• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Figurenbaukasten "Enneagramm"

Begonnen von pink_paulchen, 26. August 2014, 14:54:46

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 3 Gäste betrachten dieses Thema.

pink_paulchen

Ich habe Schwierigkeiten damit, runde und funktionierende Figuren aufzubauen. Meine Plots sind baukastenartig und ich bin ein extremer Planer, deshalb klappt die Handlung super. Ich hangele mich nah an meiner Vorgabe entlang. Leider bleiben die Figuren dabei oft ein wenig hölzern, denn die halten sich gefälligst genau an meine Plotpunkte.

Ich glaube, dass das so ist, weil ich für Figuren kein Strickmuster habe, wie beim Plot. Allerlei Listen, Interviewfragebögen, Steckbriefe und Schreibübungen (schreib einen ganz langweiligen Alltag deiner Figur, damit du sie kennenlernst, etc.) haben nur wenig gebracht.

Einige Figuren funktionierten aber von Anfang an. Nun glaube ich, habe ich herausgefunden, warum!
Ich habe nämlich ein Strickmuster für Figuren entdeckt. Es basiert auf einer eher esoterisch angehauchten Charakterbeschreibungslehre. Alle meine bisherigen besonders lebendigen Charaktere passen überraschenderweise ziemlich genau auf eine der Beschreibungen:

http://autorencafe.com/tag/enneagramm/

Also gehe ich jetzt hin und baue einen Roman mit neun Figuren, die genau diesen Schemata entsprechen. Ich bin furchtbar neugierig, ob und welche der Personen funktionieren werden und habe inzwischen einen Helden in Form eines klassischen Vierers: Puck, den Kobold mit Eichhörnchenschwanz, der Make-up Artist und Hairstylist von Beruf ist. Fühlt sich schon mal recht lebendig an, der Kerl.

Wie macht ihr das? Ergibt sich euer Plot komplett aus euren Figuren? Oder nutzt ihr auch mal Marionetten, die einfach eine Plotaufgabe erfüllen? Hat jemand dieses oder ein anderes Strickmuster verwendet und kann von Erfahrungen berichten?

HauntingWitch

Also, ich persönlich halte ja nichts von solchen Schemata. Typologien gibt es, das lässt sich nicht leugnen und kann einem sicher gewisse Anhaltspunkte für gewisse Tendenzen geben. Aber es sind nur Tendenzen. Niemand entspricht nur genau einem Typus, sondern jeder vereint Eigenschaften mehrere Typen in sich. Manche Tendenzen sind ausgeprägter, andere weniger. Hinzu kommen die Erfahrungen und Vorstellungen, die einen Menschen im Laufe des Lebens geprägt haben und sich genauso auf sein Wesen und sein Verhalten auswirken. Menschen (und somit auch Buch-Charaktere, auch nicht-menschliche ;)) sind extrem komplex und individuell zusammengesetzt und lassen sich nicht auf ein paar wenige prägnante Eigenschaften reduzieren.

Meiner Ansicht nach läuft man mit so einem Schema aber Gefahr, einen ebensolchen, reduzierten Charakter zu erzeugen. Abgesehen davon, dass man als Autor sowieso nur ansatzweise an die Komplexität einer realen Person herankommen kann, aber das ist schon wieder eine andere Diskussion.

Ausserdem gefallen mir die Einteilungen nicht. Der Loyale, der Skeptiker und der Ängstliche? Das sind meiner Meinung nach drei völlig verschiedene Dinge, aber die werden da in dieselbe Ecke gesteckt. Dass man tendenziell das sucht, was man bei sich selbst ein wenig vermisst, ist für mich nur genauso logisch, wie dass man das sucht, was einem tendenziell ähnlich ist. Auch hier macht es wieder die Mischung aus... Kurz: Mir ist das Schema und die Beschreibung dazu zu flach.

Ich finde, am besten kann man Charakterbau üben, in dem man Menschen beobachtet und sich mit ihnen auseinandersetzt; Was sie tun, wie sie denken, was sie bewegt, was sie beschäftigt und weshalb (Aufzählung natürlich unvollständig ;)). Ich würde jedem empfehlen, redet mit den Leuten um euch herum, fragt sie nach ihren Geschichten (auch die vermeintlich unwichtigen!), lest Biographien, schaut euch Dokumentationen an...  ;)

Damit man mich jetzt nicht falsch versteht, ich möchte niemanden verurteilen, der so ein Schema benutzt. Wenn es hilft, ist das ja gut. Aber das sind meine fünf Cents dazu, warum ich das für mich ausschliesse.


