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Figuren mit Persönlichkeit statt langweilig oder platt

Begonnen von Cailyn, 24. Februar 2016, 09:43:06

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Feuertraum

Zitat von: Cailyn am 07. Juli 2016, 08:26:31
Daruk ist unser Hinkebein mit bestimmtheit ein anderer als er es ohne Hinkebein wäre. Zunächst einmal aus praktischer Sicht, aber auch von der Psyche her. Nehmen wir an, Hinkebein hatte einen schweren Reitunfall in seiner Jugend. Er wollte Reiter werden, musste aber diesen Traum aufgeben. Was löst das in ihm aus? Vielleicht wurde er neidisch auf die anderen. Vielleicht fühlt er sich wertloser als andere. Vielleicht musste er lernen, auch mit seiner Behinderung anders klar zu kommen. Da gibt es zig Möglichkeiten. Aber alle formen letzten Endes seinen Charakter. Und ich behaupte mal, dass diese Vorgeschichte ihn gerade interessant macht, um herauszufinden, ob er sich im Krieg behaupten kann. Da steht viel mehr für ihn auf dem Spiel als "bloss" das Überleben. Womöglich will er sich etwas beweisen, sich wetvoller fühlen, wenn er lebend aus diesem Kampf herauskommt. Das hat sehr wohl mit dem Plot zu tun, weil der Plot damit spannender wird. Je mehr auf dem Spiel steht, desto mehr Spannung kommt rein.

Und genau da haben wir ja wieder den Punkt, den ich so kritisiere. Dieses: Wenn der Prota "normal" ist, keine Behinderung hat, keine zerrüttete Kindheit, keine Drogenkarriere etc. pp., dann ist er austauschbar, langweilig, plotschädigend, eindimensional, das will keiner lesen, das ist doch höchstens ... bäh ... Heftromantauglich.

ZitatIch behaupte mal fech, dass das Hinkebein für 90% der Leser interessanter ist als ein x-beliebiger Krieger, dessen einzige Funktion es ist zu kriegen.

Ich erlaube mir einmal ein kleines, provokantes Gegenbeispiel. Fussballeuropameisterschaft 2016. Millionen von Deutschen hängen vor den Fernsehgeräten, liegen sich bei jedem Tor der DFB-Mannschaft in den Arm, feiern frenetisch jeden Sieg der Jungs von Jogi Löw, Gerstensaft fließt in Strömen, und egal ob die Fussballer gewinnen oder verlieren, man ist glücklich ob der Leistung der Spieler.
Nächsten Monat beginnt eine weitere Fussballmeisterschaft, nämlich die Paralympics, sprich der Sportler mit körperlicher und geistiger Behinderung. Was glauben Sie werden da die Fans der Deutschen Nationalmannschaft machen?
Jedes Tor, jeden Sieg feiern?
Unbedingt nach Hause eilen, um das Spiel zu sehen?
Wird es Public Viewing geben?
Ich habe mir mal den Gag erlaubt, und nach der letzten EM einige Menschen, die mit DFB-T-Shirt rumliefen, wie sie denn den Ausgang der Partie Deutschland gegen (keine Ahnung wer das war) tippen. Erstmal wurde ich angeguckt, als hätte ich völlig den Verstand verloren, schließlich sei kein Spiel angesagt.
Auf meine Erklärung mit den Paralympics kamen als Antworten:

- Das ist doch kein Sport
- Behindis? Das will doch keiner sehen! (der Satz kam übrigens von einer Frau!)
Eine der vernünftigsten Antworten: "Naja, eigentlich müsste man das schon verfolgen, aber ... naja ... mal sehen."
Und als Ausgleich: "Sie können einem aber die Freude am Fussball total vermiesen."

Und jetzt erklär mir einer bitte den Unterschied, warum ein behinderter Prota in einem Roman so viel Sympathie bekommt, behinderte Fussballspieler jedoch so wahnsinnig wenig positive Resonanz erhalten?
(Wobei ich die Antwort schon kenne: Das kann man nicht miteinander vergleichen, das ist doch was vollkommen anderes).

ZitatWas ich nicht so verstanden habe: Was meinen Sie mit Gefühl?
Mir den mehrdimensionalen Charakteren geht es nicht per se darum, dass Figuren ihre Konflikte mit Gefühlen lösen müsse. Aber das Gefühl soll beim Leser entfacht werden (Sympathie, Antipathie etc.).

Ja, das sehe ich ja auch so. Ich sehe es nur nicht ein, dass es grundsätzlich heißt, das können nur Protas, die so und so sind, die keine Otto-Normal-Verbraucher sind.

Zitat von: SiaraWichtiger ist mir aber etwas anderes: Das Geschehen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Durch die Augen eines anderen.

Und warum darf dass dann kein Thomas Lieven sein? Warum muss es Hinkebein sein? Warum ein Andreas Niedrig?

Zitat von: SiaraWenn die Figur keine Tiefe besitzt, kann sie auch auf spektakulärste Weise die Welt retten, ohne das ich auch nur einen Funken Bewunderung aufbringe.

Kommt für mich auf die spektakuläre Weise ein. McGyver zum Beispiel wäre für mich so eine Figur, bei der ich sage "Hut ab".

Zitat von: SiaraAber wenn Sie sagen, dass ein körperlich eingeschränkter Mann, der sich dennoch in den Krieg wagt und sich dort seinen Schwächen stellt, keine Persönlichkeit ist - was genau macht dann für Sie eine Persönlichkeit aus? Was genau bringt Sie dazu, die Figuren zu bewundern?

Bei Figuren selber ist es etwas schwierig. Aber einmal angenommen, es gäbe eine Zeitmaschine, mit der ich jene Menschen besuchen und "interviewen" könnte, die wirklich meine Bewunderung verdienen, dann wären das zum Beispiel der von mir schon genannte Mahatmha Gandhi, aber auch Martin Luther King oder Leonardo da Vinci. Ein kleines bisschen auch Salvador Dali.
Sie haben etwas - in meinen Augen zumindest - Außergewöhnliches geschaffen.
Nun wird vielleicht ein jeder sagen, dass aber auch diese Menschen durch Ereignisse geprägt worden sind. Natürlich, zweifelsohne. Aber es war nicht dieses Extreme, es war keine Behinderung, es war kein zerrüttertes Elternhaus, es herrschten keine Oliver-Twist-Bedingungen. Sprich: es ist nicht das, was laut Cailyn 90% der Leser lesen wollen.

Natürlich gibt es auch Menschen, die Herausragendes oder Berührendes leisten und dabei ziemlich viel Bescheidenes (höflich ausgedrückt) mitmachen mussten. Stephen Hawking zum Beispiel. Oder Anne Frank.
Wogegen ich mich jedoch wehre, dass ist der Tenor, dass Frank oder Hawking deswegen interessante Menschen waren/sind, weil sie eben viel Sch...e in ihrem Leben erleiden mussten, während Ghandi oder Martin Luther King  oder Leonardo da Vinci zwar auch einschneidende und prägende Erlebnisse hatten, aber eben nicht das Extreme und deswegen uninteressant, austauschbar, plotschädigend, eindimensional oder gerade mal Heftromantauglich sind.

Ich stehe dazu: Ich mag 08/15-Helden und ich mag ihre Geschichten erzählen, auch wenn sie nur 10% der Leser erreichen. Ich bin auch nur ein 08/15-Typ, und auch ich habe meine Geschichten. Und ich fände es traurig, dass meine Erlebnisse nur aus dem Grund uninteressant für andere sind, weil ich kein Hinkebein bin.


Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?

Churke

Zitat von: Mondfräulein am 07. Juli 2016, 13:02:19
Starke Situationen sind solche, in denen die meisten Menschen gleich handeln würden, weil es die soziale Norm so vorgibt, also beispielsweise eine rote Ampel für Autofahrer. Schwache Situationen geben weniger soziale Normen vor und interindividuelle Unterschiede kommen eher zum Vorschein.

