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Wozu eigentlich Götter?

Begonnen von Ryadne, 19. April 2012, 21:21:42

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Ryadne

Hallo zusammen,

eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt, wenn ich mich mit der phantastischen Literatur auseinandersetze, ist die, weshalb eigentlich in so vielen Geschichten (vor allem im Bereich der High Fantasy) in diesem klassisch polytheistisch-anthropomorphen Kontext Götter auftauchen.

Ich habe dazu mal einen Artikel in einer Zeitung - was es die Zeit? - gelesen, in dem es hieß, dahinter stehe der Wunsch nach einer einfach geordneten Welt, mit klaren Gut/Böse-Unterscheidungen etc. (Ein Argument, mit dem sich in der Fantasy natürlich sehr viel erklären lässt, allerdings halte ich es doch insgesamt für viel zu reduziert; aber ich möchte das Thema an dieser Stelle mal nicht zu sehr ausweiten.)

Klar, mit Göttern lassen sich Feinde schaffen und erklären. Dennoch denke ich, dass es doch auch noch viel mehr, auch ganz individuelle Gründe geben kann, Götter - und z.B. nicht nur einen Gott - einzuführen.

Ist das vielleicht nur eine Gewohnheitssache? Götter gehören halt zur Fantasy (ok, ausgerechnet der Herr der Ringe macht einem da einen Strich durch die Rechnung), also mache ich auch welche in meine Welt? Vielleicht spielt hier auch der mythologische Hintergrund eine Rolle; viele Fantasygeschichten sind ja nun mal beispielsweise antiken Mythen und Sagen sehr ähnlich und die sind auch meist mit Göttern erzählt worden.

Welche Funktionen können Götter noch erfüllen? Wenn ich mir meine Geschichten anschaue, dann sind sie eher als Metaphern zu verstehen - als Sinnbilder für die Unfreiheit des Menschen o.ä. (Und nur einen Gott zu nehmen, wäre irgendwie langweilig. ;) )Ab und zu aber taucht sicher auch bei mir so ein romantisches Denken in Zusammehang mit den Göttern auf - die Vorstellung, dass meine Helden da jemanden haben, der sie beschützt, nach dem sie aber vielleicht auch ihr diesseitiges Leben ausrichten müssen. Damit lassen sich natürlich ganz hübsch moralische Standards erklären oder irgendwelche Kodexe (heißt das so? Sieht komisch aus), denen ohne göttlichen Hintergrund die Daseinsberechtigung fehlen würde. Im Namen irgendwelcher Religionen haben sich halt immer schon Forderungen einfach stellen und Rechtfertigungen geben lassen. Da ist es auch ein mitunter nettes Gedankenexperiment, auszuführen, was denn abgeht, wenn es diese Götter tatsächlich gibt, und sie alle verschiedene Ansichten vertreten, obwohl auch den Nicht-Anhängern bekannt ist, dass es diese anderen Götter gibt.

Wie ist das bei euch? Führt ihr Götter ganz bewusst ein? Welche Funktionen erfüllen sie dann?


[Steinigt mich bitte nicht; ich weiß, es gibt schon zwei Threads zu Göttern, aber ein inhaltliches Überfliegen hat mich zu dem Schluss gebracht, dass ich hierfür lieber was Neues eröffne. Hoffe, ich hab keinen dritten übersehen]

Telas

#1
Hallo Ryadne,

ich hatte bisher in jeder meiner Geschichten Gottheiten zumindest erwähnt. Allerdings spielen sie in einer Geschichte praktisch keine Rolle, in einer anderen wird ein Volk von einem Dämon getäuscht, der sich als Gott ausgibt und im letzten Werk wird eine himmlische Fehde der Götter auf die Menschen übertragen.