Mondfräulein

Ich hatte mit dem Enneagramm-Charakterschema schon einmal zu tun und war deshalb erst einmal etwas verwirrt, als ich den Titel des Threads gelesen habe. Das ganze ist erst einmal nämlich gar nicht so einfach, weil es nicht einfach nur neun Persönlichkeiten gibt. Jeder Mensch besteht aus einer individuellen Mischung dieser neun Persönlichkeiten, von denen häufig eine hervor sticht, aber man ist niemals nur ein Typ.

Ich weiß nicht genau, ob das so wirklich für Charaktere funktioniert, aber da ist ja auch jeder Autor anders. Als Ansatz kann es bestimmt hilfreich sein. Oder auch nicht. Ich persönlich versuche immer, mich nicht nach solchen Schemata zu richten, um eben nicht den Charakter aus der Fertigpackung zu schreiben, sondern ein paar Eigenschaften zu finden, die meinen Charakter besonders vor allen anderen machen. Davon ausgehend kommt der Rest oft wie alleine.

pink_paulchen

Zitat von: Mondfräulein am 26. August 2014, 15:47:32
Ich persönlich versuche immer, mich nicht nach solchen Schemata zu richten, um eben nicht den Charakter aus der Fertigpackung zu schreiben, sondern ein paar Eigenschaften zu finden, die meinen Charakter besonders vor allen anderen machen. Davon ausgehend kommt der Rest oft wie alleine.

Ja, das schreiben und sagen viele. Bei mir kommt der Rest aber eben nicht von allein (von oben erwähnten Ausnahmen abgesehen). Das ist das Ausgangsproblem und dafür brauche ich eine Lösung.
Vielleicht sollte ich dazu erwähnen, dass das was ich da als Testballon mache "Funny Fantasy" ist. Ein all-ager ohne großen Tiefgang und Anspruch an emotionale Komplexität. Das Buch soll Spaß machen. Und ich erhoffe mir von einer reinen Enneagramm-Typus-Figur Ideen und Charakterzüge, die ich sonst nicht oder nur wenig verwendet hätte.
Der Ansatz reale Menschen besser zu beobachten kann solche Details auch liefern, aber wie viele? Und was, wenn man einen extremen Charakter braucht? Habt ihr jemanden, der als Basis für einen echten Antagonisten taugt? Ich hätte gedacht, dass eine Romanfigur eben genau nicht wie ein gewöhnlicher Mensch ist, sondern außergewöhnlich und überspitzt. Weil man damit etwas zeigen möchte.

Mondfräulein

Zitat von: pink_paulchen am 26. August 2014, 15:57:16
Ich hätte gedacht, dass eine Romanfigur eben genau nicht wie ein gewöhnlicher Mensch ist, sondern außergewöhnlich und überspitzt. Weil man damit etwas zeigen möchte.

Ich versuche eigentlich, genau das zu umgehen. Die Romane, die ich gerne lese, haben meistens Charaktere, die so realistisch und lebendig wirken, damit kann ich mich am besten identifizieren. Ich mag zum Beispiel auch keine superbösen Oberschurken, einfach, weil dann nicht mehr nachvollziehbar ist, warum sie tun, was sie tun. Ich muss nicht dahin kommen, dass ich einsehe, in ihrer Situation genau so zu handeln, aber ich möchte immerhin verstehen können, warum sie überhaupt solche Dinge tun. Ebenso wenig möchte ich überspitzt moralische Heldinnen lesen, denn die vermitteln oft ein Ideal, das nicht zu erreichen ist. Wenn ich überhaupt etwas zeigen möchte mit meinen Romanen, dann, dass es okay ist, ein Mensch mit Fehlern, Ecken und Kanten zu sein und dafür brauche ich keine überspitzen Heldinnen, dafür brauche ich normale Menschen. Gerade im Jugendbuchbereich, in dem ich viel unterwegs bin, ist es meiner Meinung nach besonders wichtig, Identifikationsfiguren zu haben, mit denen man sich wirklich identifizieren kann, und keine überhöhten Ideale, die man nie wird erreichen können.

pink_paulchen

Aha, das ist ein ganz anderer Ansatz. Ich liebe Figuren wie Harry Dresden oder Simon Peters (Tommy Jaud), die zweifellos komplett überspitzt sind. Was du im Kopf hast, scheint mir eher: Leo Leike aus "Gut gegen Nordwind" zu sein. Auch eine supereinprägsame Figur, die ich sehr geliebt habe, aber eben eine völlig andere Art von Roman.
Offensichtlich konzipiert man Charaktere für realistische Gegenwartsliteratur komplett anders, als für beispielsweise Humor. Leo Leike passt nämlich nicht ins Schema, auch wenn einige Charakterzüge natürlich sehr deutlich sind, hat er von mehreren der Templates etwas geerbt - ganz wie du beschrieben hast.