Guter Gesichtspunkt.
Und richtig interessant wird es, wenn sich Figuren in starken Situationen gegen die sozialen Normen auflehnen. Die rote Ampel ist ja relativ unbelastet - aber wenn 99 Leute im Saal "Heil Hitler!" brüllen und der 100. steht auf und geht raus - dann wollen wir schon wissen, warum er das tut und was ihn von den 99 unterscheidet.

Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38
Ich stehe dazu: Ich mag 08/15-Helden und ich mag ihre Geschichten erzählen, auch wenn sie nur 10% der Leser erreichen. Ich bin auch nur ein 08/15-Typ, und auch ich habe meine Geschichten. Und ich fände es traurig, dass meine Erlebnisse nur aus dem Grund uninteressant für andere sind, weil ich kein Hinkebein bin.
Hm, irgendwie denke ich bei dem "Hinkebein" gerade an Long John Silver. Der ist ja die ambivalenteste Figur in der Schatzinsel, richtig dreidimensional. Die "Guten" sind aufrechte Männer und brave Burschen, die Schurken sind Klischee-Piraten, aber Long John Silver, der hat Stil...  :)

HauntingWitch

Diese Diskussion ist interessant, deshalb möchte ich auch meinen Senf dazugeben.  ;D

Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38
Bei Figuren selber ist es etwas schwierig. Aber einmal angenommen, es gäbe eine Zeitmaschine, mit der ich jene Menschen besuchen und "interviewen" könnte, die wirklich meine Bewunderung verdienen, dann wären das zum Beispiel der von mir schon genannte Mahatmha Gandhi, aber auch Martin Luther King oder Leonardo da Vinci. Ein kleines bisschen auch Salvador Dali.
Sie haben etwas - in meinen Augen zumindest - Außergewöhnliches geschaffen.
Nun wird vielleicht ein jeder sagen, dass aber auch diese Menschen durch Ereignisse geprägt worden sind. Natürlich, zweifelsohne. Aber es war nicht dieses Extreme, es war keine Behinderung, es war kein zerrüttertes Elternhaus, es herrschten keine Oliver-Twist-Bedingungen.

Ist das so? Wissen Sie das ganz genau? Gerade bei berühmten Persönlichkeiten sollte man da sehr vorsichtig sein. Wir wissen nicht, wie viel von dem, was wir über diese Personen zu wissen glauben, wirklich stimmt. Nehmen wir z.B. David Bowie. Der kommt anscheinend aus einem ganz gewöhnlichen englischen Middleclass-Haushalt, nichts Besonderes. Mutter hat viel gearbeitet, Vater auch, aber das war's dann. Keine Problemkindheit. Nur warum wird dieses gewöhnliche Kind, das ja so ein stabiles Leben hatte, zu einem Künstler, der ausgerechnet die Aussenseiter und jene, die eben ein schwieriges Leben hatten, anspricht? Was treibt einen Menschen, der vermeintlich nie Grund hatte, zu klagen (höchstens vielleicht über die Strenge in der Erziehung), dazu, solche Songs zu schreiben oder in diesem Fall auch, Bilder zu malen gegen die einige ziemlich düstere Fantasy-Künstler gleich "Planet Pink" auf ihre Sachen schreiben könnten? Nimmt Drogen und verliert sich in Eskapaden? Ein Kind aus einem völlig intakten Elternhaus tut das nicht.
Oder der Schlagzeuger von U2, kommt auch (und vermutlich sogar tatsächlich) aus einem völlig intakten Elternhaus. Ausser, dass seine kleine Schwester gestorben ist, als er ein Teenager war. (Später dann die Mutter, aber da hatte er schon die Band gegründet). Da kann man noch so liebevolle Eltern und Geschwister haben, das ist eine Menge zu verarbeiten für so einen jungen Menschen.
Ich kannte übrigens mal einen Jungen, der hat auch düstere Bilder gemalt. Kam angeblich aus der besten Familie der Welt und wurde von seinen Eltern geliebt. Glaube ich so nicht. Ich glaube, dass er glaubt, dass er aus einer guten Familie kommt. Aber es gibt so viele Dinge, die auf subtiler Ebene passieren, die sich im Unterbewusstsein verankern und schlimm sind. Auch wenn einem das als Betroffener nicht unbedingt bewusst ist oder - was häufig vorkommt - man es vor sich selbst und vor anderen verleugnet. Insbesondere berühmte Leute möchten ja vielleicht nicht der ganzen Welt auf die Nase binden, was wirklich in ihrem Elternhaus abgegangen ist. Deswegen kann man das nicht so genau sagen, denke ich.

Was ich damit sagen möchte ist, mir ist aufgefallen, dass sehr viele kreative Menschen (ich würde sogar sagen, die meisten, wenn nicht sogar alle) irgendwann in ihrem Leben schwierige Erfahrungen gemacht haben (und/oder darüber schreiben, was ja auch irgendwoher kommen muss. Nicht vom Werk auf den Autor schliessen lasse ich nicht gelten, die Interessen, die man hat, kommen irgendwoher). Das kann eine schwierige Kindheit sein (und das muss nicht gleich Oliver Twist oder etwas Extremes wie z.B. Missbrauch sein), das kann ein Unfall mit Folgen gewesen sein, das kann irgendetwas sein. Wenn z.B. jemand schon sehr jung häufig auf kleine Geschwister aufpassen muss, weil die Eltern arbeiten (müssen), hat das einen Einfluss auf den Charakter. Auch dann, wenn ansonsten alles in der Familie gut ist. Das ist aber etwas, was für Menschen, die selbst fast oder ganz noch Kinder sind, schwierig zu bewältigen ist.
Ich glaube, dass dieses Schwierige einen Teil des kreativen Antriebs ausmacht. Nun frage ich mich, finden wir als Autoren die, ich sag jetzt mal, schwierigen oder gebeutelten Charaktertypen nicht einfach deswegen interessanter, weil wir vielleicht selber so sind? Es gibt bestimmt viele Leser, die gerne über den "0815"-Typen lesen, die Frage ist eher, ist das unser angestrebtes Zielpublikum? Also meines ist es nicht.
Ihr Beispiel mit dem Fussball/den Paralympics @Feuertraum geht in das hinein, denke ich. Wer ist die Zielgruppe? Für die Paralympics interessieren sich andere Leute, als für die EM mit den gesunden Spielern (*Räusper* ob die das wirklich sind? *Räusper*). Genau so ist es doch bei Kunst auch. Gleich und gleich zieht sich an, Konsumenten (ob jetzt Leser, Musikfans, Kunstfreunde oder was auch immer) bevorzugen die Kunst, in der sie sich wieder erkennen. Ich denke, es ist auch ein bisschen eine Genrefrage. In der Fantasy bewegen sich nun einmal viele Leute mit schwierigem Hintergrund, die werden ja deswegen von der Fantasy mit diesem fast schon typischen "schwieriger Hauptcharakter = gutes Buch"-Credo angezogen. Aber schaut man mal auf leichte Frauenunterhaltung oder (nicht Fantasy) Liebesromane sieht das schon anders aus. Die Frage ist dann, wer das schreibt, wenn alle Kreativen selbst schwierige Leute sind, vermutlich solche, die das sehr gekonnt verbergen oder so... *Philosophie-Modus aus*

Dann stellt sich noch die Frage, was ist ein "0815-Charakter"? Alle Menschen sind einzigartig. Ich denke, was langweilige Leute von interessanten unterscheidet ist, dass man den Langweiligen ihre Einzigartigkeit kaum anmerkt, dass sie sich einer Norm anpassen und darunter alle ihre besonderen Eigenschaften/Vorlieben etc. begraben. Was wiederum bedeutet, dass ein "0815-Charakter" in einem Buch solche verborgenen Seiten hat. Und sagen Sie bitte nicht, aber was ist, wenn einer das eben nicht hat? Menschen ohne verborgene Seiten gibt es meiner Erfahrung nach nicht. Falls einem doch mal so ein Individuum begegnet, muss man nur abwarten, bis eine Ausnahmesituation passiert. Ich denke daher, dass ein Buch mit einem "0815-Charakter" durchaus auch gut sein kann, wenn er in Situationen kommt, in denen er eben gefordert ist und seine Schwächen oder verborgenen Seiten zum Vorschein kommen.

