• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Fünf Eckpunkte in einem Text

Begonnen von Judith, 03. August 2007, 21:53:13

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 4 Gäste betrachten dieses Thema.

caity

@ Lavendel: Ich bin leider nicht besonders Englisch begabt. Hast du auch irgendein Deutsches Beispiel?  :-[ Sonst versuch ich's mal, aber ... *räusper*
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Lavendel

Sorry, ich guck irgendwie schon automatisch auf Englisch... hier noch mal der vergleichbare Artikel auf Deutsch. In diesem Zusammenhang besonders interessant der Abschnitt 'Wirkung'

http://de.wikipedia.org/wiki/Die_satanischen_Verse

caity

Hallo Lavendel,

okay, ich habe den Text jetzt gelesen, bin mir aber nicht ganz sicher, in wieweit das jetzt die Aussage (Alles, was man in einen Text hineininterpretiert, ist dort auch zu finden) gefährlich macht. Zumal du es eigentlich schon selbst sagst:
Zitatalles, was ein Individuum in einem Text findet auch wirklich da ist!

Das habe ich nämlich gar nicht behauptet und würde ich auch nicht behaupten. Ich behaupte lediglich, dass das, was ich hineininterpretiere, darin zu finden ist, andererseits hätte ich es nicht finden können.
Letztendlich liegt es dann an mir, ob ich das gefundene als einzig richtige Wahrheit sehe - was imho *immer* falsch ist - oder ob ich zulasse, dass es auch andere Bedeutungen haben könnte. Ich denke das wäre die schlimmere Behauptung, die eine solche Folge heraufbeschwören würde:
"Das, was ich in dem Text gefunden habe, ist wirklich das, was der Text aussagen will."
Das würde ich niemals behaupten. Alles, was ich sage ist, dass unbewusst/zufällig Anspielungen darauf in den Text hineingekommen sind und diese zu finden waren, als ich es hineininterpretierte, klar? ;)

Bye
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Lavendel

Erstmal: Bitte zitiere keine unvollständigen Sätze! Das verändert den Sinn doch ungemein.
Der Originalsatz lautete nämlich:
ZitatLies folgenden Artikel aufmerksam, und wirst vielleicht verstehen, warum es ziemlich gefährlich ist zu behaupten, dass alles, was ein Individuum in einem Text findet auch wirklich da ist!
Du hast nur den letzten Teil zitiert, um deine eigenen Aussagen zu belegen. Damit drehst du mir quasi die Worte im Mund um.

Nun ja, zum Rest:
ZitatWas ist an der Aussage: Alles, was man in einen Text hineininterpretiert, muss darin auch in irgendeiner Weise zu finden sein, falsch???
.
Salman Rushdie hat nie die Absicht gehabt, den muslimischen Glauben zu diffamieren und grundsätzlich schlecht zu machen. Trotzdem glauben eine Menge Leute, das stehe in seinem Buch. Deiner Aussage nach ist  The Satanic Verses deshalb aber zwangsweise ein anti-muslimisches Buch, weil jemand diese Haltung darin gefunden haben will.

ZitatZumal du es eigentlich schon selbst sagst:
Zitat
alles, was ein Individuum in einem Text findet auch wirklich da ist!

Das habe ich nämlich gar nicht behauptet und würde ich auch nicht behaupten.

Entschuldige, aber du hast es behauptet.
Nochmal:
ZitatWas ist an der Aussage: Alles, was man in einen Text hineininterpretiert, muss darin auch in irgendeiner Weise zu finden sein, falsch???
.

Das kam von dir, caity. Ja, von dir.

Ich kriege grade das Gefühl, dass es völlig sinnlos ist, mit dir zu diskutieren. Ich versuche die ganze Zeit über sachlich zu bleiben. Das solltest du auch.
Es ist keine Schande, eine Meinung zu ändern, aber so zu tun, als hätte man eine andere Meinung niemals vertreten halte ich - entschuldige - für reichlich feige. Niemand ist perfekt. Jede/r kann sich irren. Und keine/r kann alles wissen.

caity

Hallo Lavendel,

ach herrje. Du verstehst mich vollkommen falsch. :(

Erstmal: Ich hatte nur den letzten Teil zitiert, weil nur er von Bedeutung war, aber ich hätte es auch genausogut im ganzen Satz zitieren können. Wichtig ist, dass du nicht die beiden Verben "hineininterpretieren" und "finden" sondern "finden" und "da sein" einander gegenüber gestellt hast, was ich nicht getan habe.