Der Grund warum so oft Gottheiten in der Fantasy vorkommen, kann man sicher auch mit der Epoche begründen, wie du es gemacht hast. Ich würde aber auch behaupten, wann immer man eine fiktive Gesellschaft oder Kultur beschreibt, herrschen in dieser gewisse moralische Vorstellungen vor. Es gibt immer Fragen, welche die Menschheit nicht beantworten kann und bei deren Lösung wurde vor allem in der realen Vergangenheit oftmals Gott eingesetzt. In die Fantasy übernehmen wir das dann, weil die meisten Kulturen, die wir kennen eben auch Gottheiten haben. Fantasy ist meiner Meinung nach niemals völlig losgelöst von der Realität, dafür ist sie eine zu große Inspirationsquelle und wir übertragen einen Teil der Sitten und Gebräuche auf unsere Werke und somit eventuell auch die Tatsache, dass viele Völker Gottheiten kennen, das behaupte ich jetzt einfach mal.

Man braucht übrigens keine Götter, um gute moralische Werte zu vermitteln. Die Konsequenzen sind eben andere als die Hölle. Die Buddhisten glauben an die Erlösung wenn sie gute Menschen waren, nur nicht an Gott. Und jedes Gesetz ist ein Verhaltenskodex.

Auch Kriege kann man mit anderen Motiven führen, Geldgier, Neid und andere niedere Beweggründe eignen sich genauso gut, einen bewaffneten Konflikt zu entfachen.

Zu den Göttern in meinen Büchern:

Ich habe sie wie schon gesagt nur in einem meiner Werke wirklich offen als Figuren auftreten lassen. Sie sollten eigentlich die Funktion haben, das Universum im Gleichgewicht zu halten, den Menschen den rechten Weg zu weisen und die Rechtschaffenen Menschen nach dem Tode in ihr Himmelsreich aufzunehmen.
Doch ich habe den Göttern ganz bewusst eine sehr menschliche Eigenschaft mitgegeben. Neid. Eine Gottheit wollte sich partout über die anderen stellen, was in einem schwelenden Konflikt sowohl im Himmelreich, als auch auf der Erde endete.
Die Botschaft dahinter war eine simple. Je mächtiger man wird, desto fataler wirkt sich das eigene Fehlverhalten aus.

Sei es wie es, abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass ein guter Fantasyroman weiß Gott keine Götter braucht, aber sie sind eben ein beliebtes Mittel, aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit ;).

Alana

#2
Götter sind doch meistens so eine Art "Zufallsgenerator" innerhalb der Geschichte. Sie brauchen keine Gründe für ihre Handlungen, können also völlig unlogisch Handeln und dadurch große Verwüstung, Verwirrung oder sonst was anrichten, ohne dass sich jemand darüber wundert. Gründe werden natürlich trotzdem genannt, aber sie müssen nicht nachvollziehbar oder gerecht sein, weil derjenige eben ein Gott ist, basta.
Außerdem können Götter als Rückhalt dienen, als Helfer in ausweglosen Situationen, als Gönner eines Helden und so fort.
Ich persönlich nutze keine Götter in meinen Fantasy-Geschichten, weil ich es mag, wenn die Charaktere ihr Schicksal selbst bestimmen.
Bei mir gibt es auch keine Prophezeiungen, keine Auserwählten oder sonst irgendwas. Höchstens Fähigkeiten, die in den Genen liegen.
Alhambrana

Franziska

Ich verstehe deine Frage nicht ganz. Geht es dir um Götter, die als Personen auftauchen und in die Geschichte eingreifen? Oder an die Götter, an die die Menschen in der eigenen Welt glauben?
Ersteres also Götter, die als Person auftauchen finde ich schwierig. Ich glaube nicht an einen Gott und mich interessieren keine allmächtigen Götter. Dazu kommt das Problem, was haben einfache Menschen diesen Göttern entgegenzusetzen? Sie in die Geschichte eingreifen zu lassen empfinde ich als billigen Trick, wenn einem nichts anderes mehr einfällt. Die einzige Fantasy die ich mit solchen Göttern kenne ist eigentlich die Serie "Herkules" uns "Xena". Da funktioniert es, weil die Götter nicht allmächtig sind und es sich an alte Mythologie anlehnt. Dieses Genre ist aber meiner Meinung nach ausgereizt und überholt. Wenn jemand ein Gegenbeispiel hat, her damit! Mir fällt keins ein.