Araluen

#78
Wie viel Tiefe ein Charakter hat hängt nun auch nicht damit zusammen, wie stark er körperlich beeinträchtigt ist, welche sexuelle Orientierung oder Geschlecht er hat, sondern, dass er eine einzgiartige Persnlichkeit hat. Ebensowenig ergibt sich Dreidimensionalität einer Figur daraus, dass ich zu ihr aufblicken kann. Wäre ziemlich schade, denn die wahren Helden sind in der realen Welt auch recht selten. Folglich wären wir alle ziemlich eindimensional. Aber im Gegenteil, wir sind einzigartig, haben unser eigenes Leben und unsere eigenen Geschichten. So sollte es mit Romanfiguren auch sein. Sie sollten lebendig sein und damit ihre eigene Geschichte haben, die auch gerne allein der Autor kennen darf. Hauptsache er selbst weiß, wie und warum eine Figur auf eine bestimmte Situation reagiert. Kennt der Autor seine Figuren, kann er sie auch entsprechend authentisch darstellen und das ist für mich das wichtigste.
Eindimensional sind Figuren mit minimaler Persönlichkeit, die in standartisierten Mustern agieren: Großer Krieger zieht sein Schwert und schnetzelt alles nieder, was ihm vor die Füße läuft. Listiger Dieb hintergeht alles und jeden und kann seine Finger nicht bei sich behalten. Die kleine Emanze, die sich als Kriegerin aufspielt und mehr Mann als Wieb ist. Das Prinzesschen, das unbedingt gerettet werden will. Warum sie so sind? Weiß kein Mensch. Es entspricht einfach ihrer Rolle. Das können interesante Charaktergrundlagen sien, wenn man sie mit Leben füllt. Tut man das nicht, hat man einen eindimensionalen Schablonencharakter. Der Leser weiß schon im Vorraus, wie der Charakter reagieren wird, da er bestimmten Mustern folgt.
In diesem Moment wird Hinkebein im Krieg interessant. Denn er kann nicht wie Krieger Haudrauf einfach vorwärts stürmen und alles niederschnetzeln. Er muss sich andere Wege überlegen. Aber das würde genauso gut auch mit jedem anderen Charakter funktionieren. Warum nicht der Bauernjunge? Bisher hatte er ein völlig normales Leben und dann war er zur falschen Zeit am falschen Ort, wurde für die Armee verpflichtet und steht nun an der Front - so, da hat er schon seine kleine Geschichte. Der hatte bislang auch kein spannendes Leben. Dennoch ist seine Geschichte erzählenswerter als die von Haudrauf, der in seinen Mustern bleibt. Oder nehmen wir doch den Sohn aus einer Dynastie von Offizieren, der nun seinem Vater nacheifern möchte. Begleiten wir ihn doch in den Krieg. Wie wirkt sich der Erwartungsdruck seiner Familie auf sein Handeln aus? Will er wirklich Soldat werden? Ist er ein ehrgeiziger Schnösel, der sich für etwas besseres hält, weil ja schon Papa Offizier war? Viele Möglichkeiten, die sich zu einer Geschichte basteln lassen und neue Dynamiken erschaffen.
Eine Geschichte lebt von Konflikten, plotgemachte und charaktergenerierte, die die Figuren bewältigen müssen. Ein driedimensionaler Charakter kann mich hierbei überraschen. Bei einem eindimensionalen weiß ich schon im Vorfeld, was er tut.

Alles hat sein Publikum. Manchmal macht es einfach Spaß zuzusehen oder zu lesen, wie der Held sich durch die Reihen seiner Feinde sprengt ohne wirkliche Überraschungen, da der Charakter vorhersehbar ist. Manchmal muss man einfach entspannen. Deutlich interessanter sind zumindest für mich dreidimensionale Charaktere, die nicht aufgrund von Mustern, sondern aufgrund ihrer persönlichen Geschichte handeln.

Zum Fußballbeispiel: Das ist alles eine reine Frage des Marketings. Ob wir nun unseren Jungs oder den Mädels zuschauen, wie sie einem Ball nachlaufen oder bei den Paralympics reinschauen, hängt großteils vom Marketing ab. Schon Wochen vorher wird man überall damit beschallt, dass bald das Ereignis des Jahres losgeht - es ist Fußball! Die EM! Jippie! Das darf man nicht verpassen! Für die Damen und die Paralympics fehlt dieser ganze Medienzirkus völlig. Da wird im Nebensatz mal darauf eingegangen, dass es nun statt findet (wobei die Damen sich mitlerweile auch Kurzbeiträge und hin und wieder Einladungen ins Studio erarbeitet haben). Folglich geht das an einem auch total vorbei und wird nur am Rande wahr genommen. Das hat weniger damit zu tun, was interessanter ist, sondern wo Investoren ihr Geld lassen und ihre Werbung platzieren. Ich habe mir sagen lassen, dass gerade der Damenfußball wohl um einiges interessanter sein soll spielerisch. Trotzdem wird er nicht geschaut. Dass abwertend auf die Paralympics reagiert wird, hängt wohl auch damit zusammen, dass einem wieder medial das Ideal vom perfekten Körper vorgebetet wird. Nun ist die Gesellschaft endlich aufgeklärt genug körperlich beeinträchtigte Menschen zu akzeptieren. Aber dass diese Leute sich hinstellen und plötzlich Leistungen erbringen, die tatsächlich beeindrucken können - nun das befremdet wohl. Kann ich mir zumindest vorstellen. Interessant ist die Frage aber tatsächlich, wenn das eine nicht akzeptiert wird, wieso dann die Heldentaten von Hinkebein anscheinend als spannend gelten. Vermutlich, weil Romane Fiktion sind. Das passiert ja nicht wirklich so, alles Phantasie. Das menschliche Gehirn ist so gut darin, sich selbst zu betrügen. Wobei auch hier eher zu beobachten ist, dass Helden ihre Ecken und Kanten haben, aber insgesamt doch eher zu den Vorzeigeobjekten gehören. Und auch @Witch kannich zustimmen. Es kommt immer auf die Zielgruppe an.

Und es darf auch gerne mein Nachbar sein, der plötzlich in ein mitreißendes Abenteuer gerät oder zumindest eine interessante Geschichte erlebt. Solange er selbst seine Geschichte hat und nicht plakativ nach Muster A hindurch stolpert, ist er eine dreidimensionale Figur. Wenn er der eine unter 100 ist, der den Raum verlässt, dann ist das erzählenswert, auch wenn er sonst nur Schuhverkäufer ist, Frau und zwei Kinder hat und sonst auch nur auf ein normales Leben zurück blickt. Aber irgendwo wird die Ursache dafür liegen und das will der Leser erfahren.

Cailyn

Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38
Und genau da haben wir ja wieder den Punkt, den ich so kritisiere. Dieses: Wenn der Prota "normal" ist, keine Behinderung hat, keine zerrüttete Kindheit, keine Drogenkarriere etc. pp., dann ist er austauschbar, langweilig, plotschädigend, eindimensional, das will keiner lesen, das ist doch höchstens ... bäh ... Heftromantauglich.
Ich finde, da werfen sie den Blick immer wieder auf die Extremformen. Aber das Beispiel habe ich ja nur genommen, weil es sich anhand dessen etwas einfacher erklären lässt. Man könnte ja auch eine Figur erfinden, die keine Drogenprobleme, keine Behinderung hat und auch nicht aus armen Verhältnissen stammt. Auch so eine Figur sollte aber dreidimensional sein, um spannend zu sein und in der Geschichte Spannung erzeugen. Sie können auch den Krieger nehmen und ihn dreidimensional gestalten. Er ist stark, mutig und flink. Das genügt aber nicht. Vielleicht ist er zu waghalsig, so waghalsig, dass er sich überschätzt und sich in Situationen begibt, die andere nicht mehr nachvollziehen können. Peng! Da haben Sie Ihre dreidimensionale Figur, die schon mal besser ist als ein Krieger, der einfach kriegt.

Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38
Und jetzt erklär mir einer bitte den Unterschied, warum ein behinderter Prota in einem Roman so viel Sympathie bekommt, behinderte Fussballspieler jedoch so wahnsinnig wenig positive Resonanz erhalten?
Da schliesse ich mich Araluen an. Es geht ums Marketing. Würden die Paralympics für Behinderte gleich beworben, würde es sicher auch mehr angeschaut.
Aber man kann sich natürlich auch fragen, warum diese Wettsportart weniger beworben wird. Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.
Aber welches Zielpublikum schaut sich vor allem Sportsendungen an? Zu einem grösseren Teil Männer. Und wer liest Bücher? Momentan ist die Leserschaft zu 80% weiblich. Ich möchte diesbezüglich jetzt keine Verallgemeinerungen lostreten. Doch das Zielpublikum scheint bei Sportsendungen schon ein anderes zu sein als bei Büchern. Ob das die Frage beantwortet, keine Ahnung. War nur mal so ein Gedanke.

Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38Bei Figuren selber ist es etwas schwierig. Aber einmal angenommen, es gäbe eine Zeitmaschine, mit der ich jene Menschen besuchen und "interviewen" könnte, die wirklich meine Bewunderung verdienen, dann wären das zum Beispiel der von mir schon genannte Mahatmha Gandhi, aber auch Martin Luther King oder Leonardo da Vinci. Ein kleines bisschen auch Salvador Dali.
Auch hier: Es geht nicht um ein zerrüttetes Elternhaus per se, sondern um die Art, wie eine Person sich im Leben entwickelt. Das kann in der Kindheit gewesen sein, aber auch später. Und die Beispiele, die Sie anführen sind ja ziemlich starke Persönlichkeiten mit wuchtigen Kanten. Alle drei von Ihnen genannten haben sich gegen gesellschaftliche Normen gestellt. Mahatma Ghandi war äusserst stur, stoisch im Dienste seiner philantropischen Ideologie (Gleichheit der Menschen). Leonardo Da Vinci. Um diesen Mann ranken sich hunderte von Geschichten, von denen man ja nicht weiss, was ihn wirklich ausmacht. Aber mit Sicherheit war er kein eindimensionaler Mensch. Er wurde ja zu manchen Zeiten belächelt, verhöhnt und niedergemacht. Aber er blieb eigensinnig und folgte seinen Visionen. Wenn das mal keine Ecken und Kanten sind, mit welchen er sich durchs Leben gekämpft hat. Und Salvador Dali hier ein Auszug aus Wikipedia über Dalis Kindheit:
Salvador Dalí wurde in der Carrer Monturiol 20 in Figueres (Katalonien) als Sohn des angesehenen Notars Don Salvador Dalí y Cusí (1872–1952) und dessen Ehefrau Doña Felipa Domènech y Ferres (1874–1921) geboren und erhielt den Namen seines neun Monate zuvor gestorbenen Bruders Salvador I. (* 21. Oktober 1901; † 1. August 1903). Dadurch wurde in ihm der Wille geweckt, aller Welt zu beweisen, dass er das Original und einmalig sei. Als Kind soll er sich vor dem Grab seines Bruders gefürchtet haben.
Das bürgerliche Umfeld und die väterliche strenge Erziehung riefen in Salvador ein starkes Sicherheitsbedürfnis und einen ausgeprägten Sinn für Ordnung hervor, was für sein späteres Leben bestimmend sein sollte. Seine Mutter, die er sehr liebte, glich die Strenge des Vaters aus; sie tolerierte seine frühen Eigenheiten wie Wutausbrüche, Einnässen, Tagträume und Lügen.


Zitat von: Feuertraum am 08. Juli 2016, 11:05:38
Ich stehe dazu: Ich mag 08/15-Helden und ich mag ihre Geschichten erzählen, auch wenn sie nur 10% der Leser erreichen. Ich bin auch nur ein 08/15-Typ, und auch ich habe meine Geschichten. Und ich fände es traurig, dass meine Erlebnisse nur aus dem Grund uninteressant für andere sind, weil ich kein Hinkebein bin.
Wenn Sie damit zufrieden sind, dass Sie 10% erreichen, ist das ja auch völlig in Ordnung.
Aber auf Sie bezogen, kann ich es mir nicht verkneifen zu sagen, dass Sie auf mich alles andere als 08/15 wirken. Denn jemand, der in einem Forum unter Autorenkollegen die Form des Siezens bevorzugt, hat für mich schon mal etwas Besonderes  ;)

Abgesehen von all dem, denke ich, dass Sie da auch zwei Dinge vermischen. Es geht eben nicht per se um die zerrüttete Kindheit, sondern einfach um das Innenleben einer Person, das nicht eindimensional sein sollte. Dass man bei der Figurenerstellung daran denkt, warum Eigenschaften in einer Figur so entstanden sind, macht sie einfach authentischer. Und zweitens dürfen Sie Schein und Sein hier auch nicht durcheinanderbringen. Sie sagen, auch ein 08/15 wirkender Mensch kann besonders sein. Ja, klar. Das hat auch niemand anders behauptet. Aber es geht ja um das, was dahinter ist. So halte ich es auch, wie Witch es erklärt hat. Jeder ist irgendwie besonders. Es ist nur eher schwer, eine Figur in einem Buch zu wählen, die nach aussen total kantenlos wirkt und nur im Inneren dreidimensional ist. Um die Dreidimensionalität zu zeigen, sollten sich diese Eigenschaften natürlich schon nach aussen kehren.

Feuertraum

Zitat von: Witch am 08. Juli 2016, 13:04:08

Ist das so? Wissen Sie das ganz genau? Gerade bei berühmten Persönlichkeiten sollte man da sehr vorsichtig sein. Wir wissen nicht, wie viel von dem, was wir über diese Personen zu wissen glauben, wirklich stimmt. Nehmen wir z.B. David Bowie. Der kommt anscheinend aus einem ganz gewöhnlichen englischen Middleclass-Haushalt, nichts Besonderes. Mutter hat viel gearbeitet, Vater auch, aber das war's dann. Keine Problemkindheit. Nur warum wird dieses gewöhnliche Kind, das ja so ein stabiles Leben hatte, zu einem Künstler, der ausgerechnet die Aussenseiter und jene, die eben ein schwieriges Leben hatten, anspricht? Was treibt einen Menschen, der vermeintlich nie Grund hatte, zu klagen (höchstens vielleicht über die Strenge in der Erziehung), dazu, solche Songs zu schreiben oder in diesem Fall auch, Bilder zu malen gegen die einige ziemlich düstere Fantasy-Künstler gleich "Planet Pink" auf ihre Sachen schreiben könnten? Nimmt Drogen und verliert sich in Eskapaden? Ein Kind aus einem völlig intakten Elternhaus tut das nicht.
Oder der Schlagzeuger von U2, kommt auch (und vermutlich sogar tatsächlich) aus einem völlig intakten Elternhaus. Ausser, dass seine kleine Schwester gestorben ist, als er ein Teenager war. (Später dann die Mutter, aber da hatte er schon die Band gegründet). Da kann man noch so liebevolle Eltern und Geschwister haben, das ist eine Menge zu verarbeiten für so einen jungen Menschen.
Ich kannte übrigens mal einen Jungen, der hat auch düstere Bilder gemalt. Kam angeblich aus der besten Familie der Welt und wurde von seinen Eltern geliebt. Glaube ich so nicht. Ich glaube, dass er glaubt, dass er aus einer guten Familie kommt. Aber es gibt so viele Dinge, die auf subtiler Ebene passieren, die sich im Unterbewusstsein verankern und schlimm sind. Auch wenn einem das als Betroffener nicht unbedingt bewusst ist oder - was häufig vorkommt - man es vor sich selbst und vor anderen verleugnet. Insbesondere berühmte Leute möchten ja vielleicht nicht der ganzen Welt auf die Nase binden, was wirklich in ihrem Elternhaus abgegangen ist. Deswegen kann man das nicht so genau sagen, denke ich.