Churke

Zitat von: pink_paulchen am 26. August 2014, 16:20:26
Offensichtlich konzipiert man Charaktere für realistische Gegenwartsliteratur komplett anders, als für beispielsweise Humor.

Sehe ich anders. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jakob Muffel auf Gemälde besser getroffen ist als auf jedem Foto.
http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Albrecht_D%C3%BCrer_-_Jakob_Muffel_-_Google_Art_Project.jpg

Warum? Dürer hat das Charakteristische des Gesichts erfasst und bis zur Grenze der Karikatur herausgearbeitet. Deshalb gilt er auch als einer der besten Porträtmaler überhaupt.

Als Autor arbeitet man im Prinzip genauso. Man erfasst den Charakter einer Figur und arbeitet ihn durch Übertreibung heraus. Das muss nicht viel sein (s. Dürer), kann aber auch bis zur Karikatur überzogen werden. Das hängt vom Genre ab. Doch zuallererst muss man sehen und beobachten.

Und, um noch ein Wort zur Esoterikern zu verlieren, in dieser Disziplin habe ich zur Autorin kein großes Vertrauen. Wer Konrad Adenauer als geradlinigen Streber charakterisiert, hat sich als Charakteranalytiker und vor allem als Autor disqualifiziert. Literarisch betrachtet ist Adenauer ganz klar eine "extreme" Figur, sein Erzfeind Rudolf Augstein bezeichnete ihn als den größten Politiker dem er je begegnet sei.

HauntingWitch

Zitat von: pink_paulchen am 26. August 2014, 15:57:16
Der Ansatz reale Menschen besser zu beobachten kann solche Details auch liefern, aber wie viele?

Sehr, sehr, sehr viele. :) Seit ich mich z.B. mit Körpersprache und Physiognomik befasst habe, fallen mir an Menschen Dinge auf, die ich vorher niemals bemerkt hätte. Auch sind viele Menschen widersprüchlich, was auffällt, wenn man ihre Aussagen miteinander vergleicht oder Tonfall und Aussage miteinander vergleicht... Ich kann dir kein Patentrezept geben, aber daher kommen bei mir die Details. Von der Beschäftigung mit diesen Dingen, mit den Kleinigkeiten.

ZitatUnd was, wenn man einen extremen Charakter braucht? Habt ihr jemanden, der als Basis für einen echten Antagonisten taugt? Ich hätte gedacht, dass eine Romanfigur eben genau nicht wie ein gewöhnlicher Mensch ist, sondern außergewöhnlich und überspitzt. Weil man damit etwas zeigen möchte.

Das sehe ich wie Mondfräulein. Zu extreme Charaktere mag ich nicht, ausser, sie bleiben nachvollziehbar. Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten, selbst der bösartigste Verbrecher hat gute Eigenschaften an sich, nur dass wir davon als Aussenstehende nichts mitbekommen. Und jeder noch so gutherzige Mensch hat auch negative Seiten und verhält sich manchmal daneben. Dieses Überspitzen von Charakteren bzw. hervorheben einer einzigen prägsamen Eigenschaft finde ich für Satire oder Kinderbücher passend, aber sonst eher nicht.

Blaurot

Hallo,

pink_paulchen, darf ich fragen, was aus diesem Projekt geworden ist und ob du mit allen neun Charakteren gut zurecht kamst?

Das Enneagramm kenne ich aus einem anderen Kontext, und es hat mir schon häufiger geholfen.
Auf die Idee, das aufs Gestalten von Charakteren anzuwenden, kam ich selbst jedoch noch nicht. Danke für den Tipp. 1 zu 1 werde ich es in Zukunft zwar nicht umsetzen, aber für einige Charakterfacetten kann ich mich sicherlich von den Enneagramm-Typen inspirieren lassen.

Ein echt cooler Gedanke, nochmals danke  :winke:

pink_paulchen

Es ist im letzten Nano zu einem echt unterhaltsamen Buch geworden. "Das Kobold Konzept" werde ich vermutlich nicht veröffentlichen (Funny Fantasy), aber beim Schreiben waren die Figuren überaus lebendig und haben Riesenspaß gemacht. Ich hatte da ein Felirakel (Mischung aus Orakel und Sphinx) und es war der beste Dr. House Klon ever. Viele Konflikte spendierten von allein Plot und die Überzeichnung der  Figuren passte zum Genre.
Im Nachgang nehme ich das Eneagramm manchmal, um bestimmte Facetten in meine Figuren zu bringen.

