zur Magie? Dort würde dieses Thema hingehören. Aber ich bin zu wenig vom Fach, um eine Übersicht über deren Forschungsthemen zu haben.

Ich weiß jedenfalls, warum ich Fantasy schreibe. Um der Realität wegen.

Trippelschritt

Anne C. S.

Irgendwie bin ich über diesen Thread gestolpert und möchte auch gerne mal meine Meinung dazu beitragen.

Für mich ist Lesen ganz allgemein - ob Fantasy oder nicht - in gewisser Weise Realitätsflucht. Für einen kurzen Moment vergesse ich die Welt um mich herum und versinke in die Abenteuer und Geschichten der Protagonisten, lache und weine und fürchte mich mit ihnen.

Aber ich finde Trippelschritts Kommentar hierzu vollkommen richtig:

Zitat von: Trippelschritt am 16. Dezember 2019, 17:08:11

Was ist daran verwerflich? Selbst wenn ich nachdenke, verlasse ich die Realität. die lenkt nur ab vom Wesentlichen.



Was ist daran verwerflich?
Nur weil wir gerne in fremde Welten eintauchen, bedeutet das ja nicht, dass wir in der unseren nicht mehr lebensfähig sind. Teilweise haben die Bücher mir sogar etwas gelehrt, was ich in meinen realen Alltag einbringe.
Und Fantasie macht das Leben doch so viel schöner, oder nicht?  :)

Antennenwels

Zitat von: Anne C. S. am 14. Mai 2020, 11:22:12

Für mich ist Lesen ganz allgemein - ob Fantasy oder nicht - in gewisser Weise Realitätsflucht. Für einen kurzen Moment vergesse ich die Welt um mich herum und versinke in die Abenteuer und Geschichten der Protagonisten, lache und weine und fürchte mich mit ihnen.
[...]

Was ist daran verwerflich?
Nur weil wir gerne in fremde Welten eintauchen, bedeutet das ja nicht, dass wir in der unseren nicht mehr lebensfähig sind. Teilweise haben die Bücher mir sogar etwas gelehrt, was ich in meinen realen Alltag einbringe.
Und Fantasie macht das Leben doch so viel schöner, oder nicht?  :)

Ich stimme dem vollkommen zu. Unterhaltung jeglicher Art ist eine Realitätsflucht, das trifft auf Romane genauso zu wie Filme, Spiele etc. Was nicht heisst, dass wir nicht auch mehr davon mitnehmen für unser eigenes Leben.
Ich finde es gibt auch ein sehr schönes Zitat von GRR Martin (aus A Song of Ice and Fire):
Zitat"A reader lives a thousand lives before he dies, said Jojen. The man who never reads lives only one."
"You still prided yourself on three things: firstly, bloody-minded composure; secondly, an inhuman intellect for necromancy; thirdly, being very difficult to kill."

- Muir, Tamsyn. Harrow the Ninth

Anne C. S.

Zitat von: Antennenwels am 14. Mai 2020, 12:52:17
Ich finde es gibt auch ein sehr schönes Zitat von GRR Martin (aus A Song of Ice and Fire):
Zitat"A reader lives a thousand lives before he dies, said Jojen. The man who never reads lives only one."

Das ist ein wirklich schönes Zitat und trifft auf jeden Fall zu!  :vibes:

Schneerabe

Ich denke bei so etwas gerne mal an Jordan Peterson, falls den wer kennt. Ein Zitat von ihm das ich sehr mag ist sinngemäß: "Geschichten sind Meta-Wahrheiten, sie sind mehr als wahr, sie sind das Leben wenn man es all seiner Banalitäten und Belanglosigkeiten beraubt." Wer sich jetzt mal Regeln der Dramaturgie ins Gedächtnis ruft, mag zustimmen...

Peterson steht mit solchen Aussagen in der Tradition vn Mythenforschern wie C. G. Jung und Joseph Campbell (Archetypen und Monomythos für Kenner  ;)) Die haben den Zyklus von Geschichten an sich gewissermaßen als Persönlichkeitsentwicklung gelesen. Also als eine dramatisierte Form von ja einem Individuum das Probleme löst, sich verändert und - weiser und stärker als vorher zurück in seinen Alltag geht nachdem das Problem bewältigt wurde... In dieser Hinsicht sind Geschichten gewissermaßen Simulationen von Handlungsmustern die dem Leser an verschiedenen Charakteren vorgeführt werden un ihm so mögliche Lebensentwürfe anbieten bzw. ihm zumindest eine vage Ahnung davon geben was passieren könnte, wenn er sich in einer gewissen Weise verhält. (das man zb nicht fröhlich wird wenn man das verhalten eines Voldemorts an den Tag legt mit all seinen antisozialen Persönlichkeitsstörungen... das ist denke ich keine so falsche Lektion? xD)

Diese Lesart ist natürlich recht psychologisch. Was Fantasy persé angeht so sehe ich sie persönlich in der Tradition alter Mythen verhaftet. Die Verwendung von Folklore, Mythen und Märchenwesen wie Drachen ist für mich nichts weiter als das nutzen einer sehr alten Symbolsprache, die auf etwas verschnörkelte aber dafür auch eindrücklichere Weise Sachverhalte ausdrücken will und kann, besser als das heutzutage mit unserer klaren, wissenschaftlichen Sprache geht.