ZitatSalman Rushdie hat nie die Absicht gehabt, den muslimischen Glauben zu diffamieren und grundsätzlich schlecht zu machen. Trotzdem glauben eine Menge Leute, das stehe in seinem Buch. Deiner Aussage nach ist  The Satanic Verses deshalb aber zwangsweise ein anti-muslimisches Buch, weil jemand diese Haltung darin gefunden haben will.

Nein. Meiner Aussage nach, sind anti-muslimische Anzeichen in dem Buch zu finden, weil sie jemand gefunden hat, aber sie sind nicht zwangsläufig dort drin, weil sie jemand gefunden hat. ;)

ZitatDas kam von dir, caity. Ja, von dir.

Und der Satz ist so auch nicht falsch:
ZitatAlles, was man in einen Text hineininterpretiert, muss darin auch in irgendeiner Weise zu finden sein
Es ist aber eine gänzlich andere Aussage als deine:
"Alles, was in einem Buch zu finden ist, ist auch darin vorhanden."
Das habe ich nämlich nicht behauptet.

ZitatIch versuche die ganze Zeit über sachlich zu bleiben. Das solltest du auch.

Entschuldige. Ich versuche natürlich sachlich zu bleiben. Momentan sehe ich auch nicht, wo ich das im vergangenen Post nicht gewesen bin. Trotzdem: Entschuldigung.  :seufz:

ZitatEs ist keine Schande, eine Meinung zu ändern, aber so zu tun, als hätte man eine andere Meinung niemals vertreten halte ich - entschuldige - für reichlich feige.

Naja, wie gesagt, die Meinung, die ich geäußert habe, vertrete ich. Die, die ich nie geäußert habe, werde ich sicherlich nicht vertreten, es sei denn, ich bin dieser Ansicht ;)
Wenn ich meine Meinung ändere, werde ich dir das mitteilen und zwar genau so *gg*

Bye
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Lavendel

 :seufz:

Wie sagte Lomax so schön: Wir haben wohl kein gemeinsames Vokabular für diese Diskussion.

Zum einen diskutieren wir nun wirklich nicht mehr die fünf Eckpunkte, zum anderen scheinen wir wohl völlig aneinander vorbei zu reden.

Das ist jetzt der Punkt, an dem ich definitiv aus der Sache aussteige. Bevor wir uns hier noch viel mehr verrennen.

Lomax

Zitat von: caity am 09. August 2007, 20:55:01Ich behaupte lediglich, dass das, was ich hineininterpretiere, darin zu finden ist, andererseits hätte ich es nicht finden können.
Das ist aber gerade das Problem - dass nämlich zumindest ich unter "hineininterpretieren" verstehe, dass man Dinge in einem Text "findet", die dort eben nicht sind. Um es mal an einem vereinfachten Beispiel darzustellen:

Für mich stellt sich der Diskussionsverlauf nämlich so dar, als hättest du in deiner ersten Aussage gesagt: "In jedem Garten ist ein Schatz zu finden."
Darauf antwortete ich: "Das stimmt nicht."
Und darauf du: "Das stimmt schon - denn wenn man wirklich einen Schatz finden will und sich gründlich genug umschaut, wird man auch in jedem Garten auf etwas stoßen, das man als Schatz ansehen kann."

Und damit hast du in gewisser Hinsicht recht, nämlich aus Sicht der Psychologie und allgemeinen Lebenshilfe. Weil ja ein Schatz etwas sehr persönliches sein kann, und die Schatzsuche somit ein Akt der Selbstfindung.
  Nur kann ich mich mit der Antwort nicht abfinden, weil ich halt über Gärten und Schätze reden wollte und das nur dann einen Sinn macht, wenn man eine gemeinsame, allgemeine Vorstellung von Schätzen hat  - und sich der Frage zuwendet, ob das, was nicht persönlich, sondern gemeinhin als "Schatz" bezeichnet wird, in Gärten zu finden ist. Und ich glaube, die meisten haben deine ursprüngliche Aussage auch in diesem Sinne aufgefasst.

