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Wie weit darf ein Protagonist gehen?

Begonnen von Arcor, 12. Januar 2013, 17:19:45

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Arcor

Diese Frage beschäftigt mich gerade sehr, da ich an einem neuen Projekt (vermutlich Dark-Fantasy) herumplotte und der Protagonist und Ich-Erzähler dem Anschein nach ein dunkler Magier sein will und damit jemand, der definitiv nicht gut ist (und ich habe auch nicht vor, ihn im Laufe der Geschichte gut werden zu lassen).

Ich bin beim Schreiben glaube ich kein Kind von Traurigkeit, weder was körperliche noch seelische Gewalt angeht, doch oft wird das von Antagonisten oder Nebenfiguren ausgeführt. Bei Protagonisten war ich da bisher eher zurückhaltend. Da ich meine oben erwähnte Hauptfigur jedoch einmal anders gestalten möchte als alle bisherigen Protagonisten, frage ich mich nun, wo man eine Grenze ziehen muss. Was kann man seinen Haupt-"helden" machen lassen und was geht zu weit? Ab welchem Punkt hört die Figur auf, für den Leser sympathisch und interessant zu sein? Ab wann wünscht man ihr nur noch die Pest an den Hals oder pfeffert das Buch in die Ecke? Denn obwohl die Figur kein "Guter" sein soll, möchte ich auch nicht unbedingt, dass der Leser ihn am liebsten nach fünfzig Seiten am Galgen baumeln sehen möchte, damit er zufrieden ist.

Das Ganze ist sicherlich sehr subjektiv, aber mich interessiert eure Meinung dazu. Was empfindet ihr bei Protagonisten noch als zumutbare Handlung an den Leser und wann ist er über das Ziel hinausgeschossen?
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

Sprotte

Die drei "klassischen Tabus" in der Reihenfolge der Lesergewichtung, wie ich denke: Tiere (besonders Tierbabys, Hunde und Katzen), Kinder und Frauen.

Robin

Das ist eigentlich eine interessante Frage, muss man sagen.

Also ich denke schon, dass ein Protagonist Dreck am Stecken haben darf. Durchaus je nach Situation auch ziemlich viel. Nur, wenn es eskaliert, dann kommt es ja auch wieder als übertrieben und 'god-like' daher. Nicht unbedingt das, was man lesen will. Jedenfalls würde ich es so sehen.

Ich mag Antihelden eigentlich wirklich viel lieber als strahlende Helden, sozusagen. :hmmm: Denn, irgendwie sind die Antihelden für mich viel sympathischer und durchwegs realistischer als die strahlenden Helden mit nur ein wenig Dunkelheit.


Nur so eine erste Meinung dazu, ich muss mir da noch ein paar Dinge durch den Kopf gehen lassen. ;D
~Work in Progress~

Mogylein

Grundlose Grausamkeit, Kinder, Behinderte, Leute an denen eine ganze Familie hängt.
Ich finde es selbst schwierig, eine Grenze zu ziehen, aber wenn ich ein Buch lese, wo jemand völlig ohne Grund in reinster Folter ein behindertes Kind abmurkst... nein.
Wenn man für das, was er tut, Erklärungen hat ("Ohne den Tod dieses Kindes würde er nie von der Magiervereinigung aufgenommen werden und könnte dann nie die Regierung stürzen", whatever) geht das meiste. Aber selbst dann würd ich mich von Minderheiten und Kindern fernhalten und höchstens als gezieltes Mittel einsetzen.
   "Weeks of Writing can save you hours of plotting."
- abgewandeltes Programmiersprichwort

Alana

Ich denke, wenn die Identifikationsfläche groß genug ist, dann verzeiht der Leser einiges. Wichtig sind natürlich schon die Hintergründe und was du mit der Geschichte am Ende erreichen willst. Verharmlosung oder Gewaltverherrlichung sind da natürlich nicht weit.
Ansonsten stimme ich Sprotte und Mogylein zu. Ich brauche einen Grund für das, was er tut. Und Folter ist für mich ein absolutes No-Go.
Alhambrana