Wenn du meinst, an was für Götter die Protas glauben: Es wäre eher unglaubwürdig keine Religion und so auch keine Götter in einer High Fantasy Welt zu haben. Es hatten fast alle (außer Buddhisten) Gesellschaften eine Religion.
Ich verstehe nicht, was daran schwarz weiß sein soll? Man kann doch sehr vielschichtig damit arbeiten, indem z.B. einige Protas die Religion anzweifeln. Ich habe in  meiner Welt, die an Nordafrika angelehnt ist eine Art Religion, mit mehreren Göttern um mich  von der realen Religion dort abzusetzen. Jede Gruppe hat dort außerdem ihre eigene Religion.

Belle_Carys

Ich bin da ähnlicher Meinung wie Telas. Fantasy ist ja nichts genuin neues, sondern eine Re-Kombination von Dingen die wir kennen und verstehen. Wir können nichts beschreiben, das wir uns nicht vorstellen können. Also nehmen wir Dinge die es schon gibt und würfeln sie mal mehr mal weniger eklektisch neu zusammen. Trotzdem wird immer wieder auf vertraute Muster zurück gegriffen.

Dazu kommt das viele klassische Fantasy Welten mittelalterliche Settings haben. Was automatisch den Gedanken an eine Gottheit / Götter mit sich trägt, weil die mittelalterliche Welt nun mal enorm durch den Jenseitsgedanken geprägt ist.

Zudem, wie auch schon gesagt, haben die meisten Kulturen Gottheiten der einen oder anderen Art. Entwirft ein Autor nun eine epische Fantasywelt, dann fühlt diese sich ohne religiöses System vermutlich irgendwie nicht komplett an.

Ich habe mich in meinem jetzigen Projekt bewusst GEGEN Götter entschieden. Die hat aber zum beispiel auch kein mittelalterliches Setting und mit High Fantasy nicht viel zu tun. Grundsätzlich ist es aber natürlich auch eine hübsche Herausforderung, sich ein religöses System selbst zu entwerfen, ich denke das hat für viele Autoren auch einfach einen gewissen Reiz.

Was die Funktion der Götter in den Geschichten angeht: ich denke sie helfen, Charakteren und ihren Motiven Tiefe zu geben. Ich will ja nicht nur wissen was mein Charakter tut, sondern auch woran er glaubt. Was ihn geprägt hat. Aus welchem kulturellen Hintergrund er kommt. Und ich denke, die Hinzugabe eines religiösen Systems innerhalb (oder auch außerhalb) dessen unsere Helden und Heldinnen, aber auch die Antagonisten und die diese beide Pole umgebende handelnde Gesellschaft stehen, macht das alles plastischer. Es hilft, Handeln und Denken zu verknüpfen. Treten Götter direkt auf, können sie auch, wie Alana schon sagte, als Multiplikatoren funktionieren. Sie erleichtern oder verstärken Probleme, sie ergreifen Partei oder verfolgen eine eigene Agenda.

Klassische High Fantasy wird einfach nochmal dichter und die Welt gewinnt an Tiefe (und vermutlich auch Glaubwürdigkeit) wenn sie ein religiöses System besitzt. [Tolkien umgeht das zwar und ist trotzdem glaubhaft in seiner Welt, aber da er mit Mittelerde ursprünglich ein eigenes Mythensystem für die britischen Inseln entwerfen wollte, könnte man das auch als "prä-religiös" ansehen, zumal die Werte die er vermittelt, trotzdem klassisch christlich sind, aber das ist ein anderes Thema.]

Anyway, zurück zu Tiefe und Glaubwürdigkeit. Dass das funktioniert hängt meiner Meinung nach auch weniger damit zusammen, ob der jeweilige Leser jetzt selbst an eine wie auch immer geartete Gottheit glaubt oder nicht, sonder mit unseren Gewohnheiten. Auf irgendeiner Ebene unserer Wahrnehmung sind wir uns bewusst, dass der Großteil unserer Geschichte religiös geprägt ist und das Menschen unterschiedlichster Kulturen, egal wie fremd uns diese sind, eine Art von Glauben pflegen. In einem fantastischen Werk ebenfalls ein Glaubenssystem zu finden macht die Identifikation mit der uns ansonsten ja im Idealfall fremd und exotisch vorkommenden Welt leichter.



