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Reiten: Wieviel ist Konvention, wieviel Intuition?

Begonnen von Farean, 06. Juni 2012, 10:54:55

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Alia

Nicht ganz, Farean.
ZitatZ.B. beim englischen Stil macht das Pferd von sich aus nichts, sondern wartet auf Kommandos des Reiters
Das Pferd macht u.U. schon etwas. Ist ja keine Maschine. Wie Tintenweberin schon sagte. Kommt aufs Temperament des Pferdes an. Da kannst du eigentlich alles ausdenken, es passt, wenn das Pferd entsprechend gestrickt ist.
Das musst du mit einem Arbeiter vergleichen, wo du daneben stehen musst und sagen "Und noch eine Schaufel voll machen und auf die Schubkarre. Und noch eine. Und noch eine..." Du musst da die ganze Zeit dran bleiben. Ansonsten würde der je nach Charakter eine rauchen, mit dem Handy telefonieren, einfach mit Schüppe in der Hand da stehen und nix tun, weiter machen, aber sehr langsam, ein sehr erfahrener und netter würde vielleicht über eine Unfähigkeit vom Chef hinwegsehen und tatsächlich arbeiten. Aber das ist dann die gloreiche Ausnahme.
Als Reiter rahmst du das Pferd zwischen Zügeln, Schenkeln und Popo ein. Wenn du dem Pferd weniger Rahmen gibst, als es kennt, wird aus dem Rahmen fallen. Wie Tintenweberin schon geschrieben hat mit Giraffenhälsen oder Kopf auf dem Boden, weggedrücktem Rücken und Co.
Und dann gibt es zB die Westernpferde
Zitatbeim amerikanischen Stil das Pferd erst mal nach Lust und Laune agiert und vom Reiter gebremst werden muß, wenn es in bestimmte Bahnen "gelenkt" werden soll.
Nein die agieren nicht nach Lust und Laune, sondern machen etwas, was man ihnen sagt. Bei "los antraben" trabt es an und bleibt so lange im Trab, bis du was anderes sagst. Es gibt auch welche die sehr selbstständig arbeiten, Richtung wechseln und die Aufgabe selbstständig lösen und du kaum was zu tun hast. Cuttingpferde fangen die Kühe fast selbstständig. Die reagieren auch auf die Kuh - nicht nur auf den Reiter.
Diese Arbeiter wären also mit der Anweisung "Schubkarre vollschüppen" beschäftigt und du müsstest immer nur mal um die Ecke schauen, ob sie fertig sind und was neues machen können. Also nicht daneben stehen und jede Schüppe anweisen, sondern nur einmal etwas sagen.
Die Pferde sind dazu erzogen selbst ihre Haltung zu bewahren und brauchen keinen Rahmen. Das was ein englisches Pferd noch als "einrahmen" versteht und nicht als Kommando sieht, erzeugt bei dem Westernpferd schon eine Reaktion.