Arcor

Zitat von: Robin White am 12. Januar 2013, 17:28:54
Ich mag Antihelden eigentlich wirklich viel lieber als strahlende Helden, sozusagen. :hmmm: Denn, irgendwie sind die Antihelden für mich viel sympathischer und durchwegs realistischer als die strahlenden Helden mit nur ein wenig Dunkelheit.
Das ist ja oft so, dass man den Guten eigentlich langweilig findet, weil er eben nur gut ist. Allerdings ist die Frage, ob man den Antihelden oder auch den Antagonisten nur deswegen interessanter findet, weil ihnen ein Gegenpol gegenübersteht, an dem sie sich reiben können?

Zitat von: Sprotte am 12. Januar 2013, 17:23:20
Die drei "klassischen Tabus" in der Reihenfolge der Lesergewichtung, wie ich denke: Tiere (besonders Tierbabys, Hunde und Katzen), Kinder und Frauen.
Lustig, dass da Tiere weiter vorne stehen.  ;D Aber in ähnliche Bahnen denke ich auch, zumindest, wenn der Charakter keine Reue zeigt. Wenn jemand ein Verbrechen an Frauen oder Kindern begeht und das bereut, sieht das schon vielleicht anders aus, oder? Aber eine Tat aus reiner Grausamkeit, aus Machtstreben oder zum Beispiel auch Neugier ist vielleicht wirklich zu heftig.  :hmmm:

Zitat von: Mogylein am 12. Januar 2013, 17:41:12
Grundlose Grausamkeit, Kinder, Behinderte, Leute an denen eine ganze Familie hängt.
Ich finde es selbst schwierig, eine Grenze zu ziehen, aber wenn ich ein Buch lese, wo jemand völlig ohne Grund in reinster Folter ein behindertes Kind abmurkst... nein.
Wenn man für das, was er tut, Erklärungen hat ("Ohne den Tod dieses Kindes würde er nie von der Magiervereinigung aufgenommen werden und könnte dann nie die Regierung stürzen", whatever) geht das meiste. Aber selbst dann würd ich mich von Minderheiten und Kindern fernhalten und höchstens als gezieltes Mittel einsetzen.
Grundlose Grausamkeit schließe ich auch aus, aber ich stimme dir zu, dass es schwer ist, eine Grenze zwischen grundloser und begründeter Grausamkeit zu ziehen. Rache, ok, das ist klar. Aber danach wird es schwierig.

Zitat von: Alana am 12. Januar 2013, 17:46:39
Ansonsten stimme ich Sprotte und Mogylein zu. Ich brauche einen Grund für das, was er tut. Und Folter ist für mich ein absolutes No-Go.
Folter als No-Go ist schon mal gut, das schreibe ich mir gleich mal auf. Misshandlung und Vergewaltigung dürfte vermutlich in dieselbe Sparte fallen.
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Naudiz

Das ist lustig, ich habe gestern überlegt, einen ganz ähnlichen Thread aufzumachen  :D

Aktuell lese ich nämlich "Best Served Cold" von Joe Abercrombie, und da kam die Frage in mir auch auf, denn: So ziemlich alle Protagonisten gehen zum Erreichen ihrer Ziele über Leichen. Sprichwörtlich. Denen ist egal, wer draufgeht und wer nicht, solange sie es nicht selbst sind. Brutalität und Grausamkeit sind ihre stärksten Waffen, von denen sie auch kräftig Gebrauch machen.

Allerdings: Sie töten keine Frauen und keine Kinder, und Tiere haben sie bisher auch in Frieden gelassen. Na gut, ein paar Frauen sind schon umgekommen, aber die waren absolut nicht beabsichtigt. Foltern von Frauen allerdings stört sie überhaupt nicht.