Und damit kommen wir wieder von Gärten und Schätzen auf das komplexe Feld der Literatur:
Zitat von: caity am 09. August 2007, 12:27:49Mmh. In gewisser Weise sagt es aber auch etwas über das Objekt aus. Nämlich das, was das Subjekt in ihm sieht.
Dann war mein Fehler, dass ich über Literatur reden wollte und nicht über Selbstfindungsprozesse beim Lesen. Und ich muss zugeben, dass ich aus dieser Perspektive auch gar nicht über Literatur reden will. Weil das nämlich den Text und die Kunst zu einem hilflosen Opfer des Lesers erklärt, ohne eigenen Wert und eigene Aussage.

Zitat von: caity am 09. August 2007, 12:27:49Keine zwei Menschen sind gleich. Folglich sind auch keine zwei Wahrnehmungen gleich.
Da hast du eine sehr wahre Aussage zitiert - aus der allerdings nicht zwangsläufig deine Schlussfolgerung zu ziehen ist. Jeder Leser nimmt einen Text anders wahr - trotzdem gibt es Verfahren zum textgerechten Verständnis, indem sich nämlich die Interpretation im Rahmen eines "hermeneutischen Zirkels" in Zwiesprache zwischen Leser und Text vollzieht. Ganz im Gegensatz zum "Reininterpretieren", das ein Zuschwallen des Textes durch den Monolog des Lesers darstellt.

Genau dieses korrekte Entwickeln des Textverständnisses im Rahmen des hermeneutischen Zirkels war Inhalt der von mir oben angesprochenen Unterrichtseinheit. Ich kann das hier im Forum nicht vermitteln. Da es aber eine Unterrichtseinheit fürs 10. Schuljahr war, bin ich davon ausgegangen, dieses Verfahren als gemeinsame Basis für Textarbeit voraussetzen zu können. Sogar angesichts deines oben von dir angesprochenen Alters.
  Ich weiß nicht, ob dieser Bereich der Textarbeit bei euch einfach nicht sauber unterrichtet wurde, ob du ihn falsch verstanden hast oder ganz bewusst beschlossen hast, bestimmte Aspekte davon für dich persönlich abzulehnen. Ich persönlich habe eher das Gefühl, dass nichts dergleichen der Fall ist und du dich derzeit einfach in einer Abwehrhaltung verrannt hast und verzweifelt versuchst, dir das, was du weißt, so zurechtzubiegen, dass du dich damit verteidigen kannst. Aber letztlich spielt das keine Rolle.
  Wichtig ist nur eins: Dass du es mit deinen "Sonderdefinitionen" von Begriffen und dem Rückzug auf persönliche Wahrnehmung dir selbst schwer machst, mit anderen über Texte zu reden. Und dass du durch dieses Lavieren und Rumdefinieren und die Rettungsversuche an Nebenschauplätzen letztlich schon ganz vernebelt hast, was im Kern deiner Aussagen tatsächlich nützlich und hilfreich und vielleicht auch für andere interessant war. Und das finde ich schade, weil ich tatsächlich denke, dass dieses Schema für die Dramaturgie von Romanen ein hilfreiches Werkzeug darstellen kann - das du gerade im Begriff bist, kaputtzureden.  >:(

Lomax

Damit hier am Ende nicht nur seitenlanges ot-Geplänkel um Nebenfragen steht, will ich noch mal an das "5-Punkte-Schema" erinnern und mich nun doch an eine entsprechende Aufteilung des HdR wagen. Als Illustration, zur Diskussion, Einladung zum Widerspruch, konstruktiver Neuanfang oder was auch immer - jedenfalls zum Thema :)

Also, die Erzählstruktur des HdR, soweit man ihn als Frodos Geschichte betrachtet:

1. Auslösendes Element: Frodo erfährt, was der Ring wirklich ist.

2. 1. Plotpoint: Bruchtal - Frodo beschließt, die Verantwortung anzunehmen und den Ring zu tragen.