Ich selbst habe "englisch" (ist eigentlich nicht die richtige Bezeichnung, aber man weiß am ehesten, was ich meine..) reiten gelernt und saß dann so nach 10 Jahren Reitunterricht auf einem Westernpferd. Ich war bei Leibe kein Anfänger mehr, habe im Reitunterricht auch schwierigere Pferde geritten.
Und dann war ich bei jemandem zu Besuch und durfte da ein Westernpferd reiten. Klein-Alia hat also Pferd geputzt - kein Problem. Und stand dann mit dem Sattel in der Hand vor dem Pferd und wusste nicht weiter. Die Gurtung funktionierte schon ganz anders (wird geknotet und dann bei dem Sattel noch mit zwei Gurten und Vorderzeug - da war ich hilflos überfordert) und ich wusste nicht mal, wie das Ding fest gemacht wird. Da brauchte ich schon Hilfe.
Aufs Pferd kam ich dann alleine.
Oben gings dann weiter mit losreiten. Das Pferd war kein Schulpferd (die meist irgendwann zu "energiesparender" Reitweise tendieren und eher weniger als mehr machen) und auch noch in einer Reitweise angeritten, die mit viel weniger Hilfen auskommt.
Ich wollte also langsam im Schritt losgehen. Zügel aufgenommen - macht man ja normalerweise so - und mit den Beinen getrieben. Pferd lief rückwärts. Und zwar ziemlich schnell. Ich habe vone schon zu viel gebremst. Also erstmal Rat von dem Besitzer geholt. Anhalten. Neu anreiten. Zügel ganz lose und Beine ran. Ähm. War zu viel. Pferd trabte an. Wieder zum Schritt durchparieren. Mist, schon wieder zu viel gemacht. Pferd steht. Also zum dritten Mal. Anreiten. Puh. Geschafft. Pferd geht im Schritt. Und eiert furchtbar durch die Gegend, weil ich wieder viel zu viel mit Gewicht und Schenkeln machte. Hat dann ein paar Minuten gedauert, bis ich mich da reingefriemelt hatte und das Pferd einfach nur im Schritt außen um den Reitplatz ging. Ok, dann mal Kurve.  Pferd dreht sich auf der Hinterhand im Kreis und läuft in andere Richtung weiter. Nein, ich wollte doch eine Kurve. Noch mal Rat geholt. Aha mit Zügel rüberdrücken und lenken wie beim Fahrradfahren. Gut ausprobiert. Klappte halbwegs. Wir haben also wunderschöne Eier geritten, wo eigentlich Kreise sein sollten. Nach einiger Zeit haben wir uns dann an das ganze in schneller gewagt. Es wurde noch mal schlimmer und wir sind irgendwie über den Platz geeiert. Ich kam mir vor, wie der letzte Trottel...
Also selbst "Gas" "Bremse" "Lenkung" funktionieren bei einem anders gerittenen Pferd eventuell kaum bis gar nicht.

Anderes Pferd, selbes Experiment ein paar Jahre später. Diesmal Alia meets Zirkuspferd.
Gut: Pferd kennt prinzipiell die englische Reitweise. Dumm gelaufen: das hat ein paar Zusatzknöpfe. Ich bin im Schritt regelmäßig an den "Spanischer Schritt Knopf" gekommen und das Pferd hat die Vorderbeine hoch in die Waagerechte genommen. Das Rückwärts endete in einem auf zwei Beinen stehenden Pferd. Ups.

Artemis

#16
Alia:
*kicher* So ähnlich fühlte ich mich damals auch. Ich verlangte nach der ersten Western-Stunde eine Runde an der Longe, damit ich nicht die anderen Leute in der Halle platt machte. Und ich bin fest davon überzeugt, dass ein Anfänger die (für mich ungewohnten) Hilfen schneller im Kopf hat als ich, die ihre alten und bereits verinnerlichten Handgriffe erst "umprogrammieren" muss. So geht es aber gewiss auch einem Pferd, das man von einer Reitweise auf die andere umstellen will.

Um zum Zirkuspferd noch was in den Raum zu werfen: So eins hatte ich zwar bisher noch nicht, aber dafür durfte ich öfter ein Voltigierpferd reiten. Lammfromm, für ein Schulpferd erstaunlich gehorsam, aber es war auf den Galopp fixiert. Einen runden, langsamen Galopp. Und den zog es durch. Ohne Wenn und Aber, Runde um Runde. Ich hätte mir Kissen und Decke mitnehmen und im Sattel ein Stündchen poofen können, das wäre dem Tier wurscht gewesen. Öfter als einmal musste der Reitlehrer in die Hallenmitte tigern und das Pferd mit der Stimme bremsen, weil es die Hilfen aus dem Sattel nicht mehr gewöhnt war.