Trotzdem sind diese Protagonisten mir hochgradig sympathisch. Warum? Weil sie auch menschliche Seiten haben, Gefühle, Sorgen, und weil ihnen so manches Mal leid tut, wenn sie jemanden involviert haben, der nichts mit ihrem Rachefeldzug zu tun haben. Manchmal versuchen sie sogar, Wiedergutmachung zu leisten. Aber auf jeden Fall haben sie einen Grund für ihre Taten - Hauptfigur Monza und ihr Bruder wurden von ihrem Regenten und Arbeitgeber verraten und ermordet (na gut, Monza nicht, sie ist lebend aus der Sache herausgekommen), weil sie ihm schlichtweg zu beliebt im Volk geworden sind (sie waren sehr erfolgreiche Feldherren, Anführer einer Söldnerarmee). Monza will die sieben Männer, die für den Mord verantwortlich sind, zur Strecke bringen und ihren Bruder rächen. Für mich ein nachvollziehbares Motiv.

Wenn Monza jetzt aber diese Grausamkeiten ohne triftigen Grund verüben würde, würde ich sie zweifelsohne an den Galgen wünschen. In der First Law-Reihe gibt es einen Charakter, Black Dow, der genau so drauf ist - Grausamkeit um ihrer selbst willen und um zu demonstrieren, dass er Macht hat. Den habe ich während des Lesens gefressen  :happs:

Conclusio: Solange die 'Helden' einen nachvollziehbaren Grund für ihr Verhalten haben, kann ich über beinahe jede Schandtat hinwegsehen. Grundlose Gewalt und Grausamkeit stößt bei mir jedoch auf wenig Gegenliebe.

Valaé

Aah, das ist ein tolles Thema  :vibes:.

Ich habe ja in meinem ersten fertig geschriebenen Projekt sozusagen genau dieses Thema in den Mittelpunkt gestellt. Ich war da ein wenig provokant und wollte letztlich sehen, ob es möglich wäre, eine Figur, die absolut Grausames tut, so zu zeichnen, dass sie trotzdem sympathisch wirkt und man alles nachvollziehen kann um dann von dieser Schilderung auch ein wenig die Verurteilung von Taten ohne ihren Hintergrund zu kennen, in Frage zu stellen.
Aber im Vordergrund stand vor allem eben auch das Experiment für mich: Wie weit geht der Leser mit und bezeichnet eine Figur als sympathisch, die Dinge tut, die eigentlich jeden abschrecken würden. Und ich war da auch nicht zimperlich. Meine Protagonistin hat wirklich (fast) alle Tabus gebrochen: Frauen, Kinder, Säuglinge - Tiere waren sogar auch dabei.
Das Ergebnis war wirklich verblüffend: Es gab nicht einen Leser, der das Buch wegen einer unsympathischen Protagonistin weggelegt hätte (es wurden Szenen übersprungen, weil sie zu hart waren, aber trotzdem wurde die Protagonistin nicht als unsympathisch bezeichnet).Selbst als sie am Ende den Hauptsympath der ganzen Geschichte umlegt waren ihr zwar viele böse - aber sie wurde trotzdem nicht als unsympathisch bezeichnet, denn alles ist verständlich und innerhalb der Charakterkonzeption erklärbar geblieben.
Ich habe sehr darauf geachtet, dass ihr Charakter immer begründet und gut hinterleuchtet blieb und genau das hat dann auch hingehauen - alle erklärten mir, dass die Protagonistin jetzt zwar keine Identifikationsfigur sei, der zweite Hauptcharakter sympathischer sei, aber alle sagten auch, dass sie deswegen nicht unysmpathisch werde, dass man sie nicht verurteilen könne und dass alles verständlich bliebe - für mich war das ein Zeichen, dass man bei so etwas zwar sehr aufpassen muss, wie man es macht, dass es aber durchaus möglich ist, sich viel zu trauen und trotzdem keine Abscheu, keine Wut und keine Mordgedanken ( ;D) gegenüber des Protagonisten aufzubauen. Es ist eben nur wichtig, dass alles begründet und verständlich bleibt und nicht auf einmal sinnlose Gewalt auftaucht oder deutlich wird, dass er grundlos irgendwelche Personen verabscheut, menschenverachtend denkt ohne dass die Entwicklung und Erklärung dafür deutlich wird - wenn sie aber deutlich wird, kann der Charakter sogar ein sehr sympathischer und sehr geliebter werden - wenn man sich mal durchsieht, welche Charaktere in bekannten Büchern gerne gemocht werden, ist fast immer auch ein eher zynischer, möglicherweise sarkastischer, anfänglicher Unsympath dabei, der aber aufgrund seiner Charakterschlüssigkeit, möglicherweise auch aufgrund von so gerne gesehenen Zügen wie Zynismus und Sarkasmus derartig ... naja vielleicht nicht unbedingt sympathisch ist, ich glaube das ist das falsche Wort. Er ist eher faszinierend. Man darf eben nicht den Fehler machen, einen Charakter, der eindeutig auf diese Richtung ausgelegt ist, zu behandeln wie einen, der dem Leser sympathisch sein soll - wirkliche Sympathie im Sinne von: Den mag ich, den möchte ich auch als Freund haben, mit dem bin ich auf einer Wellenlänge - wird man vielleicht nicht erreichen können. Aber man kann Faszination schaffen und sogar Mitleid, man kann erreichen, dass der Charakter nachvollziehbar bleibt und dadurch auf einer anderen Ebene sympathisch bleibt.