3. Midpoint: Frodo betrachtet die bisherige "Gruppenreise" als gescheitert und beschließt, seinen Weg allein zu gehen.

4. 2. Plotpoint: Frodo bei Kankra und den Orks - seine Stärke wird gebrochen

5. Schluss: Der Ring wird vernichtet - obwohl Frodo scheitert.

Folgende Szenen, die als Konkurrenz angesehen werden können, müssen vielleicht erklärt werden:

Tatsächlich ist Frodos Szene an der Furt eine seiner stärksten - aber es ist trotzdem kein "Wendepunkt", weil sich für Frodo vorher und nachher nichts ändert, sondern nur seine charakterliche Stärke und innere Kraft gezeigt wird, die Gandalf früher schon behauptet hatte. Es ist nur eine starke Szene zur Illustrierung des Charakters - wie andere auch: Frodo im Hügelgrab, Frodo auf der Wetterspitze (immerhin das einzige Ereignis neben dem Ringverlust, das bei Frodo "Spuren" hinterlässt) ...

Auch der Aufbruch aus dem Auenland und andere Szenen dazwischen mag mancher als "Wendepunkt" ansehen, oder vielleicht auch als späteres auslösendes Element - das trügt aber. In dem Moment, wo Gandalf den Ring enthüllt, ist festgelegt, dass etwas geschehen wird. Spätere Ereignisse kommen also als auslösende Elemente nicht mehr in Frage.
  Ferner ändert sich Frodos Verfassung von diesem Auslöser bis Bruchtal nicht wirklich - er reist zwar durch die Gegend, bleibt aber ein Getriebener und versucht, weitestgehend den Plänen zu folgen, die andere für ihn gemacht haben. Erst in Bruchtal trifft er bewusst die Entscheidung, sich der durch das auslösende Element aufgeworfenen Bedrohung zu stellen - nimmt also seinen Job als "Held" der Geschichte an.

Gandalfs Tod und andere Szenen ändern dann an Frodos Lage nicht viel. Ein Gruppenführer wird durch einen anderen ersetzt - aber Frodos Rolle und seine Ziele bleiben dieselben. Erst als er sich von der Gruppe trennt, ändert sich seine Rolle wieder - und zugleich endet sein alter Plan, der beim ersten Wendepunkt in Gang gesetzt wurde. Also kann nur Frodos Entschluss bei den Fällen als nächster Wendepunkt gelten.

Nach Kankra und den Orks hat Frodo die aktive Rolle, die er bei den beiden vorherigen Wendepunkten gezeigt hat, endgültig verloren. Er schleppt sich nur noch weiter und ist damit der klassische "Held am Boden" - die typische Konstellation für den letzten Wendepunkt. Nur dass der Held sich normalerweise im letzten Wendepunkt aufrafft, während die Veränderung für Frodo eben darin besteht, dass er geschlagen ist - was sich dann am Schluss zeigt, wenn offenbar wird, dass er die früher in "starken Szenen" demonstrierte innere Kraft verloren hat und den Ring nicht mehr ablegen kann.

Dorte

Tja, auch bei dir muss ich doch anmerken, dass es außer Frodo noch andere Figuren im Buch gibt, die ziemlich viel erleben. ;)
Da so ziemlich alle, die ich kenne, mit mir einer Meinung sind, dass der HdR nicht gerade ein normales Buch und mindestens streckenweise leicht chaotisch geschrieben ist, könnten wir uns einfach darauf einigen, dass dieses Buch als Beispiel für ein Plotschema denkbar ungeeignet ist. Noch ungeeigneter wäre da nur das Silmarillion. Wenn's Tolkien sein soll, dann doch am ehesten der Hobbit oder Roverandom, oder aber ganz wer anders.

Darf ich mal versuchen, ob ich das Schema verstanden habe? Anhand von "Wintersonnenwende" von Susan Cooper.
1. Auslösendes Element: Will erfährt, dass er einer der Uralten und der Zeichensucher ist.
2. Will stellt sich seiner Aufgabe und versucht, die Zeichen an sich zu bringen.
3. äh...
4. Die Welt versinkt im Chaos, der Reiter scheint zu triumphieren.
5. Schluss: Die Zeichen werden zusammengeschmiedet.
Wie man da jetzt die ziemlich wichtige Hawkin-Merriman-Sache reinbringen soll, weiß ich allerdings nicht. Denn die hat mit Will ja nichts zu tun.
Und da liegt glaub ich generell meine Hauptkritik an dem Schema: es ist nach meinem Verständnis anhand dieses Threads sehr auf eine Hauptfigur ausgelegt und muss scheitern, sobald wichtige Dinge abseits dieser Perspektive passieren.