--> Man könnte zu jemandem mit einem Zwangsneurose entweder sagen: der hat eine Zwangsneurose. Oder man umschreibt seinen Zustand symbolisch-metaphorisch mit: Dieser Mensch ist von einem Dämon besessen, der ihn gegen seinen Willen dazu bringt, x,y zu tun. Ich finde zweitere Beschreibung durchaus treffend und sehr viel bildlicher als erstere - es ist wie gesagt eine Metapher, aber eine gute, wie ich finde und so betrachte ich viele Elemente, die in der Fantasy noch und früher in Mythen Verwendung fanden. Sie gehören zu einer sehr alten Sprache, die heute nicht mehr wirklich verwendet wird.

Also ist Fantasy Realitätsflucht? Ich würde eher sagen, wir haben uns irgendwann entschieden, unsere Realität zu beschneiden, indem wir uns im Zuge des neuzeitlichen Wissenschafts-Enthusiasmus von der alten Symbolsprache abgewandt haben...  Aber wenn man mal historisch zurückguckt sind Mythen (Fantasy!) die älteste Form von fiktiven Geschichten die ich kenne und erscheinen damit eher eine menschliche Konstante zu sein, die zu unserem Wesen dazugehört als sonst irgendwas;D
"To hell or to Connacht."

Snöblumma

Zitat von: Anne C. S. am 19. Mai 2020, 10:25:21
Zitat von: Antennenwels am 14. Mai 2020, 12:52:17
Ich finde es gibt auch ein sehr schönes Zitat von GRR Martin (aus A Song of Ice and Fire):
Zitat"A reader lives a thousand lives before he dies, said Jojen. The man who never reads lives only one."

Das ist ein wirklich schönes Zitat und trifft auf jeden Fall zu!  :vibes:

Ist nicht nur schön und trifft zu, sondern ist wohl auch wirklich so. Ich habe auf die Schnelle nur noch Zusammenfassungen der Studien ergoogelt (hier zum Beispiel), aber die Hirnforschung sagt meines Wissens, dass beim Lesen ungefähr dieselben Areale aktiviert werden, als würden wir die Handlung selbst ausführen. Sprich: Wenn der Charakter durch eine Tür geht, werden bei uns im Hirn die Teile aktiv, die wir aktivieren würden, wenn wir durch eine Tür gehen. Beim Fernsehen dagegen scheint das nicht so zu sein.

Das heißt am Ende natürlich nicht, dass wir auch tatsächlich durch die Tür gehen können, aber zumindest die Spuren im Hirn sind schon einmal da.  ;D

Das nur am Rande.

FeeamPC

Realitätsflucht ist ohnehin ziemlich relativ.
Nach den neusten Forschungen zu  Gehirn und Denken zimmert sich unser Gehirn ohnehin eine individuelle Vorstellung von Welt zusammen, die so weit gehen kann, dass sie manchmal sogar naturwissenschaftlich feststellbare Fakten ignoriert oder auf den Kopf stellt. Wenn also schon die Welt, in der wir leben, für jeden einzelnen von uns vermutlich allein aufgrund dieser Tatsache unterschiedlich ist, was ist dann wirklich Realität?
Und wenn für das Gehirn konstruierte Fakten zu fester Realität werden können (in vielen Versuchen nachgewiesen), kann dann für die Dauer des Lesens bei einem Buch, in dem man vollständig versinkt, nicht auch der Inhalt dieses Buches als Realität gelten?

Felix Fabulus

#89
Zitat von: Snöblumma am 19. Mai 2020, 11:34:16
Wenn der Charakter durch eine Tür geht, werden bei uns im Hirn die Teile aktiv, die wir aktivieren würden, wenn wir durch eine Tür gehen. Beim Fernsehen dagegen scheint das nicht so zu sein.

Interessant finde ich: Vom Träumen nimmt man Ähnliches an. Geschichten lesen/hören und Träumen könnten eine Art "Üben für die Wirklichkeit" sein. Interessant dazu: Jonathan Gottschall: "The Storytelling Animal"

https://books.google.ch/books/about/The_Storytelling_Animal.html?id=Gd3lT5yP3ZQC&redir_esc=y
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