Wo man aber aufpassen muss ist, denke ich, die Erwartungshaltung. Ist bei einem Buch von Anfang an klar, dass der Protagonist möglicherweise Dinge tun wird, vor denen der Leser Abscheu hat, wird er es eher ablehnen - weil er es eben noch nicht verstehen kann, er hat die Entwicklung dorthin noch nicht mitverfolgt und wird sich von vornerherein abgestoßen fühlen - da muss man etwas aufpassen, dass das nicht von Anfang an klar ist - hat man den Leser erst einmal in der Entwicklung drin, ist er eher bereit, sich auf so etwas einzulassen. Habe ich beispielsweise in einem Gespräch erwähnt, was meine Protagonistin alles tut, war sofort die Ablehnung da - habe ich darüber eher geschwiegen und es zum Lesen gegeben, war die Reaktion anders.
Wobei es da natürlich auch Ausnahmen gab - es gab durchaus Leser, die sich von vornerherein von diesem Experiment angezogen gefühlt haben  ;D.

Wo ich widersprechen möchte im Übrigen, ist die Sache mit der Reue - also zumindest bei mir funktioniert das allerhöchstens eingeschränkt und kommt ganz stark auf den Rahmen an - wird ein Charakter zu einer Tat gezwungen, steht das alles sowieso auf einem anderen Blatt. Tut er es aber freiwillig ... und bereut hinterher sofort oder schlimmer noch vorher - dann ist das für mich ein bodenloser Schlag auf das Minuskonto in Sachen Sympathie. Warum? Weil der Kerl allem Anschein nach dann ja nicht charakterstark oder willensstark genug war, eine Tat, von der er schon vorher gewusst haben muss, dass er sie bereuen wird, sein zu lassen. Er hat eine Tat, von der er ganz genau wusste, was sie bedeutet, wie schlimm sie ist, was sie anderen antut, also im vollen Bewusstsein aller Konsequenzen begangen - und das ist für mich eher unsympathisch. Wenn das ein Teil der Charakterentwicklung ist, ist es in Ordnung, wenn aber die Reue direkt im Anschluss oder sogar noch bei der Tat permanent als Mittel eingesetzt wird, mir den Charakter sympathischer zu machen, geht der Schuss nach hinten los und ich würde ihn gerne in der Schlinge sehen - oder es nervt mich und er verliert an Glaubwürdigkeit.
Wenn die Reue erst langsam, schleichend kommt, bestenfalls noch harsch verdrängt wird, ist sie aber eine wundervolle Methode, den Charakter sympathischer zu machen. Leichte Paranoia, schlechte Träume etc. neigen da dazu, sehr gute Mittel zu sein, so eine unterdrückte Reue schön darzustellen und dem Leser etwas zu signalisieren, was der Charakter leugnen würde  ;D.