Arcor

Ich denke auch, dass die Erschaffung von Göttern für Fantasy-Welten viel mit Glaubwürdigkeit zu tun hat. Religion bestimmt nun einmal das Leben der meisten Menschen. Auch heute noch hat sie je nach Land einen sehr starken Einfluss und vor Zeiten der Aufklärung war das in Europa nicht anders. Mittelalterlich angehauchte Fantasy-Welten schreien darum gerade nach einer Religion, die in ihr praktiziert wird (oder mehrere, es mag ja unterschiedliche Glaubensrichtungen geben).

Außerdem ist Glaube und Religion für einen gläubigen Menschen ein starker Antrieb, etwas zu tun. Somit bietet sie eine gute Motivation für Helden.
Zweifellos müssen die Götter in Geschichten aber nicht immer überpräsent sein. Gerade als handelnde Figuren sind sie oft schwierig. Ihr häufiger Auftritt in der High-Fantasy liegt aber sicherlich in der epischen Grundstruktur angelegt. In High-Fantasy geht es zumeist um Weltenrettung und dafür müssen irgendwie zwangsläufig höhere Mächte im Spiel sein, weil der einfache Mensch keine Welt retten oder zerstören kann. Neben magischen Artefakten bleiben da eigentlich nur Götter oder Dämonen und schon sind sie im Spiel.
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

Farean

Zitat von: Franziska am 19. April 2012, 23:37:24
Ich verstehe deine Frage nicht ganz. Geht es dir um Götter, die als Personen auftauchen und in die Geschichte eingreifen? Oder an die Götter, an die die Menschen in der eigenen Welt glauben?
@Ryadne: Das wüßte ich auch gern, bevor ich näher auf die Frage eingehe.

Ryadne

Zitat von: Franziska am 19. April 2012, 23:37:24
Ich verstehe deine Frage nicht ganz. Geht es dir um Götter, die als Personen auftauchen und in die Geschichte eingreifen? Oder an die Götter, an die die Menschen in der eigenen Welt glauben?

Beides. Okay, beim Thema erstellen hab ich zunächst eher an Götter gedacht, die als Personen auftauchen, aber eigentlich interessiert mich beides.

Zitat von: Franziska am 19. April 2012, 23:37:24
Ich verstehe nicht, was daran schwarz weiß sein soll? Man kann doch sehr vielschichtig damit arbeiten, indem z.B. einige Protas die Religion anzweifeln.

Auf jeden Fall! Wenn ich auf das Schwarz-Weiß-Thema Bezug genommen habe, dann nur wegen des Zeit-Artikels. Ich musste da an Drachenlanze denken, wo "das Böse" eigentlich immer mit Takhisis oder einem anderen Gott begründet wird. Das taucht vor allem dann auf, wenn es klar ist, dass es Götter gibt und diese auch unter den Menschen wandeln; was ich, auch wenn ich sowas mitunter ganz nett zu lesen finde, auch als etwas seltsam erachte, aber wiederum auch wieder interessant - Götter sozusagen als eigenes Fantasyvolk, taucht ja auch im Urban Fantasy-Bereich ganz gerne auf.
Aber klar kann man auch sehr viel vielschichtiger damit umgehen, das will ich gar nicht bestreiten. Siehe z.B. die Vandarei-Bücher von Joy Chant.

Dass die Welterklärung ohne Götter mitunter schwer werden und die Welt dadurch an Tiefe verlieren kann, dem stimme ich auch zu. Ich mag es z.B. auch sehr, wenn Priester in meinen Geschichten auftauchen und ohne Religion wird das ganz schön schwer. ;)
Dabei finde ich es schon faszinierend, dass gerade auch auf Polytheismus so häufig zurückgegriffen wird, obwohl man sich an europäisch-mittelalterlichen Settings orientiert. Der vorherrschende Monotheismus hat die Welt irgendwie einseitiger gemacht, schätze ich. Den in Geschichten anzuwenden, wäre weniger ergiebig. (Aber auch hier gibt es sicher interessante Beispiele, wo ein Autor viel draus gemacht hat, auch, wenn mir gerade keins einfällt.)