Blaurot

#10
Ein Felirakel - kichert - herrlich! Klingt wirklich nach viel Spaß, den du hattest beim Schreiben, und das steckt bestimmt beim Lesen an! Wieso möchtest du es denn nicht veröffentlichen? Finde ich nämlich schade!

pink_paulchen

Es ist so erstmal nicht veröffentlichungsfähig. Vielleicht habe ich irgendwann mal Zeit, es anzuhübschen. Aber es diente eher dem Test und Nanobelustigung, den Sinn hat es voll erfüllt.

Franziska

*Thread ausgrab* Ich beschäftige mich gerade wieder mit dem Enneagramm und finde es echt total gut, um Figuren mit Tiefe zu entwickeln. Klar ist es nur ein Modell und nicht jeder passt total in einen der 9 Charaktere. Das steht in dem Buch was ich dazu habe auch immer wieder drin. Es ist aber ein Modell, um sich Verhaltensmuster klar zu machen und für Figurenentwicklung finde ich es echt gut. Denn es dreht sich alles um Beziehungen.
Warum hat die Person dieses Verhalten entwickelt. Was führte in ihrer Kindheit dazu? Welches (wenig konstruktive) Verhalten legt die Person in bestimmten Situationen an den Tag und vor allem wie reagiert sie auf die anderen Charaktertypen. Das ist ja das, was besonders wichtig beim Schreiben ist. Die Entwicklung der Figur. Was ist ihr interens Ziel und was denkt sie, was ihr Ziel ist? Wie erreicht sie ihr eigentliches Ziel? Wie verändert sie sich? Wie entwickelt sie sich in Beziehung zu anderen? Ich finde dafür bietet das Modell viele Anhaltspunkte. Ich habe hier ein uraltes Buch dazu, das besonders ausführlich ist.

"Das Enneagramm unserer Beziehungen" von Maria-Anne Gallen/Hans Neidharft

Aber im Netzt findet sich bestimmt noch mehr dazu.

Kyvenn

Zitat von: Franziska am 12. Oktober 2018, 17:39:34
Warum hat die Person dieses Verhalten entwickelt. Was führte in ihrer Kindheit dazu? Welches (wenig konstruktive) Verhalten legt die Person in bestimmten Situationen an den Tag und vor allem wie reagiert sie auf die anderen Charaktertypen. Das ist ja das, was besonders wichtig beim Schreiben ist. Die Entwicklung der Figur. Was ist ihr interens Ziel und was denkt sie, was ihr Ziel ist? Wie erreicht sie ihr eigentliches Ziel? Wie verändert sie sich? Wie entwickelt sie sich in Beziehung zu anderen? Ich finde dafür bietet das Modell viele Anhaltspunkte. Ich habe hier ein uraltes Buch dazu, das besonders ausführlich ist.

"Das Enneagramm unserer Beziehungen" von Maria-Anne Gallen/Hans Neidharft

Aber im Netzt findet sich bestimmt noch mehr dazu.

Ich muss zugeben, wenn du den Thread nicht ausgegraben hättest, wüsste ich immer noch nicht, was genau ein Enneagramm ist.
Im Netz findet sich tatsächlich richtig viel dazu - aber wie behält man denn bei der Charakterisierung den Überblick über die verschiedenen Typen? Dass die aufgezählten Eigenschaften nur so etwas wie Vorschläge sind, ist klar, aber da ja niemand wirklich einem Typ entspricht wäre es doch überzogen, einen Charakter nur auf diese Eigenschaften zuzuschneiden. Aber verrennt man sich denn nicht gerade dabei? Nehmen wir mal einen Künstler, der aber irgendwo auch rational sein soll, das ist dann doch ein Widerspruch in sich. :hmmm:

Beim Rest gebe ich dir Recht, für die Charakterentwicklung ist das Enneagramm ziemlich hilfreich, wenn ich mir überlege, wie er zu dem geworden ist, was er ist, und wie er sich daraus entwickeln kann, so wie du es ja auch schreibst. Aber ich würde mich komplett verzetteln, wenn ich danach gehen würde :gähn:

Franziska

@Kyvenn ich habe es so gemacht, dass ich schon Figuren im Kopf hatte und dann habe ich überlegt, welcher Charakter am ehesten dazu passt und was ich davon übernehmen kann, um den Charakter besser zu verstehen und seine Entwicklung zu beschreiben. Wie sieht sein inneres Dilemma aus? Es gibt das sicher noch mehr Möglichkeiten als die 9. Aber ich finde es so ganz interessant.