Mogylein

Ich möchte noch anmerken, dass ich vorhin etwas vergessen habe. Ganz abgesehen von der ganzen Gewaltschiene gibt es auch noch anderes, was einen Charakter bei mir persönlich sehr schnell ins Aus befördert: Braunes Gedankengut.
Begründungen sind ja gut, aber wenn mir jemand die Folter einer Frau damit verkauft, dass er ja Nazi ist... das geht gar nicht.
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Arcor

@Naudiz:
Das von dir beschriebene Buch passt ja genau ins Bild Rache. Das kann ich definitiv nachvollziehen, dass man das Lesen kann, ohne den Prota zu verabscheuen. Über Rache gibt es ja auch tausende von Filmen, nicht zuletzt jetzt der neue Tarantino "Django Unchained", wo man mit der Hauptfigur mitfiebert.

@Valaé:
Interessant, was du über deine Figur sagst. Das ist wirklich ein interessantes Projekt und auch das Ergebnis finde ich erstaunlich. Wobei ich es nachvollziehen kann, dass man der Figur mehr vergibt, wenn es nicht von Anfang an ersichtlich oder gar geplant ist, was sie alles tut. Das zeigt ja, das auch heftige Gewalt einen Leser nicht unbedingt vom Lesen abhalten muss.
Zur Reue: Ich stimme dir da zu. Sofortige Reue oder gar ein vorheriges Wissen um diese Reue macht die Figur wirklich eher schwach und unsicher. Eine Entwicklung dahin kann hingegen interessant sein. Ob meine Figur seine Taten bereuen wird ... keine Ahnung. Dafür kenn ich den guten Herrn noch nicht gut genug.

@Mogylein:
Meinst du mit braunem Gedankengut jetzt lediglich nationalsozialistisches oder allgemein rassistisches/faschistisches Denken, unabhängig wo, wann, bzw. in welcher Welt?
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Faye - Finding Paradise

Maran

Es gibt schon die klassischen "Antihelden". Mir persönlich gefallen solche Bücher nicht, das ist ja auch Geschmackssache, aber solange die Motivation für die Handlungen plausibel und die Handlungen selbst nicht verherrlichend dargestellt ist, geht meiner Meinung nach eine ganze Menge (Tut mir leid, Sprottchen, auch Tiere / Tierbabys, Frauen und Kinder). Zudem akzeptiere ich "böse" Taten bei einem Antihelden sehr viel besser, als bei einem herkömmlichen Protagonisten.
Es ist allerdings auch eine Gratwanderung, eine Geschichte aus der "bösen" Perspektive zu schreiben, denn der Leser sollte sich nicht, wie es bei Protagonisten der guten Art ja gerne angedacht ist, mit dem Helden identifizieren - oder ihn glorifizieren. Von expliziten Gewaltbeschreibungen, nur um der Gewaltbeschreibungen willen, würde ich Abstand nehmen. Die Frage ist, was Du mit der Geschichte bezweckst.

Runaway

Ich denke, "böse Handlungen" im weitesten Sinne werden dann akzeptiert, wenn der Leser sie nachvollziehen kann.
In meinen Geschichten gab es immer mal wieder Protagonisten, die Menschen getötet haben. Teilweise nicht auch einfach nur so, sondern auf ziemlich unschöne Art. Dem vorausgegangen waren aber auch unschöne Taten derjenigen, die die Protas da getötet haben. Ich kann das pauschal auf das Stichwort Rache runterbrechen.
Beim Schreiben habe ich mir auch die Frage gestellt, ob es okay ist, meiner Protagonistin eine Waffe in die Hand zu drücken, nachdem sie von zwei Männern vergewaltigt wurde. Lustigerweise haben dann hinterher sogar die Leser gesagt "wie, die hat die einfach nur erschossen? Also ich hätte ja noch ..."