Zugegebenermaßen habe ich  mich jetzt auf Quellen verlassen, von denen ich nicht weiß, ob sie nun zu 100% wahr sind.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie etwas erreicht haben, das meinen allerhöchsten Respekt verdient.

ZitatDann stellt sich noch die Frage, was ist ein "0815-Charakter"?
Alle Menschen sind einzigartig. Ich denke, was langweilige Leute von interessanten unterscheidet ist, dass man den Langweiligen ihre Einzigartigkeit kaum anmerkt, dass sie sich einer Norm anpassen und darunter alle ihre besonderen Eigenschaften/Vorlieben etc. begraben. Was wiederum bedeutet, dass ein "0815-Charakter" in einem Buch solche verborgenen Seiten hat. Und sagen Sie bitte nicht, aber was ist, wenn einer das eben nicht hat? Menschen ohne verborgene Seiten gibt es meiner Erfahrung nach nicht. Falls einem doch mal so ein Individuum begegnet, muss man nur abwarten, bis eine Ausnahmesituation passiert. Ich denke daher, dass ein Buch mit einem "0815-Charakter" durchaus auch gut sein kann, wenn er in Situationen kommt, in denen er eben gefordert ist und seine Schwächen oder verborgenen Seiten zum Vorschein kommen.

Genau das ist es doch, was ich die ganze Zeit sage. Ein 08/15-Charakter ist ein Prota, der sich eben NICHT durch irgendwelche extremen Besonderheiten hervortut.
Nehmen wir zum Beispiel einmal die Figur der "Herrn Lehmann" des  auf verschiedenen künstlerischen Bereichen tätigen Sven Regener. Ich mag diese Figur, weil sie einfach so normal ist. Sie kommt in Situationen, die ein wenig ungewöhnlich sind, hat seine leichten Charakterzüge, ist mal wütend, mal traurig, mal fröhlich.
Das mag ich an dieser Figur.
Wenn ich jedoch die Argumente der Tintenzirkler lese, dann darf ich diese Figur nicht mögen. Sie ist langweilig, sie ist austauschbar, sie ist gerade mal gut genug für das Heftromanniveau (wobei ich auch schon Heftromane gelesen habe, die es locker mit der gehobenen Belletristik aufnehmen können, wenngleich, rar sind diese gesät, sehr sehr rar).
Nein, ich darf diese Figur nicht mögen, sie ist ja eindimensional.
Nehmen wir nochmal als Beispiel "Hinkebein". Bei ihm ist es ja nicht nur, dass er eine körperliche Beeinträchtigung hat, nein, zudem muss er auch noch Agoraphobie an den Tag legen UND sich seinen Ängsten stellen. Das, und nur das, macht die Dreidimensionalität einer Figur aus. Das, und nur das, sorgt dafür, dass sie bewundert werden kann, dass der Leser mit ihr leidet, mit ihr fiebert, ihr Sympathien oder Antipathien entgegenbringt.
Mir kommt es vor, dass ein Charakter eigentlich das sein muss, was eigentlich Hohn und Spott verdient: eine Charakterisierung a la Mary Sue/Garry Stu, nur halt in dem Sinne, dass der Prota ... ich sage mal vorsichtig ... glorifiziert wird, man ihn auf einen Sockel hebt und darauf abzielt, dass der Leser auf die Knie fällt und mit glänzenden Augen sagt: "Was für eine göttliche Figur!"
Dieses: Der Figur muss etwas Besonderes anhaften, das ist es, was ich kritisiere.

Zitat von: CailynWenn Sie damit zufrieden sind, dass Sie 10% erreichen, ist das ja auch völlig in Ordnung.
Aber auf Sie bezogen, kann ich es mir nicht verkneifen zu sagen, dass Sie auf mich alles andere als 08/15 wirken. Denn jemand, der in einem Forum unter Autorenkollegen die Form des Siezens bevorzugt, hat für mich schon mal etwas Besonderes

Das hat etwas mit meiner Vergangenheit zu tun. Aber das jetzt nur am Rande. Ich hatte es Araluen schon in einer PM erzählt: Ich hatte das Vergnügen, dass ich schon mal zwei Comedyauftritte auf Offenen Bühnen hingelegt habe. Für mich persönlich eine spannende Sache. Auch wenn Araluen meint, dass dies auch für andere Menschen interessant ist: Wenn ich jemanden davon erzähle, kommt ein knappes "Schön" oder "Klasse" oder "Aha." und das war es.
Kein "Erzähl mal, wie das war, was du gedacht hast, wie du drauf gekommen bist" etc. pp.
Einfach nur ein "Schön", und dann war Themenwechsel angesagt.
Und solche Erfahrungen zeigen mir, dass 08/15-Typen, also Menschen, die nicht durch gleich mehrere Besonderheiten auffallen, eindimensional, austauschbar und als langweilig eingestuft werden.

Ja, ich mag eher die Geschichte als solches. Wenn eine Kutsche im rasanten Tempo durch ein Schlagloch fährt, dabei ein Rad bricht, sich das Schlagloch entschuldigt und das Rad erklärt, dass es nicht so schlimm sei, schließlich mache das Schlagloch nur seinen Job, dann finde ich sowas toll und klasse und bekommt von mir ein Daumen rauf.
Und ich finde es schon schade, dass die Idee deswegen schlecht und langweilig und austauschbar sei, weil ja der Kutscher kein glorifizierender Charakter ist ...
Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?

Sipres

Ich hab das Gefühl, dass in diesem Thread ziemlich aneinander vorbeigeredet wird, deswegen möchte ich mich mal einmischen. Es gibt einen Unterschied zwischen langweilig/austauschbar und 08/15. Langweilig/austauchbar ist eine Figur, wenn sie keinerlei besondere Charaktereigenschaften und keine eigene Geschichte hat. 08/15 ist eine Figur, wenn sie ein Normalsterblicher mit normalen Stärken und Schwächen ist. Ein Otto-Normal-Bürger eben, der trotz allem eine eigene Lebensgeschichte hat und seine eigene Persönlichkeit. Und mit Persönlichkeit ist nicht immer eine große Persönlichkeit gemeint, sondern die Charakterzüge eines Menschen, da das hier ja auch schon verwechselt wurde.

Ich finde langweilige Charakter auch ätzend, aber 08/15 ist doch okay. Ein arbeitender Familienvater, der selbst eine gute Kindheit hatte, kann sich dennoch hervortun. Vielleicht ist er von seinem Job genervt (wie ein Großteil der Welt) und wenn er abends nach Hause kommt und total müde ist, spielt er trotzdem noch mit seinen Kindern, weil ihm seine Familie alles bedeutet. Das ist nicht außergewöhnlich, aber dennoch charaktersiert es diesen Mann und für eine Slice-of-Life-Geschichte ist das mehr als ausreichend. Aber selbst in anderen Genres kann man mit diesem einfachen Grundmuster arbeiten. Was, wenn seine Kinder entführt werden (Thriller)? Oder wenn ein Geist/Dämon eines seiner Kinder befällt (Horror)? Wie handelt dieser 08/15-Vater dann?

Kurz gesagt: 08/15 kann funktionieren, solange die Figur über die Persönlichkeit verfügt, die sich jeder Mensch (ich wiederhole: JEDER Mensch) im Laufe seines Lebens aneignet. Dann ist sie auch nicht mehr austauschbar, da alle Menschen einzigartig sind. Aber das nur meine Meinung.