Maran

Versucht den "Herrn der Ringe" mal aus der Perspektive von Aragorn zu analysieren ... (Kleiner Tip am Rande)

Hr. Kürbis

Man kann auf jeden einzelnen Charakter von HdR dieses Schema anwenden, hätte ich jetzt Zeit und müsste nicht zur Arbeit, dann würde ich mich daran versuchen... So kann ich mich aber ins Bad flüchten und dann ein bisserl schneller in die Pedale treten, denn eigentlich müsste ich schon weg sein...

Vielleicht heute Abend?

Dorte

Aber es kann doch nicht Sinn eines Textanalyse-Schemas sein, wenn man das Schema nicht auf den Text, sondern auf eine bestimmte Figur darin anwenden muss. Da kommt man ja bei jedem Text auf zig Muster.

Lomax

Zitat von: Dorte am 09. August 2007, 23:17:05
Da so ziemlich alle, die ich kenne, mit mir einer Meinung sind, dass der HdR nicht gerade ein normales Buch und mindestens streckenweise leicht chaotisch geschrieben ist, könnten wir uns einfach darauf einigen, dass dieses Buch als Beispiel für ein Plotschema denkbar ungeeignet ist.
Ein ungewöhnliches Buch sicher - immerhin hat er ein neues (Sub)genre eröffnet und wäre sonst auch nicht so erfolgreich gewesen. Dass er deshalb schlecht zu analysieren wäre, stimmt allerdings nicht - immerhin lebt ja die ganze Literaturwissenschaft davon, ungewöhnliche Werke in ihre ganz gewöhnlichen Bestandteile zu sortieren und selbige dann in die passenden Schubladen abzulegen ;)

Der Herr der Ringe ist für Strukturanalysen sogar besonders gut geeignet. Das ist kein Zufall, und auch ein bisschen mehr als "unbewusstes" Konzeptionieren vom Autor - Tolkien war Altphilologe, und gerade in seinem klassizistisch geprägtem Zeitalter hatten solche formalen Strukturierungen in der akademischen Welt einen noch sehr viel höheren Stellenwert als heute. Man kann also davon ausgehen, dass er die damals bekannten Schemata für Textstrukturen nicht nur während seines Studiums auswendig gelernt, sondern sie für seine Arbeit auch weitestgehend verinnerlicht hatte. Das moderne "5-Punkte-Schema" gehörte wohl nicht dazu, ist aber letztendlich auch nur eine Ableitung von klassischeren Einteilungen, und dass Tolkien sich von denen frei machen konnte, ist stark zu bezweifeln.
 Dementsprechend hat der Herr der Ringe viele Figuren, viele Nebenerzählstränge und andere Elemente, aber jeder für sich ist hochstrukturiert und alles andere als chaotisch. Es ist ungefähr so chaotisch wie ein Ameisenstaat - der ja auch von außen betrachtet so wirkt, aber sehr gut organisiert ist, wenn man die einzelnen Wirkabläufe verfolgt.