"Noch" gab es in meiner Dark Fantasy-Geschichte. Auch da ging es um eine Vergewaltigung. Als mein Protagonist spitz gekriegt hat, was die Typen mit seiner Frau gemacht haben, hat er sein superscharfes Schwert gezückt und dann mit dem verbliebenen Täter ein paar unschöne Dinge gemacht. Er selbst hat in diesem Moment eine Art Blutrausch - ihm geht es tatsächlich darum, den Kerl möglichst brutal umzubringen. Seine Frau, seelisch immer noch tief verletzt, sieht ungerührt dabei zu.
Daneben steht dann die Freundin, die die Brücke zum Leser schlägt und nicht hinsieht, weil ihr das zuviel ist. Sie wundert sich auch darüber, daß der Mann, den sie als sanftmütig kennengelernt hat, zu so etwas in der Lage ist. Aber sie versteht es auch.
Sie drückt im Prinzip Zweifel und Skrupel aus und versucht, dem Leser zu erklären, warum er das tut.
Bis heute habe ich keine Klagen bezüglich dieser Stelle bekommen.

Fianna

#12
Zitat von: Dani am 12. Januar 2013, 20:03:16
"Noch" gab es in meiner Dark Fantasy-Geschichte. Auch da ging es um eine Vergewaltigung. Als mein Protagonist spitz gekriegt hat, was die Typen mit seiner Frau gemacht haben, hat er sein superscharfes Schwert gezückt und dann mit dem verbliebenen Täter ein paar unschöne Dinge gemacht. Er selbst hat in diesem Moment eine Art Blutrausch - ihm geht es tatsächlich darum, den Kerl möglichst brutal umzubringen. Seine Frau, seelisch immer noch tief verletzt, sieht ungerührt dabei zu. [...]
Bis heute habe ich keine Klagen bezüglich dieser Stelle bekommen.
Das finde ich gar nicht bemerkenswert. Vergewaltigung ist das Schlimmste, was man einer Frau antun kann. Damit war die üble Tat des Prota quasi gerechtfertigt nach dem Motto: minus und minus ergibt plus, oder zumindest glatt null.
Hätte er das mit einem unschuldigen Menschen gemacht, sähe das ganz anders aus.


Zitat von: Mogylein am 12. Januar 2013, 18:58:36
Begründungen sind ja gut, aber wenn mir jemand die Folter einer Frau damit verkauft, dass er ja Nazi ist... das geht gar nicht.
Da müssen nicht einmal dramatisch Dinge wie Folter geschehen, efür mich reicht schon die Äußerung solchen Gedankenguts an sich. (Kann man ja wunderbar in Fantasy übertragen mit unwerten Rassen).

Zitat von: Valaé am 12. Januar 2013, 18:52:48
Wo man aber aufpassen muss ist, denke ich, die Erwartungshaltung. Ist bei einem Buch von Anfang an klar, dass der Protagonist möglicherweise Dinge tun wird, vor denen der Leser Abscheu hat, wird er es eher ablehnen - weil er es eben noch nicht verstehen kann, er hat die Entwicklung dorthin noch nicht mitverfolgt und wird sich von vornerherein abgestoßen fühlen - da muss man etwas aufpassen, dass das nicht von Anfang an klar ist - hat man den Leser erst einmal in der Entwicklung drin, ist er eher bereit, sich auf so etwas einzulassen.
Wirklich?  :o  :vibes: :vibes: :vibes:
Ich hab an einem meiner Lieblingsprojekte gezweifelt, da ein Mann (Jüngling) und eine Frau (Leibwache) die zentralen Figuren sind. Der Jüngling ist im Tross der Antagonisten und wird am Ende des Buches getötet. Anfangs wirkt er jedoch noch nicht so stark (und auch die Taten seiner Familie werden erst nach und nach an den Tag gebracht), und meine Testleser erwarteten quasi eine Läuterung. Also kann seine unsympathische Ausstrahlung nicht so schlimm gewesen sein, und ich habe an dem Konzept gezweifelt, dass er sich wirklich auf die negative Seite schlägt (für den Leser, er war ja schon immer so und hatte nur keine Handlungen, wo sich das zeigen konnte).