Araluen

Ich glaube, es geht weniger darum, dass 0815-Figuren langweilig sind, sondern darum einen Weg weg von der eindimensionalen Charakterschablone, die nach Muster x agiert, hin zu einem dreidimensionalen Charakter mit Tiefe zu finden, dessen Handlungen durch seine Persönlichkeit bestimmt sind. Im einfachsten Fall sind das Ausnahmecharaktere wie Hinkebein. Aber auch hier muss man wieder darauf achten, nicht in generierte Muster zu verfallen. Figurenentwicklung ist eine schwierige Gratwanderung zwischen Klischees, Schablonen und Persönlichkeiten.
Am Anfang @Feuertraum klang Ihre Argumentation so, ehrlich gesagt, als wären Ihnen die Figuren egal. Solange die Handlung stimmt, reicht auch eine Schablone, die nicht nennenswert ausgearbeitet ist. Da sage ich rein subjektiv, nein. Denn eine Schablone arbeitet in vorgefertigten Mustern. Die Geschichte kann also auch nur diesen Mustern folgen. Folglich wird sie vorhersehbar und eine Geschichte, deren Verlauf ich im Vorfeld benennen kann, ist meist langweilig.
Eine Schablone ist aber nicht gleich einer 0815-Figur. Die 0815-Figur zeichnet sich dadurch aus, dass sie Herr oder Frau Müller von nebenan ist mit einem normalen Leben, normalen Fähigkeiten, normal glücklich. Aber auch diese Figur hat eine Persönlichkeit und mit dieser Persönlichkeit muss sie sich mit den Konflikten auseinander setzen, die der Plot bietet. Hier kommt dann wieder die Spannung auf, wenn denn das Figurendesign stimmt und die Figur authentisch ist. Im Grunde ist es viel schwieriger wirklich gute 0815-Figuren zu kreieren, die den Leser ansprechen, als den verschrobenen Ausnahmecharakter.
Es sollte also stark differenziert werden, ob wir hier von 0815-Figuren oder eindimensionalen Schablonen reden. Das sind zwei Paar Schuhe.

@Sipres: Danke :) Wie oben zu lesen, wollte ich genau das gleiche sagen. Du warst nur etwas schneller.

HauntingWitch

Zitat von: Feuertraum am 10. Juli 2016, 13:45:30
Zugegebenermaßen habe ich  mich jetzt auf Quellen verlassen, von denen ich nicht weiß, ob sie nun zu 100% wahr sind.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie etwas erreicht haben, das meinen allerhöchsten Respekt verdient.

Lieber Feuertraum, Sie wissen, ich mag Sie, aber ich glaube, wir verstehen uns im Moment gerade nicht. Ich habe gar nicht in Frage gestellt, dass diese Leute etwas Besonderes erreicht haben. Ich habe nur die Frage aufwerfen wollen, ob die Leute, die solche tollen Sachen erreichen, wirklich so "normal" und "0815"-Typen sind, wie man teilweise annimmt. ;)

Zitat von: Feuertraum am 10. Juli 2016, 13:45:30
Genau das ist es doch, was ich die ganze Zeit sage. Ein 08/15-Charakter ist ein Prota, der sich eben NICHT durch irgendwelche extremen Besonderheiten hervortut.

Ich glaube, auch hier reden wir aneinenader vorbei. Genau das meinte ich doch. Es müssen nicht zwangsläufig extreme Besonderheiten sein, aber ein Mensch, der überhaupt nicht besonders ist, existiert in meinen Augen nicht. Das Besondere äussert sich meiner Meinung nach nicht zwangsläufig in einzelnen, herausstechenden Eigenschaften (kann, muss aber nicht), sondern in der Mischung der Eigenschaften einer Person. Und diese Mischung führt zu Reaktionen auf Situationen.

Mit verborgenen Eigenschaften meinte ich eigentlich nur, dass manche Anteile dieser Mischung erst in Situationen zum Vorschein kommen, da sie im gewöhnlichen Alltag und einem Deckmantel von Normalität versteckt werden. 0815-Charaktere sind in meinen Augen Leute oder Charaktere, die unter diesem Deckmantel leben, wie die von Ihnen beschrieben Figur. Aber auch diese Figur wird in Situationen kommen, in denen sie besonders wütend oder besonders traurig wird, wird vielleicht ovn Erinnerungen an ein ganz bestimmtes Ereignis überwältigt, wenn seine Grossmutter stirbt. Und das macht die Figur dann besonders, dass man genau weiss, diese Erinnerung ist es jetzt, die löst diese enorme Trauer in ihm aus, die stärker ist als z.B. als sein Vater starb. Ich sag jetzt einfach etwas, als Beispiel, wie auch ein "normaler" Charakter eben mit Tiefe begeistern kann.

Und dann gibt es noch die Charaktere, wie unser Hinkebein, die von vorneherein eine herausstechende Besonderheit haben. Aber diese Besonderheit allein verleiht ihnen noch keine Tiefe. Vielleicht ist Hinkebein leichter zu reizen oder empfindlicher, aufgrund seiner Mobbing-Erfahrungen oder was weiss ich (was Cailyn weiter oben gesagt hat). Das macht ihn interessant. Aber das heisst nicht, dass der andere nicht interessant ist, er wird einfach durch andere Dinge interessant. Wenn es gut gemacht ist.

Ansonsten, was Araluen gesagt hat, der Krieger, der einfach nur seine Rolle nach Schema ausfüllt, ist für mich nicht interessant.

Cailyn

Die Diskussion hier ist echt witzig. Es kommt mir so vor, als würde ich mit jemandem darüber debattieren, ob man auch mit einem Surfbrett Rollschuhfahren kann. Also für mich persönlich ist eine spannende Figur immer mehrdimensional, egal ob sie jetzt zunächst platt und oberflächlich wirkt. Spätestens bei den ersten aufkommenden Konflikten muss für mich eine Figur etwas Tiefe zum Vorschein bringen (ausser in einer Komödie). Darum steht für mich ausser Frage, ob ein Roman Persönlichkeiten braucht oder nicht.

Jeder hat seine Präferenzen. Wenn jemand wie Feuertraum lieber unauffällige/einfache Charaktere bevorzugt, finde ich das vollkommen ok. Für mich persönlich ist es aber so, dass, je mehr ich lese, auch Variationen in Figuren haben möchte. Wenn jede Figur eine tolle Kindheit hat, ein mittelsonniges Gemüt oder einfach eine "normale" Verhaltensart, dann muss ich mich auf den Plot konzentrieren. Und konzentriere ich mich nur auf den Plot, erinnern mich diese dann sehr rasch an andere Plots. Ist aber ein ähnlicher Plot mit einer speziellen Figur besetzt, entwickelt sich daraus etwas anderes. Es ist irgendwie fast wie eine Rechenaufgabe. Mehrschichtige Figuren geben mehr Möglichkeiten für Plots, die mich interessieren.

Und zum 08/15: Ich sehe das wie Sipres und Witch - 08/15 gibt es so im richtigen Leben gar nicht. Aber wenn ich eine Figur in einem Roman erfinde, die 08/15 bleibt (und nicht nur erst so wirkt), empfinde ich es als umso schlimmer. Es ist einfach extrem langweilig. Ich meine, wenn Frau Geltenbach aus dem 4. Stock, Hausfrau von Beruf, immer glücklich und freundlich, hobbymässig Schwimmerin und ohne besondere Ausdrucksweise und Aussehen plötzlich in einen Thriller geschickt wird, wo eine andere Seite von ihr aufflammt (sagen wir, sie wird zur Rächerin der Ungerechtigkeit), dann gut, dann ist auch diese Person spannend. Aber wenn sie einem Serienkiller auf der Spur ist und dann darauf "normal" reagiert, nämlich ihrer Freundin Susi anruft und lapidar sagt: "Susi, da hat jemand den Herrn Keller umgebracht. Soll ich jetzt die Polizei rufen?", dann denke ich mir als Leserin: langweilig. Was soll ich mit sowas anfangen? Sowas Langweiliges gibt es ja auch im Leben nicht. Aber auch eindimensional im Extrem ist langweilig. Jemand der nur stolz/rachsüchtig/hysterisch/mutig etc. ist, wird schnell mal langweilig. Bei Nebenfiguren finde ich das in Ordnung, denn die erfüllen halt oft auf Funktionen für den Plot, aber eine Hauptfigur sollte schon mit seiner Persönlichkeit mit dem Plot verwachsen sein. Wenn es keine Rolle spielt, wer das Abenteuer bestreitet, ist es für mich keine gute Geschichte. Und je mehr die Figur von dem abweicht, was ich in diesem Plot erwarte, desto mehr erhöht sich die Chance, dass ich etwas spannend finde. Ist halt meine Einstellung als Leserin.

