Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Darielle am 02. April 2011, 17:50:28

Titel: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Darielle am 02. April 2011, 17:50:28
Hallo Tintenzirkler,

nach einiger ungewollter abstinenter Zeit habe ich endlich wieder Internet daheim. Die grundlegenden Probleme sind gelöst und ich versuche mehr und mehr an meiner ollen Kamelle (immer noch "hunting quiet shadows") zu arbeiten und zu lernen.  :40°C:

Derzeit bin ich bei ca. 30.000 Wörtern und werde mehr und mehr unzufrieden. Warum? Mein Prota ist allein in der Welt, kommuniziert nicht wirklich mit irgendwem. Er quatscht mich nur zu, was grade so passiert und wie er sich fühlt, wobei er täglichen Stimmunsschwankungen und Launen unterliegt.
Mir wurde alles zu langweilig. Schließlich überlegte ich, meinen Anta doch etwas liebenswerter zu machen. Dies bedeutet, dass er (Dr. Fauch, der Leiter des Experiments) sich in seine Assistentin verliebt bzw. beide eine Affaire haben. So könnte man alles etwas menschlicher gestalten.
Nun gelingt es mir aber absolut nicht, künstlerisch einen Charakter einzufangen, festzuhalten und zu skizzieren. Ich versuchte es mit Tips wie "Beobachten Sie die Menschen in ihrer Umgebung und begreifen Sie, wie diese sich verhalten. Schließen Sie auf ihr Denken und Fühlen..." Leider bisher erfolglos. Nirgendwo sonst fand ich Bücher oder ähnliches, was mich wirklich zum Ziel bringt. Ich analysiere und erkenne einzelne geschriebene Charaktere anderer Autoren (Christoph Marzi schuf das Mädchen mit dem Glasauge - ein entscheidendes Merkmal). Dennoch gelingt es mir nicht, einen Chara zu schaffen, der weder etwas beinhaltet, was andere schon verwendet haben, noch zu fremd ist.

Vor allem soll sich während des Plots herauskristallisieren, wie sich der Chara entwickelt und welche Eigenschaften sich verstärken/ verändern / verschwinden. So, das also zu meinem Plan.

Nun meine Frage in die Diskussionsrunde (ich weiß, es gibt kein Rezept):
Gestaltet ihr eure Charaktere mit einem Hauch von euch selbst, mit Erfahrung oder gänzlich aus dem Bauch heraus? Zweifelt ihr an euren ersten Entwürfen, würdet ihr gern etwas anderes machen?
Ich suche keine Schablonen oder dergleichen, aber Handwerk kann sich nicht immer selbst beibringen.  :buch:

Ich hoffe, dieses Thema wurde noch nicht im Unterricht drangenommen, habe in der SuFu nichts gefunden.

Liebe Grüße an die freischaffende Gesellschaft da draußen! :)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Runaway am 02. April 2011, 17:59:45
Ich verfalle beim Charakterentwurf gern in Schemata. Es gibt einen Helden, einen Antagonisten, einen lustigen besten Freund des Helden für Running Gags...
Am Anfang lege ich Eckdaten für sie fest. Wie alt, wie sehen sie aus, wie sind sie so.

Aber der Rest kommt von selbst. Einfach so. Sobald die Charas das erste Mal den Mund aufmachen, gestalten sie sich selbst und legen sich fest. Manchmal geht das auch total nach hinten los und die werden ganz anders als gedacht.
Bei mir geht das also, wenn man mal von dem bewußt konstruierten Grundgerüst absieht, komplett aus dem Bauch heraus. Das klappt auch immer gut. Ich hab mir schon sagen lassen, daß ich immer sehr nette Charas habe, die auch eigentlich immer irgendeine Entwicklung durchmachen.
Aber warum das so ist? Keine Ahnung. Ich hab mir hier auch schon sagen lassen, daß ich meine Charaktere wohl sehr liebe und sehr respektvoll behandle. Ich hab mich gewundert und mich gefragt, ob das nicht jeder Autor so macht.

Vielleicht ist das mein Rezept. Ich nehme meine Charaktere total ernst. Die sind für mich auch echt. Ich schlüpfe beim Schreiben auch total in die Rolle desjenigen. Man könnte sagen, ich lebe mit ihnen, solange ich ihre Geschichte erzähle :)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Darielle am 02. April 2011, 18:20:28
Danke Runaway für deine liebe Antwort.