Ansonsten ist der HdR sogar leichter zugänglich, als manch modernes Werk. Denn es gibt tatsächlich Bücher mit mehreren gleichberechtigten Hauptfiguren - aber beim HdR gibt es eine klare hierarchische Struktur der Figuren. Zunächst einmal ist das Buch an sich eine Geschichte über die Reise des Rings zu seiner Zerstörung. Und Frodo ist die einzige Figur, deren Geschichte so ziemlich genau mit diesem zentralen Plot parallel läuft - er begleitet den Ring vom Anfang der Geschichte bis zum Ende; er hat vor dieser Reise nicht viel gemacht; und danach auch nicht mehr viel. Frodo ist also tatsächlich die eindeutig herausgehobene Hauptfigur.
 In zweiter Linie ist es eine Geschichte der Hobbits. Man merkt das sehr deutlich an den Perspektiven des Buches, die immer dann bei den Hobbits bleiben, wenn es auch nur die geringste Möglichkeit dazu gibt. Auch die Hobbits begleiten die Reise des Rings vom Anfang bis zum Ende - aber ihre Geschichte reicht darüber hinaus, was sie letztlich zu untergeordneten Hauptfiguren macht.
 Alle anderen Charaktere sind letztlich (so sympathisch sie einem auch sein mögen, und so wichtig ihre Rolle im Buch) nur wichtige Nebenfiguren. Aragorn, Gandalf, die restlichen Gefährten sowieso - sobald ein Hobbit da ist, rücken diese Figuren von der Erzählperspektive her automatisch in den Hintergrund. Zudem haben sie in ihrer Entwicklung eigene Handlungsbögen, die irgendwann in die "Ringreise" eintreten und sie dann auch wieder verlassen - aber vorher und nachher weitergehen.
 Es mag aus vielerlei Hinsicht interessant sein, sich mit den anderen Figuren zu befassen - aber Frodos "Weg" überspannt als einziger auch den zentralen Handlungsstrang des Buches, die "Queste" um den Ring. Ich würde Frodos Weg durchaus als "Rückgrat" des Buches ansehen - und daher als sehr gutes Beispiel für Plotschemata.

Tolkien war eigentlich derjenige, der die Fantasy in die Moderne geholt hat. Er selbst stand mit den Füßen in den alten Erzähltraditionen, in der Welt der Sagen und nordischen Mythen. Und er selbst hat den HdR auch in dieser Tradition geschrieben. Was dann allerdings herauskam, war offensichtlich ein moderner Roman, der trotz archaischer Inhalte und Muster in der Erzählform auf dem Höhepunkt seiner Entstehungszeit war. Gerade deshalb ist es sehr interessant, seine formalen Übereinstimmungen mit aktuellen Strukturen zu betrachten.
 Dass sich trotz der traditionellen Orientierung von Autor und Werk das "moderne Drehbuchschema" schon recht gut in dem Buch nachverfolgen lässt, während umgekehrt die Abweichungen im Detail alle auf archaische Erzähltraditionen zurückzuführen sind, zeigt m.E. nach sehr gut, wie Tolkien dieser Brückenschlag zur "modernen archaischen Sage" gelungen ist.

Ich denke also durchaus, dass der HdR ein recht gut als Beispiel für strukturelle Analysen geeignet ist. Weil er Strukturen aufweist, und weil man aus dieser Analyse tatsächlich etwas über Erzählmuster und Wirkung lernen kann. Nicht zuletzt aber auch deshalb, weil vermutlich jeder dieses Werk kennt und mitreden kann. Was leider bei weniger bekannten Werken nicht der Fall ist: Sie mögen noch so gute Beispiele sein, und noch so richtig analysiert - wer das Buch nicht kennt, kann zu der Struktur nichts weiter sagen.
 Was bei mir und "Wintersonnenwende" leider der Fall ist. Und, ja, ich wurde gestern Abend schon geschlagen, weil ich diesen Kinderbuchklassiker nicht kenne. Weitere Schläge in diese Richtung sind also nicht nötig  :-[

Dorte

Strukturelle Analyse ist für mich aber etwas anderes, als ein Schema zu nehmen und zu gucken, ob es auf einen Roman passt. Für mich ist das eine Analyse des Textes, um daraus ein übersichtliches Schema zu entwickeln, dass auf diesen Roman passt...
Und zudem merkt man dem HdR deutlich an, dass er eigentlich eine Fortsetzung vom Hobbit war und sich erst später zum riesigen Epos weiterentwickelt hat.