Araluen

Wenn Frau Geltenbach natürlich nur die Susi anruft und fragt, ob sie die Polizei verständigen soll, dann hebelt sich der Plot an dieser Stelle selbst aus. Sie ruft die Polizei, die kümmert sich drum. Ende der Geschichte.
Wie du schon sagtest @Cailyn, interessant wird es erst, wenn Frau Geltenbach auch etwas interessantes tut. Sie könnte ja auch irgendeiner Panikreaktion heraus versuchen die Leiche verschwinden zu lassen. Wer will schon die Polizei im Haus haben? Dann wäre natürlich die Frage, warum sie ausgerechnet das tut oder eben auch selbst Jagd auf den Serienkiller macht. Durch diese Beweggründe erlangt sie Tiefe. Wir lernen sie kennen. Dann bleibt natürlich die Frage wie sie das Ganze angeht. Und dieses Fragenspiel können wir jetzt weiter spinnen. Was tut sie und warum tut sie es?
Dann wird eine gute Geschichte draus und eine gute Figur, selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht viel hergeben würde.

criepy

#86
Wenn Frau Geltenbach zuerst Susi anruft anstatt sofort die Polizei, dann frage ich mich, was die Frau Geltenbach zu verbergen hat beziehungsweise warum sie nicht eigenständig denken kann. Ist also auch irgendwo interessant.  ;D
Wenn Frau Geltenbach aber die Polizei nicht ruft, die Leiche versteckt und sich selbst auf die Suche nach dem Killer macht, würde ich die Geschichte sofort weglegen. So eine gute Erklärung kann mir kein Autor (oder?) liefern, dass ich den Charakter und den Plot interessant finde. Denn sowas klingt für mich nach einem eher dummen Charakter, der in einen gestellt interessanten Plot hineingezwungen wird. Und dabei trotzdem Durchschnitt bleiben soll.


Was mir aber aufgefallen ist: Leser sympathisieren mehr mit Charaktern, die sich vom Rest der Charakter unterscheiden. Als Beispiel: Man hat im Fokus eine nette und hilfsbereite Freundesgruppe, die immer füreinander da ist und durch dick und dünn geht. Dann kommt eine Figur daher, die einen großen Hang zum Sarkasmus und allgemein eine sehr ruppige Art hat. Viele Leser werden ihn sofort ins Herz schließen, weil er Unterhaltung und Abwechslung bietet. Manche werden ihn trotzdem nicht mögen, aber wenn ich mich so durch Rezesionen lese, fällt mir sowas halt auf. Ein sehr bekanntes Beispiel sind dabei Finnick Odair und Haymitch aus den Tributen von Panem. Sie stechen da doch schon stark heraus, finde ich. Sie sind grundlegend die einzig interessant gestalteten Figuren aus den Büchern - aber ich mochte die Bücher auch nicht, also kann schon sein, dass ich das sehr subjektiv sehe. Trotzdem ist ja Finnick auch ein großer Liebling der Leser.
Man kann das Prinzip aber auch umdrehen: Man hat im Fokus eine Freundesgruppe, die allesamt irgendwelche Handicaps, eine schwere Kindheit oder anderwertige Probleme haben. Da ist ein bodenständiger und durchschnittlicher Charakter viel interessanter als der Rest. Sicher werden ihn hier auch viele langweilig finden. Aber trotzdem glaube ich, dass Charakter, die nicht dem 0815 der Geschichte entsprechen, am interessantesten sind. Einfach weil sie Abwechslung bieten.

Ein 0815 Hauptcharakter kann durchaus interessant sein, wenn die Handlung dementsprechend gebaut ist. Was macht der Otto-Normal-Verbraucher, wenn er sich auf einmal auf dem Todesstern befindet?
Liest man aber vom Otto-Normal-Verbraucher wie er seine Zeitung am anderen Ende der Stadt kauft, ist das widerum langweilig. Auch plottechnisch. Aber da kann auch kein Rollstuhlfahrer mit Persönlichkeitsstörung etwas ändern.


Edit: Was ich vergessen habe: Ich habe mich wie ein kleines Kind über einen Lolly gefreut, als ich gelesen hab, dass Anton aus Wächter der Nacht auf der Liste von interessanten Charaktern steht.  :vibes:

Araluen

#87
Zitat von: criepy am 12. Juli 2016, 14:23:36
Wenn Frau Geltenbach zuerst Susi anruft anstatt sofort die Polizei, dann frage ich mich, was die Frau Geltenbach zu verbergen hat beziehungsweise warum sie nicht eigenständig denken kann. Ist also auch irgendwo interessant.  ;D
Wenn Frau Geltenbach aber die Polizei nicht ruft, die Leiche versteckt und sich selbst auf die Suche nach dem Killer macht, würde ich die Geschichte sofort weglegen. So eine gute Erklärung kann mir kein Autor (oder?) liefern, dass ich den Charakter und den Plot interessant finde. Denn sowas klingt für mich nach einem eher dummen Charakter, der in einen gestellt interessanten Plot hineingezwungen wird. Und dabei trotzdem Durchschnitt bleiben soll.
Das war mehr so ein entweder oder Beispiel. Aber ja, es liest sich etwas so, als ob sie beides täte. Und ja, ob irgendeines dieser Szenarien wirklich lesbar ist, sei auch dahingestellt ;)

Zitat von: criepy am 12. Juli 2016, 14:23:36
Ein 0815 Hauptcharakter kann durchaus interessant sein, wenn die Handlung dementsprechend gebaut ist. Was macht der Otto-Normal-Verbraucher, wenn er sich auf einmal auf dem Todesstern befindet?
Liest man aber vom Otto-Normal-Verbraucher wie er seine Zeitung am anderen Ende der Stadt kauft, ist das widerum langweilig. Auch plottechnisch. Aber da kann auch kein Rollstuhlfahrer mit Persönlichkeitsstörung etwas ändern.
Das ist schön gesagt :) Plot und Figurengestaltung müssen zusammen passen.

Kelpie

ZitatWelche Buchfiguren mögt ihr besonders, sind euch besonders ans Herz gewachsen? Und warum?
Da fällt mir als allererstes Glokta aus "Kriegsklingen" von Joe Abercrombie ein. Ein verbitterter Mann, eigentlich gar nicht so alt, aber durch Folter zu einem Krüppel gemacht. Er ist Folterknecht, erfreut sich am Leid der anderen und betont immer wieder "Wieso mache ich das eigentlich?". Er giftet seine Mitmenschen an, spuckt dabei ganz ekelhaft Speichel in alle Richtungen, kommt wegen seiner Krücke nur sehr langsam und schleppend voran ... ein durch und durch widerwärtiger Charakter. Und deswegen schätze ich ihn so. Weil man ihn einfach verabscheuen muss. Und dafür lieben.