Tintenweberin

Zitat von: Alia am 07. Juni 2012, 09:32:21
Anderes Pferd, selbes Experiment ein paar Jahre später. Diesmal Alia meets Zirkuspferd.
Gut: Pferd kennt prinzipiell die englische Reitweise. Dumm gelaufen: das hat ein paar Zusatzknöpfe. Ich bin im Schritt regelmäßig an den "Spanischer Schritt Knopf" gekommen und das Pferd hat die Vorderbeine hoch in die Waagerechte genommen. Das Rückwärts endete in einem auf zwei Beinen stehenden Pferd. Ups.

Das erinnert mich an ein Schulpferd, dem ich in meinen frühesten Reitertagen begegnet bin. Der alte Herr hatte bereits eine erfolgreiche Karriere beim Film hinter sich. Für gewöhnlich waren es harmlose Späße (auf Kommando böse gucken oder "lachen"), die er gegen ein Leckerli vorführte. Es konnte aber durchaus auch passieren, dass er im Galopp einfach umfiel, wenn der äußere Schenkel seines Reiters zu weit nach vorne rutschte.

Farean

Noch mal vielen, vielen Dank euch allen, ihr habt mir enorm weitergeholfen! :pompom:

Ganz besonderen Dank an Alia. Dank deinem Vergleich mit dem Arbeiter habe ich jetzt ein richtig gutes Bild im Kopf, mit dem ich arbeiten kann. (Und abgesehen davon, daß deine Anekdoten das Thema für mich ganz hervorragend illustriert haben, hast du mir damit auch ein paar herzhafte Lacher beschert. :D :D :D)

Ihr habt mir richtig Lust gemacht, eines meiner alten Projekte wieder auszugraben. :hmmm: Da soll der Showdown in einem Pferderennen bestehen. Wenn ich damit ans Eingemachte gehe, macht euch auf weitere Fragen zum Thema Pferde gefaßt.

canis lupus niger

Bei einer zügelunabhängigen Reitweise kann der Reiter ein Pferd genauso wie ein Fahrrad (oder ein Motorrad) durch Gewichtsverlagerung zu einer Richtungsänderungen bewegen.
[/quote]

Kann ich bestätigen. Als mein (damals neu erworbenes) Pferd auf einem Ausritt mal durchging und nicht auf den Zügel reagieren wollte (sie hatte eine wirklich starke Persönlichkeit  ;)), habe ich mich so fest mit dem ganzen Gewicht in einen Steigbügel gestellt, dass die Gute umgekippt wäre, wäre sie darauf hin nicht einen Bogen gelaufen. So konnte ich sie auf ein Stoppelfeld abwenden. Später waren wir uns so gut aufeinander abgestimmt, dass es reichte, selber den Kopf zu drehen, damit sie abwendete.

Manche Reaktionen des Pferdes auf reiterliche Signale erfolgen reflexartig oder sogar als anatomische Notwendigkeit. Andere, komplexere oder eigentlich sogar widersinnige Reaktionen müssen antrainiert werden.

Wenn ein Pferd Angst oder Schmerzen hat, rennt es erst einmal los. Deshalb funktioniert es immer, ein Pferd zu erschrecken (Klaps auf das Hinterteil, mit den Beinen an die Flanken klopfen, laut in die Hände klatschen, laut "Hüa!Hüa! Los doch, du Bock!!!" schreien) oder ihm Schmerzen zu bereiten (rücksichtsloser Sporenstich, Peitschenschläge), damit es sehr schnell wird. Mit Reitkunst hat das allerdings nichts zu tun.

Wenn in einer Reitweise das Pferd einem drückend angelegten Schenkel ausweichen, in einer anderen mit dem Körper aber in die Richtung des ausgeübten Drucks gehen soll, muss man das dem Tier schon vorher beibringen.

Reiterhilfen sind eine Art Sprache, von dem manche Signale instinktiv richtig zu verstehen sind. Der Großteil der Sprache muß von beiden Seiten aber zunächst erlernt werden.