• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

[Geschichte] Wohnen in London - um 1920

Begonnen von Naudiz, 17. Januar 2014, 00:14:27

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Naudiz

Hallo ihr Lieben,

seit einiger Zeit schon suche ich mir die Finger zu diesem Thema wund, werde aber einfach nicht fündig. Deswegen hoffe ich, dass jemand von euch vielleicht eine grobe Ahnung hat.

Ich müsste nämlich für mein aktuelles Projekt wissen, ob es a) um 1920 schon Mietwohnungen in London gab (ich denke, ja, bin mir aber eben nicht sicher) und b) in welchen Stadtvierteln man relativ günstig wohnen konnte und welche so richtig teuer waren. Ich muss nämlich meinen Tausendsassa-Doc Russell unterbringen, der zuerst ein angesehener praktizierender Arzt in einer recht guten Gegend war und dann etwas in Ungnade fiel und umsiedeln musste.

Es wäre toll, wenn jemand von euch etwas weiß. Im Netz habe ich jedenfalls nichts gefunden, trotz gefühlten tausend verschiedenen Suchbegriffen.

[Liebe Mods, falls ich das Thema kategorisch falsch eingeordnet habe, lasst es mich wissen! Mir fiel nur keine andere Kategorie ein, in die es passen könnte.]

Pandorah

Ich habe nicht wirklich Ahnung von dem Thema, aber Mietswohnungen *muss* es gegeben haben. In London haben ja auch um 1920 nicht nur die Reichen und Schönen gewohnt, sondern auch einfache Arbeiter, die sich und ihre Familien gerade so über Wasser halten konnten. (Ich meine, mich dunkel an etwas erinnern zu können, dass die Wohnungen winzig und zum Teil total überfüllt waren, dass es "Schlafschichten" gab. Aber das beschwöre ich nicht.)

Maja

#2
Oh ja, es gab Mietwohnungen, auch wenn es in England bis heute viel gebräuchlicher ist, ein Haus zu kaufen, als eines zu mieten (deutlich höhere Hausbesitzerqutoen als in Deutschland, entsprechend aber auch eine höhere Pro-kopf-Verschuldung). Gerade Arbeiter haben aber immer eher zur Miete gewohnt, und was du in London an Wohnblöcken hast, sind eigentlich immer Miettempel. Besonders billig (und besonders eng und schäbig) lebst du zum Beispiel im East End. London hatte schon damals rechte Elendsviertel, das heißt, wenn du ihn so ganz heftig in Ungnade fallen lassen willst, kannst du ihn dort unterbringen. Vor allem wenn er Familie hat, ist das eine Option.

Wenn nicht: Einzelstehende Herren haben in der Zeit oft, gerade wenn knapp an Geld, keine ganze Wohnung gemietet oder gar ein Haus gekauft, sondern sich irgendwo eingemietet. Es gab viele Hausbesitzer( vor allem -innen), die, verwitwet und knapp bei Kasse, einzelne Zimmer ihres Hauses vermieteten. Wir haben immerhin gerade einen Krieg hinter uns, der verheerende Folgen auf die Bevölkerung hatte und viele leere Zimmer zurückgelassen hat, ebenso viele Frauen, die um ihren Ernährer gebracht waren. Wenn dein Doc alleine lebt und sich einen Rest Stolz bewahrt hat, lass ihn irgendwo ein Zimmer mieten. Nur nicht gleich auf der Aldebert Terrace in Lambeth - da wohnt schon Mrs. Gyrth. Der Rest von Lambeth bietet sich aber an.

Um ein passendes Miets- oder Wohnhaus in London zu finden, empfehle ich einen Stadtspaziergang mit Google Street View. Du kannst dich quer durch die Stadt arbeiten, um eine passende Gegend zu finden, und wenn du eine hast, geht die Detailsuche nach dem Haus los. Alles, was heute steht und authentisch edwardianisch aussieht, hat auch in den 1920ern dort schon gestanden. Wenn du unsicher bist: Jede Londoner Straße hat einen eigenen Artikel in der englischen Wikipedia, aus dem du entnehmen kannst, wann sie bebaut wurde und ob sie in der Zwischenzeit den Namen gewechselt hat.

Viel Glück!