Zanoni

Wenn es um die reale Menschheitsgeschichte geht, ist vielleicht noch ein weiterer Aspekt interessant: In der Frühzeit des Menschen waren Götter oftmals auch personifizierte Naturkräfte, Naturgesetze oder Naturgewalten. Die wissenschaftlichen Hintergründe dieser Kräfte wurden zwar noch nicht verstanden, aber die Menschen hatten mit den jeweiligen Auswirkungen immer wieder zu tun. Durch die Personifikation wurde es für diese Menschen etwas leichter damit umzugehen.

Ein anderer Aspekt ist sicherlich die Psychologie, insbesondere dann, wenn die sogenannten Archetypen in irgendwelchen Geschichten auftauchen. Bestimmte Grundmuster und Persönlichkeitsaspekte werden dabei personifiziert - ebenfalls zum Zwecke des leichteren Verständnisses (sei es nun bewusst oder unbewusst).

Und was die Fantasy angeht ... na ja, vielleicht auch eine gewisse Form von Verschachtelung. Eine personifizierte Geschichte innerhalb einer anderen personifizierten Geschichte ... wenn man es psychologisch analysieren wollte.

Das Argument, "dahinter stehe der Wunsch nach einer einfach geordneten Welt", halte ich in diesem Zusammenhang ebenfalls eher für irreführend. Denn genau genommen ist das ein typisches Totschlagargument für alles, was nicht in ein streng rational-materialistisches Weltbild passt. Dabei merken die Menschen, die so argumentieren, überhaupt nicht, dass sie selbst es sind, die sich nach einer "geordneten Welt" sehnen. Aber so ist die Welt nun mal nicht ... es gibt mehr als das, was der Verstand als "vernünftig" akzeptiert (Gefühle zum Beispiel) ... und das ist vermutlich auch ein Grund für die Existenz und das große Interesse an Fantasy-Geschichten (als eine Art Gegenpol zur rein logisch-rationalen Welt).

Farean

Zitat von: Ryadne am 20. April 2012, 09:56:25
Beides. Okay, beim Thema erstellen hab ich zunächst eher an Götter gedacht, die als Personen auftauchen, aber eigentlich interessiert mich beides.
O-kay, dann mal ran an den Speck. :snicker:

Warum es auf meinen Fantasy-Welten Religionen gibt, ist für mich an erster Stelle eine Frage des Flairs. Wenn ich eine mittelalterliche Kulisse aufbauen will, ist ein Götterbezug ein Muß. Das komplette Rittertum z.B. basierte darauf, den Kriegern des Abendlandes ein Selbstverständnis als "Streiter für die Christenheit" mitzugeben; nicht umsonst konnte die Ritterwürde "allein unter Anklage wegen Feigheit, Verrat oder Ketzerei" wieder aberkannt werden. Die ritterlichen Tugenden - Tapferkeit, Treue, Mildtätigkeit, Minne - waren eine Verpflichtung des Ritters vor Gott, und wer sie brach, fürchtete Gottes Strafe. In einer Fantasy-Welt ohne Gottheit(en) wäre Rittertum undenkbar.

Auf der anderen Seite führt ein einzelner (am besten noch namenloser) Gott mich zu dicht an die Realität. Für mein Empfinden besteht zu sehr die Gefahr, daß dann in meine Geschichte Aussagen über das Christentum reininterpretiert werden, die ich überhaupt nicht im Sinn habe. Außerdem ist eine polytheistische, heidnische Religion einfach farbenfroher. ;) Man kann sich kreativ so schön austoben, wie die einzelnen Götter bildlich dargestellt werden, für welche Aspekte sie stehen, mit was für Riten sie im Alltag verehrt werden usw. usf.