Schlagen wollte ich dich nicht, ich habe einfach ein Buch genommen, was mich gerade aus dem Regal angeschaut hat - kann doch nicht jeder alles kennen. ;)

Lomax

Zitat von: Dorte am 10. August 2007, 10:31:22Strukturelle Analyse ist für mich aber etwas anderes, als ein Schema zu nehmen und zu gucken, ob es auf einen Roman passt. Für mich ist das eine Analyse des Textes, um daraus ein übersichtliches Schema zu entwickeln, dass auf diesen Roman passt...
Die strukturelle Analyse ist zunächst mal ergebnisoffen. Aber wenn man wiederkehrende Muster findet, kann man daraus ein allgemeines Schema ableiten - und dann wiederum prüfen, ob andere Werke ebenfalls diesem Schema folgen bzw. ob und wie sie davon abweichen. Für den Literaturwissenschaftler ist das Selbstzweck - aber dem Autor können solche Verallgemeinerungen nutzen, um auch die Wirkmechanismen und Möglichkeiten im eigenen Werk besser zu durchschauen.
Zitat von: Dorte am 10. August 2007, 10:31:22Und zudem merkt man dem HdR deutlich an, dass er eigentlich eine Fortsetzung vom Hobbit war und sich erst später zum riesigen Epos weiterentwickelt hat.
Der HdR "hat" sich nicht entwickelt, er "wurde" entwickelt - auch wenn Tolkien nicht von Anfang an das schreiben wollte, was er geschrieben hat, ist auch ein Werk wie der HdR letztendlich von einem Autor geschrieben worden und nicht aus sich selbst heraus entstanden. Und wenn man weiß, wie akribisch Tolkien gearbeitet hat, dann kann man auch davon ausgehen, dass am Ende alles halbwegs so dastand, wie er es stehen haben wollte.
  Natürlich kamen im Schreibprozess Dinge hinzu, mit denen er vorher nicht gerechnet hatte; und irgendwann musste er das Buch abgeben, obwohl er gerne noch weiter daran gefeilt hätte (geht es so nicht jedem Autor ;)). Aber bei allem, was nach dem geplanten Anfang noch hinzugekommen ist, hat Tolkien sich sehr genau überlegt, wie und wo er es einbaut. Und er hat mit Sicherheit auch mehrere Varianten für die Story durchprobiert, bevor er sich schließlich für diejenige entschieden hat, die man heute lesen kann.
 
Deine Formulierung zum HdR erinnert mich ein wenig an eine Rezension zu meinem zweiten Roman: Dort hatte ich früh einen als Hauptfigur aufgebauten Protagonisten sterben lassen. Man hat sehr deutlich gemerkt, dass viele Lieser bei diesem abrupten Umschlag in der Handlung einfach in die vorher eingeschlagene Richtung weitergelaufen sind und große Schwierigkeiten hatten, diese Wendung zu aktzeptieren. Und ein Leser meinte sogar, man hätte deutlich gemerkt, dass ich ursprünglich etwas anderes im Sinn gehabt hätte und sich dann "die Geschichte in eine andere Richtung entwickelt hat, als der Autor ursprünglich beabsichtigte".
  Aber das stimmte nicht. Gerade der Tod dieser Hauptfigur war von Anfang an geplant, er war genau so vorbereitet worden, wie er stattgefunden hat, und ich hatte ihn bewusst sogar in vorher gezeichneten Strutkurdiagrammen zum Romanaufbau an der bewussten Stelle platziert.

Ein Roman soll "mitreißend" wirken. Aber man sollte nicht leichtfertig daraus schließen, dass er selbst ein reißender Fluss ist, der sogar den Autor hilflos überrollt hat. Und ganz gewiss nicht Tolkien, der einer der akademischsten, detailverliebtesten und planungs- und hintergrundversessensten Autoren ist, den ich kenne. Auch wenn der HdR letztlich größer ausfiel, als ursprünglich geplant, war der Autor sicher dazu in der Lage, die zusätzliche Fülle so zu strukturieren, wie es seiner Meinung nach der Geschichte angemessen war.
  Ich denke also, man sollte nicht zu viel über die Entstehungsumstände eines Werkes spekulieren, sondern es einfach so hinnehmen, wie es da steht. Und dann sehen, was man aus dem Text "rausholen" kann. Also, anstatt darüber zu grübeln, ob Genese und Komplexität des Werkes nicht eine Strukturierung von vornherein verbieten - warum nicht einfach anhand des Textes beurteilen, ob die angebotene Strukturierung sinnvoll ist, ob Passagen übersehen wurden, die in dem Zusammenhang von Bedeutung sind; ob Dinge übersehen wurden, die die Struktur relativieren etc.?