EDIT
Empfohlener Link: http://www.20thcenturylondon.org.uk/

EDIT2
Vorsichtiger Hinwies: Wenn du solche Fragen stellen musst, deutet das an, dass dir zu dieser Zeit noch sehr viel grundlegendes Wissen zu fehlen scheint. Ich würde einen Roman nur in einer Zeit ansiedeln, in der ich mich sehr sicher fühle. Es gibt dann immer noch hunderttausend Kleinigkeiten nachzuschlagen, aber die grundlegende Geschichte und Geographie brauchst du in jedem Fall - also auch eine Idee der verschiedenen Londoner Stadtteile, nicht aller, natürlich, dafür sind es zu viele, aber ungefähr sagen zu können, wo die Reichen leben, wo die Armen, und wo die Unterwelt. Ich vermute, dass du diese Fragen über Berlin ohne zu zögern beantworten könntest - zieh im Zweifelsfall in Betracht, die Geschichte von London nach Berlin zu verlagern. Berlin in den 20ern: Hochinteressant!
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Pandorah

Das klingt auch gut: http://www.literarylondon.org/london-journal/march2011/macdonald.html
ZitatThe Use of London Lodgings in Middlebrow Fiction, 1900-1930s

This article discusses how a particular kind of rented London accommodation was used in British fiction, before and after the First World War.

Naudiz

#4
Ah, wenn ich ehrlich bin, habe ich stark auf eine Antwort von dir gesetzt, Maja ;D Wo ich doch weiß, dass du Ahnung von dem Thema hast. Auf Aldebert Terrace hätte ich Russell selbstverständlich nicht geschickt ;)

Familie hat der Gute nicht, er lebt allein und will das auch so lassen. Ich dachte zuerst daran, ihm einen Laden anzuhängen, aber da er seit seinem "Fall" als Gerichtsmediziner und Toxikologe arbeitet, wird er dafür wohl eher keine Zeit mehr haben.

GSV-Straßenspaziergang ist ein guter Tipp! :jau: Da wäre ich jetzt so gar nicht drauf gekommen. Das werd ich gleich mal machen. Danke auch für den Link!

@Pandorah: Von den Schlafschichten habe ich im Geschichtsunterricht auch schon gehört. Leider haben wir das Thema industrielle Revolution in London aufgrund akuten Lehrermangels nie wirklich vertiefen können ...

Dir auch ein dickes Danke für den Link! Mensch, ihr findet so viel, und ich hab fast eine Woche rumrecherchiert und nichts entdeckt ... Scheinbar kann ich nicht mal richtig googeln ;D

EDIT an Maja: Ich habe grobes Grundwissen, war mir aber bei den Mietwohnungen nicht mehr so sicher und auch nicht, welche Stadtteile damals *wirklich* arm waren. Der größte Teil der Geschichte spielt übrigens auch nicht in London, sondern im schottischen Hochmoor, in fiktiven Orten, wo ich etwas "altmodischer" sein darf.

Und nein, über Berlin in der Zeit könnte ich die Frage nicht beantworten, um ehrlich zu sein. Mein geschichtlicher Schwerpunkt liegt ein wenig weiter in der Vergangenheit.

Maja

#5
Ich bekomme immer wieder Komplimente dafür, wie gut ich mich in London auskenne, oft begleitet von dem Seufzer, "Wenn ich das Geld hätte, würde ich ja auch mal dahinfahren" - die Leute denken offenbar, ich muss Wochen meines Lebens dort verbracht haben, um mich dort heimisch zu fühlen.

Und jetzt die Wahrheit: Ich war oft in Großbritannien, bin dreimal mit Interrail sehr ausgiebig über die Insel gereist, aber ich war noch nie in London. Das einzige, wo ich schon mal war, ist Victoria Station, wo ich umgestiegen bin, und einmal bin ich von Victoria nach Kings Cross mit der U-Bahn gefahren, weil mein Anschluss von dort abfuhr. Ich war noch nie in London außerhalb eines Bahnhofs oder der Tube, ich habe noch nie in London übernachtet, und alles, was ich über London weiß, habe ich aus Büchern, aus Filmen, dem Fernsehen, Fotos, Reiseführern, Museen, dem Englischunterricht, und Google Street View.

Trotzdem kann ich im Geist einen Spaziergang durch Soho machen oder durch die Kensington Gardens, und ich weiß, in welcher Ära London welches Gesicht hatte. Sprich, das kann man alles lernen, selbst wenn man kein Geld zum Reisen hat. Gibt ja kaum ein teurerers Pflaster als London.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Naudiz

Ich weiß viel über das Mittelalter. Hab ich ganz offensichtlich auch nicht selbst miterlebt. Und durch Helsinki kann ich auch bald im Geiste laufen. Von daher kann ich dir nur beipflichten: Man kann lernen, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. 