Und wie schon einige andere hier gesagt haben: Religiöse Symbole sind einfach was feines. Sie machen abstrakte Konzepte greifbar und kleiden sie in Gebete und Kraftausdrücke. Ein herzhaftes "Scheiße, ich hab ein verdammt schlechtes Gewissen bei der Sache" klingt einfach lange nicht so eindrucksvoll wie ein gemurmeltes "Gott sei mir gnädig". (Ein Problem, dem ich als überzeugter Atheist auch im Alltag oft gegenüberstehe. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich nicht mal das halbe Fluchvokabular zur Verfügung wie ein frommer Christ. :hmhm?:)

Was Götter betrifft, die persönlich auftreten: Dieses Motiv meide ich wie Pest, Cholera und Pocken zusammen. Nichts entzaubert eine Gottheit gründlicher, als wenn sie plötzlich leibhaftig und zur Person reduziert dasteht. Sicher, es gibt Autoren, die genau diesen Effekt haben wollen; aber für mich sind Gottheiten und ihre transzendenten Dienerkreaturen Symbole des Unbegreiflichen, das weit über den Menschen steht. Im Zusammenhang mit einem Computerspiel, in dem man Engel als Soldaten ausheben kann (Heroes of Might and Magic IV, um genau zu sein), habe ich mal gesagt: "Wenn es Engel gäbe, wären sie etwas so Wundervolles, daß es mir einfach pervers vorkommt, sie als regulären Truppentyp für eine Armee zu mißbrauchen." Die gleiche Maxime gilt für mich auch beim Schreiben.

Maran

Zitat von: Ryadne am 19. April 2012, 21:21:42
(ok, ausgerechnet der Herr der Ringe macht einem da einen Strich durch die Rechnung)

Wie meinst Du das? Mittelerde ist eine sehr komplexe monotheistische Welt. Es gibt einen Schöpfer (Ilúvatar) und die "Heiligen" (Ainur), die sich in die "Orden" der Valar und der Maiar unterteilen. So, jetzt fehlen mir die Anhänge, und ich bin auf das Silmarillion als Bezugsquelle angewiesen, aber ich glaube mich zu erinnern, daß die Istari, zu denen auch Gandalf und Saruman zählen, zu den Maiar gehören. (Verzeiht bitte das etwaige Sprachenwirrwarr, wie gesagt, mir fehlen die Anhänge.  :seufz:)

Ich scheue mich ein wenig, dies so zu formulieren, aber ich weiß nicht, wie ich es besser vergleichen könnte, damit es klar(er) wird: Das "Silmarillion" ist wie das Alte Testament, "Der Herr der Ringe" wie das Neue Testament, und Aragorn ist eine Art Messias. (Alles natürlich im weitesten Sinne übertragen.) Nach Aragorn wird sich alles verändern, die Elben werden zum größten Teil über das Meer gehen (was sie ja am Ende des dritten Bandes des HdR bereits tun), und nichts wird mehr sein, wie es einmal war. Ein neues Zeitalter beginnt.

"Der Herr der Ringe" und das "Silmarillion" sind Bücher, aus denen sich meines Erachtens nach im weiteren Verlauf von Mittelerde Religionen im hiesigen Sinne entwickeln könnten, mit all dem, was dazugehört: Rituelle Handlungen, Tempel, Opfergaben, falschen Interpretationen, Glaubenskriegen. Und genau darin besteht der Unterschied zu anderen Fantasybüchern: Es ist eine Grundlage im Entstehen, und nichts Fertiges, auf dem aufgebaut wird.

Es gibt im "Herrn der Ringe" genügend Hinweise auf die Geschichte Mittelerdes, auf das, was vorher war, und auf das, was kommen wird, auf das, worum es eigentlich geht. Meist sind sie in Verse gepackt, oft genug sind es einzelne Sätze, Aussagen, die leicht überlesen werden können. Als Leser muß man sie nur finden. Die Verfimungen sind hierbei nicht sehr hilfreich, wobei der Bakshi-Film in dieser Hinsicht noch zumindest Ambitionen zeigt.

Moni

#11
@Ryadne: das erinnert mich daran, dass ich da seit ewigen Zeiten ein begonnenes Essay zu Göttern in der Fantasy rumliegen habe und es unbedingt fertigstellen muß. Die von dir aufgeworfenen Fragen habe ich mir auch immer wieder gestellt, daher kam die Idee zu einem Forenpost, welches dann irgendwann immer länger wurde, so dass ich das Ganze in ein Essay für mein Blog ausbauen wollte.  ;D

@Maran: ich glaube, Ryadne meinte, dass göttliche Elemente im Herrn der Ringe keine so aktive Rolle spielen, wie es in vielen anderen Werken der Fall ist. Es ist ja eher so, dass sich alles göttliche bewusst aus den Geschehnissen Mittelerdes heraushält und es schon besonders kühner Einzelpersonen, wie Earendil (ich krieg die Sonderzeichen auf der Arbeit nicht hin), bedarf um die Ainur zur Handlugn zu bewegen.