ZitatUnd wie geht ihr selber damit um, wenn Figuren zu platt / zu eindimensional sind?
Ich erstelle Figuren nicht. Bei mir erscheinen sie - wenn ich Glück habe, sind sie gut und facettenreich, wenn ich Pech habe, sind sie platt und nicht zu gebrauchen. Bei meinen Glücksfiguren ist es so, dass ich dann tatsächlich kaum noch etwas an ihnen schleifen muss. So wie sie sind, sind sie perfekt.
Bei dem platten Figuren dagegen, ist es ein Kampf und eigentlich sind sie auch nicht mehr zu retten. Ich kann ihnen noch so viele schöne Ecken und Kanten beifügen, ich kann ihr Leben analysieren, Schicksalsschläge verpassen, den Charakter mit herausragenden Merkmalen verdichten ... letztendlich bleiben es Holzfiguren, die sich nicht bewegen können und nur stereotype Antworten geben. Das einzige, was da hilft, ist den Charakter löschen und durch einen neuen ersetzen. Das heißt in den meisten Fällen, dass ich einen Namenswechsel vornehme und der magere Gelehrte zum fetten Fresser wird.
In meinem letzten Roman hatte ich wieder einmal so eine Figur, die eigentlich eine super Rolle hatte und den Namen Aíkan trug. Doch ich kam einfach nicht weiter. Seine Reaktionen waren die eines schüchternen, netten Jünglings, der viel zu gut mit sich und der Umwelt ist, keiner Fliege etwas zuleide täte - kurzum: Gähnend langweilig.
Schließlich habe ich einen starken Charakter aus einem anderen Roman genommen und ihn anstelle von Aíkan gesetzt. So habe ich ein Kapitel verfasst. Ich habe so getan, als sei er es, habe endlich starke Reaktionen erhalten und war überrascht zu sehen, dass mein starker Charakter dennoch nicht völlig überging, sondern nur die Seiten zeigte, die ich für Aíkan gebrauchen konnte. So wurde er jähzornig, bekam aber von dem Humor des Leihcharakters nichts mit. Schließlich und endlich habe ich Aíkans Namen ersetzt (Aibeth) und habe aus dem liebenswürdigen Knaben plötzlich einen intriganten, jähzornigen Kerl, der von ganz alleine von einem Konflikt in den nächsten trudelt.

Feuertraum

Irgendwie habe ich das Gefühl, man versteht mich falsch oder - alternativ - ich drücke mich missverständlich aus.

Zitat von: Araluen am 10. Juli 2016, 14:19:53

Am Anfang @Feuertraum klang Ihre Argumentation so, ehrlich gesagt, als wären Ihnen die Figuren egal. Solange die Handlung stimmt, reicht auch eine Schablone, die nicht nennenswert ausgearbeitet ist.

Wahrscheinlich liegt da schon das erste Missverständnis vor: Ich sage nicht explitzit, dass eine Figur total unwichtig ist.
Was ich sage ist, dass eine Figur, ein Charakter, nicht das wichtigste an der Geschichte ist und mbMn. auch nicht sein soll. Er soll den Leser zwar durch die Geschichte führen, und er darf auch ohne weiteres lebendig sein, eine spezielle Sprache haben, den einen oder anderen Tic haben etc. aber er ist halt "nur" Bestandteil einer Geschichte, und nicht umgekehrt, dass die Geschichte nur ein flüchtiges Beiwerk ist und die Figur alles.

Zitat von: CaylinWenn jede Figur eine tolle Kindheit hat, ein mittelsonniges Gemüt oder einfach eine "normale" Verhaltensart, dann muss ich mich auf den Plot konzentrieren. Und konzentriere ich mich nur auf den Plot, erinnern mich diese dann sehr rasch an andere Plots. Ist aber ein ähnlicher Plot mit einer speziellen Figur besetzt, entwickelt sich daraus etwas anderes. Es ist irgendwie fast wie eine Rechenaufgabe. Mehrschichtige Figuren geben mehr Möglichkeiten für Plots, die mich interessieren.

Auch das ist für mich nicht nachvollziehbar. Ein Plot ist ein Plot. Eine Figur, egal wie ausgearbeitet sie ist, ändert ihn nicht. Held kommt in eine Situation, Held kommt aus dieser Situation entweder wieder raus oder nicht raus, unabhängig davon, was, Held kommt in eine neue Situation, aus der er entweder wieder raus oder nicht rauskommt und so oder so in eine neue Situation.
Das ein Hinkebein mit Sicherheit in einer Szene vollkommen anders agieren muss als zum Beispiel ein muskelbepackter und kampferprobter Barbar, das steht auf einem vollkommen anderen Blatt, ändert aber nichts an der eigentlichen Struktur eines Plots. Szene, nächste Situation, nächste Situation.
Ich habe bei Ihrer, Caylin, Argumentation einen aufgemotzten 3er-BMW vor Augen, der mit verschiedenen Zusatzteilen aufgehypet ist und auch noch mit einer bunten Farbe versehen und diversen Aufklebern, die in dieser Zusammensetzung kein anderer hat. Das ist der vollkommen individuelle Charakter, der durch die Straßen fährt. Dass er dabei an Stellen kommt, wo vielleicht gerade jemand überfallen wird, oder ein Haus brennt, oder eine Brücke einstürzt, dass ist volllkommen uninteressant, weil ja alles schon gelesen und damit austauschbar und es ohnehin niemanden interessiert. Aber diesen BMW, den will jeder sehen, das ist ein toller, individueller Charakter.
Zitat von: Witch0815-Charaktere sind in meinen Augen Leute oder Charaktere, die unter diesem Deckmantel leben, wie die von Ihnen beschrieben Figur. Aber auch diese Figur wird in Situationen kommen, in denen sie besonders wütend oder besonders traurig wird, wird vielleicht ovn Erinnerungen an ein ganz bestimmtes Ereignis überwältigt, wenn seine Grossmutter stirbt. Und das macht die Figur dann besonders, dass man genau weiss, diese Erinnerung ist es jetzt, die löst diese enorme Trauer in ihm aus, die stärker ist als z.B. als sein Vater starb. Ich sag jetzt einfach etwas, als Beispiel, wie auch ein "normaler" Charakter eben mit Tiefe begeistern kann.

Ich sehe es mit 08/15 schon etwas anders. Für mich sind 08/15-Charaktere jene Menschen, die sich zu sehr in die Gesellschaft integriert haben, die im Prinzip Schafe sind, die mitlaufen, die Träume haben, diese aber nie ausleben, weil: "Es sind ja nur Träume, im wirklichen Leben wird sowas nie passieren" oder auch: "Was sollen denn die Nachbarn denken?"
Ich räume ja ein, dass ich mehr so die abenteuerlichen Geschichten bewundere. Übertrieben ausgedrückt finde ich die Abenteuer von Robinson Crusoe wesentlich spannender als zum Beispiel die Erzählung meines Nachbarn, was er für Partys gefeiert hat, als er für 14 Tage auf Malle war. Und ich sehe mich selber als 08/15-Mensch an, weil ich im Grunde genommen selber diese Beschränkungen habe, diese Mauern, aus denen ich gerne herauskommen will, aber die mir eben "sagen": Deine Träume sind doch nichts anderes als Träume. Ich habe nichts erlebt, bei dem  der Zuhörer einen gewissen Grad an ... Faszination an den Tag legt.
Nicht falsch verstehen bitte: Eine Figur, die Gefühle zeigt, das ist vollkommen in Ordnung, das ist menschlich, das schreibe ich auch.
Was ich halt nur anprangere, ist eben dieses Mary Sue ähnliche beim Charakter, dieses : der Charakter muss aber dieses und jenes und solches haben, damit man mit ihm mitfühlt.
Dieses: Er will sich an den Mördern seiner Frau rächen, aber man muss auf 100 Seiten eine explizite psychologische Begründung schreiben (und wenn es nur für sich ist), was den Charakter wirklich dazu bewegt.

Ach, noch etwas zum Thema Schablone: Conan der Barbar!
Ein - wenn nicht sogar DER schablonenhaftestete, eindimensionalste Filmheld schlechthin! Und: Kult! [wollte ich nur mal so am Rande erwähnen]

Zitat von: AraluenDas ist schön gesagt :) Plot und Figurengestaltung müssen zusammen passen.

Schließe ich mich fast an, nur bei mir heißt es "Geschichte und Figur müssen zusammenpassen", aber im Grunde genommen meinen wir beide dasselbe. :)
Was hat eigentlich He-Man studiert, dass er einen Master of the universe hat?