Und um deine Sorge, ich hätte keine Ahnung von nichts, ein wenig zu besänftigen: Ich setze mich seit über zwei Jahren mit der Nachkriegszeit in London und den Highlands auseinander, und mit der viktorianischen Ära davor. Alles in Vorbereitung für diese Geschichte. Nur dieses kleine Detail habe ich eben vernachlässigt und bin auch leider nicht drüber gestolpert. Tja, und ob es teuer war oder nicht - darüber habe ich mir wirklich keinen Kopf gemacht, was mir im Nachhinein ziemlich doof vorkommt. Nur alte Karten der Stadt zu kennen, reicht nicht.

Maja

#7
Hier noch ein Artikel zur Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus in England: http://fet.uwe.ac.uk/conweb/house_ages/council_housing/print.htm

wenn du nach solchen Informationen googlest, musst du damit rechnen, dass 99% der Quellen in englischer Sprache sind. Der erste Schritt ist also, den englischen Begriff für das, was du suchst, zu finden. Dann kombinieren mit "London 1920", und voilà!
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Naudiz

Dankeschön! :knuddel:

Zitat von: Maja am 17. Januar 2014, 01:07:25
wenn du nach solchen Informationen googlest, musst du damit rechnen, dass 99% der Quellen in englischer Sprache sind. Der erste Schritt ist also, den englischen Begriff für das, was du suchst, zu finden. Dann kombinieren mit "London 1920", und voilà!

Halt dich fest: Das hab ich gemacht. Trotzdem spuckte Google nichts Brauchbares aus. Ich bin ernsthaft verwirrt ???

Maja

Welche Suchbegriffe? So ziemlich alles, was dir der Leo zum Thema "Wohnungsbau" oder "Wohnbau" ausspuckt, gibt bei Google gute Ergebnisse in Kombination mit Ort und Zeit, und du hast eine Menge Synnonyme zur Auswahl. Ich kann gut Englisch, trotzdem ist der Leo immer meine erste Anlaufstelle, wenn ich etwas recherchieren will.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Chris

Ich bin ein Fan von Filmen als Recherchehilfe - nicht als einzige Quelle, aber ergänzend, weil ich ein sehr visueller Mensch bin. Für Deine Zeit und London kenne ich:
Parade's End: http://www.amazon.de/Parades-End-letzte-Gentleman-DVDs/dp/B00COB77Y0/ref=sr_1_6?ie=UTF8&qid=1389919276&sr=8-6&keywords=paradise
(spielt allerdings eher im gehobenen Milieu)
und der Klassiker:
Das Haus am Eaton Place: http://www.amazon.de/Das-Haus-Eaton-Place-Komplettedition/dp/B006GL6RTU/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1389919423&sr=8-1&keywords=haus+am+eaton+place
Wenn ich mich richtig erinnere, beschäftigen sich einige Folgen auch mit ärmeren Menschen.
Liebe Grüße
Chris

Maja

Nicht zu vergessen: Bücher aus der Zeit. Die 20er waren zivilisiert genug, um für sich selbst sprechen zu können. Einen tollen Eindruck vom damaligen London bekommt man zum Beispiel mit den Krimis von Dorothy Sayers oder Margery Allingham. Und Spaß machen sie außerdem!
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Fianna

Ich würde das nächste Mal vielleicht nicht so detailliert suchen. Eine allgemeinere Suche zu den Londoner Stadtvierteln hätte schon rasch ergeben, welche reiche und welche arme Stadtviertel waren.
Vielleicht also das nächste Mal nicht genau die Stichworte der Frage googlen?

Kati

Vielleicht kannst du dir auch mal die Poverty Maps von Charles Booth anschauen? Die befassen sich mit London bis knapp 1900, also nicht deine Zeit, aber ein Blick kann ja nicht schaden. Hier: Poverty Maps. Die verschiedenen Straßenzüge sind farbig gemacht, von schwarz bis gelb, und die Farben markieren welche Schicht vorrangig in dieser Straße gelebt hat. Ich nehme an, zwischen 1900 und 1920 hat sich das ein wenig geändert, aber wenn du dir was ausgeguckt hast, kannst du die Straße oder die Gegend immer noch gezielt recherchieren.  :) Für einen Überblick ist es vielleicht hilfreich.