Die Istari sind Maiar, das ist korrekt. Zu denen zählte übrigens auch Sauron, während sein Herrscher Morgoth zu den Ainur zählte, als er noch den Namen Melkor trug. 8)

Die Vergleiche Silmarillion = AT und HdR = NT mit Aragorn als Messias... die habe ich des öfteren gelesen, empfinde es persönlich aber schon als Überinterpretation, wobei natürlich klar erkennbar ist, wie die Herleitung zu stande kommt (bietet sich ja durchaus an  ;) ).
Deutsch ist die Sprache von Goethe, von Schiller...
und im weitesten Sinne auch von Dieter Bohlen[/i]
Stefan Quoos, WDR2-Moderator

»Gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen,
ist alles andere im Leben ein Kinderspiel.«[/i]
Johann Wol

Ryadne

@Maran
Leider hab ich es nicht so gemeint, dass göttliche Elemente keine Rolle spielen, sondern tatsächlich hab ich es nicht besser gewusst. ;) Ich hab gehört, dass es da wohl so einen Schöpfer und die Ainur gibt, aber mein Mittelerde-Wissen ist sehr begrenzt. In dem Allgemeinthread zu den Göttern hab ich gelesen, Der Herr der Ringe käme ohne Götter aus, deshalb hab ich es in den Eingangspost übernommen, bevor mir das einer als Gegenbeispiel nennt. Aber wenn es diesen göttlichen Hintergrund gibt, ist es ja umso interessanter, dass dennoch auf religiöse Strukturen verzichtet wird (wenn dem so ist). Wenn man es so sieht, dass hier die Grundlage für eine Religion gegeben wird, kann man sich ja auch fragen, warum die erst jetzt aufkommen, wo die Unterschiede zum vorherigen Verständnis von Göttlichkeit liegen und ähnliches.

@Moni
Ja fix dransetzen, und dann schön verlinken, damit wir das Essay auseinander nehmen können. ;)

metajinx

Gotter und Glaube allgemein haben den erzählerischen Vorteil, dass damit erklärter Fanatismus bis hin zum völlig skurrilen Verhalten mit kurzen Worten für jeden Menschen verständlich erklärt ist. Wir kennen auch im modernen Leben Glaubensfanatiker, die extreme bis hin zu schreckliche Dinge tun, nur weil sie glauben ihre Religion (und damit ihr Gott) fordere das.
Man kann durch die Einführung von Göttern auf sehr schnelle Art Informationen transportieren, vor allem wenn man sie mit Schlagworten oder kurzen Schlüsselszenen kombiniert. Eine stark religiöse Gemeinschaft, die Krieg gegen die Gemeinschaft eines anderen Glaubens führt? Man hat sofort ein Bild im Kopf, auch wenn gut gegen böse erst durch die weitere Handlung zugeordnet werden.
Eine Gemeinschaft, die einem friedlichen Glauben folgt, und wegen ihrer Friedfertigkeit angegriffen wird? Schwupps, nächste lebendige Szene im Kopf.

Ich glaube, dass das einer der Hauptgründe ist, Glaube und Götter in eine Geschichte einzubringen. Das Thema ist auch heute sehr aktuell, transportiert wunderbar (oder erschreckend) gut Informationen, und ist ohne große Recherche zu bedienen.

Moni

Zitat von: Ryadne am 20. April 2012, 12:52:31
@Moni
Ja fix dransetzen, und dann schön verlinken, damit wir das Essay auseinander nehmen können. ;)

Mit fix wird das nix, fürchte ich. Ich sitze an dem Teil seit ca. 7 Jahren und finde immer wieder neue Materialien, die ich aufnehmen muß. Irgendwann wird das so umfangreich, dass ich es als Sachbuch zum Thema Fantasy veröffentlichen kann.  ;) Das ist mit kompletter Herleitung über Ur-Religionen und theologischen Hintergrund schon lange über ein Essay hinausgewachsen.  8)
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