Zitat von: Naudiz am 12. Januar 2013, 17:50:38
Aktuell lese ich nämlich "Best Served Cold" von Joe Abercrombie, und da kam die Frage in mir auch auf, denn: So ziemlich alle Protagonisten gehen zum Erreichen ihrer Ziele über Leichen. Sprichwörtlich. Denen ist egal, wer draufgeht und wer nicht, solange sie es nicht selbst sind. Brutalität und Grausamkeit sind ihre stärksten Waffen, von denen sie auch kräftig Gebrauch machen.

Allerdings: Sie töten keine Frauen und keine Kinder, und Tiere haben sie bisher auch in Frieden gelassen.
Das kenne ich von Bernard Cornwell. Die Hauptfigur Uhtred sorgt sicher auch für Sympathien bei der weiblichen Leserschaft, da er nach dem Überwältigen von Dänen immer die Frauen fragt, wer demjenigen töten will, der sie geschändet hat, und denen ein Messer gibt.
An einer Stelle übrigens auch grade-noch-vorpubertären Zwillingen, das wirkte schon etwas eklig, da die ihren potentiellen Vergewaltiger nicht so schnell getötet haben, weil sie werder Fähigkeiten noch Kraft haben. Das war eine sehr starke Szene, auch die Beschreibung des Vaters, als seine blutbefleckten Kinder zu ihm zurücklaufen...

Debbie

Ich teile da die gleiche Ansicht, wie die meisten hier: Motivation is the key!

Du musst dir auch, wie Maran gesagt hat, überlegen, was du mit dem Buch erreichen willst. Soll es ein Skandalbuch werden? Soll es Sympathien oder Verständnis für Psychopathen/Gewalttäter schaffen? Was soll der Leser aus deinem Buch mitnehmen? Was ist die übergeordnete Aussage (Prämisse)? Was ist deine Motivation solch einen Charakter als Prota zu verwenden?

Wenn du auf alle diese Fragen eine gute, zufriedenstellende, hoffentlich sogar tiefgründige Antwort hast - gut! Wenn nicht, würde ich es verwerfen oder verändern. Der Leser merkt im Allgemeinen ganz schnell, ob der Autor weiß was er da tut, und ob es Sinn macht, sich mit einer Geschichte/einem Charakter auseinanderzusetzen.

Ich finde auch nicht, dass es bezüglich dessen, zu was der Prota fähig ist, Grenzen gibt - abgesehen von Pädophilie, die an sich einfach gegen die Natur ist. Allerdings würde ich es vielleicht nicht detailiert bzw. in der Gegenwart beschreiben. Aber auch das wäre natürlich theoretisch möglich ...

In irgendeinem Schreibratgeber hab ich mal über ein Buch gelesen, in dem es um einen gefühlskalten Mann geht, der komplett verkorkst ist, und für den irgendwann eine Frau Gefühle entwickelt - er weiß aber weder, wie er damit umgehen, noch sie erwidern soll (kann sein, dass er sie auch gewollt nicht zulässt) - und schließlich stirbt die Frau oder verschwindet oder so. Das Ende zeigt ihn dann praktisch am gleichen Punkt wie der Anfang - einsam. Und obwohl ihm seine Situation selbst nicht bewusst ist, hat der Leser dennoch Mitleid mit ihm.
Obwohl keine Entwicklung stattfindet, hat das Buch natürlich eine Aussage; aber eben eine leise, und die sind schwieriger zu vermitteln als offensichtliche Prämissen. Da kommt es auf viel psychologisches Fingerspitzengefühl und winzigste Nuancen in Szenen- und Wortwahl an.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn es nichts Philosophisches werden soll, pass auf, dass sein "Böse-Sein" der Geschichte dient, elementar für die Aussage ist. Bücher in denen sich der Prota praktisch nicht entwickelt sind immer schwierig, und finden meist nicht viele Liebhaber  :-\

pink_paulchen

Ein tolles Beispiel zu dieser Frage ist diese Geschichte, die mich stark beeindruckt hat: kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=47275
Trotz der Kürze und extremen Brutalität hat sie durchweg tolle Kritiken bekommen. Ich meine der Grund ist der hier beschriebene: glaubhafter Charakter!