Also ich mache das alles auch mehr intuitiv, aber irgendein Gewürz fehlt mir immer. Mir erscheinen meine Charas selbst einfach viel zu schablonenhaft, sie lernen nichts, was sie nicht den nächsten Tag schon wieder vergessen hätten und dann machen sie einfach weiter wie vorher. Insbesondere mit meinem Prota Ray geht es mir so. Der verwickelt sich selbst in extreme Monologe, wie er sich fühlt, wie sich die Emotionen in der nächsten Sekunde ändern und am Ende steht er da und weiß nicht was er noch soll. Aus diesem Dilemma würde ich ihn gern befreien, weiß aber nicht so recht wie. Natürlich ist so ein Wissen auch für spätere Werke von immenser Bedeutung.
Ach, ich komme einfach nicht weiter...  :hmmm:
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: moonjunkie am 02. April 2011, 20:58:02
Vielleicht hilft da ein Perspektivwechsel? Jemand anderes aus Deiner Geschichte könnte Deinen Chara treffen und ihn charakterisieren. Oder Du schickst ihn an einen Ort, wo er überhaupt nicht hinpasst und guckst mal was er so macht. Oder Du stellst Dir vor, dass Du Dich mit ihm unterhältst oder etwas mit ihm unternimmst?

Ich persönlich habe irgendwie auch kein Rezept für meine Charaktere. Was sie platt machte ist wenn sie entweder nur gute Eigenschaften haben oder nur schlechte - daher bist Du doch mit Deiner Affäre von Dr. Fauch auf einem guten Weg. Daraus lässt sich sicher etwas machen. Vielleicht musst Du noch eine Aufgabe für Deine Charas finden oder Du lässt sie mal einen Fragebogen beantworten mit allgemeinen Infos (Name, Alter, Aussehen, Gewicht, Geburtsort) und dann Geschmacksfragen (Musik, Filme, Hobbies, Beruf, Lieblingsessen, Lieblingsurlaubsort, Lieblingsbuch, Sport, Haustiere). Solche Fragebögen bekommt man doch immer mal zugeschickt, bestimmt findest Du sowas auch im Internet. Die Idee fand ich selbst ganz witzig und habe so auch noch ein paar Dinge über meine Charas herausgefunden, auch wenn die jetzt nicht wirklich in der Geschichte auftauchen, manchmal aber doch.

Einen Lebenslauf könnte man auch verfassen, einen typischen Tag beschreiben. So lernt man meistens noch etwas über die Figuren. Oder Du stellst z.B. Ray mal in den Vorstellungsgesprächen hier im Forum vor. Sicher kann Dir dann jemand ein paar Fragen stellen, die Dir weiterhelfen.

Hoffe, Dir hilft irgendwas davon weiter...
LG

Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Malinche am 02. April 2011, 21:06:40
Die Vorstellungsgespräche würde ich dir auch empfehlen. Mir hilft es oft, einen Charakter auf Herz und Nieren zu prüfen, mir seine Biographie auszudenken, auch, wenn in der letztendlichen Geschichte gar nicht viel davon vorkommen wird. Die Rubrik mit den Vorstellungsgesprächen hier im Forum ist da sehr hilfreich, weil Fragen gestellt werden, an die man selbst unter Umständen gar nicht so denkt.
Aber Grundlagen kann man sich auch alleine erarbeiten und z.B. den Charakter auf ein imaginäres Sofa legen und so richtig ausquetschen.


Wie moonjunkie auch schon geschrieben hat: Es gibt Charakterbögen, oder man bastelt sich selber welche.

Man sollte sich vielleicht nicht unbedingt von dem Grundsatz leiten lassen, dass der Charakter möglichst außergewöhnlich sein soll. Ich tue immer so, als wären meine Figuren wirklich da. Nicht ich als Autoren schreibe ihnen ihre Eigenschaften zu, sondern sie haben die schon. Und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, wer sie sind, damit ich über sie schreiben kann. Im Prinzip ist das wohl, was Runaway schreibt:

Zitat von: RunawayIch nehme meine Charaktere total ernst. Die sind für mich auch echt.

Das Schöne ist, dass deine Charaktere dich auf diese Weise überraschen können, wie es jemand im echten Leben tun könnte. Mein böser Sheriff hat mir erst in den Vorstellungsgesprächen verraten, dass er ein Macho und ein Rassist ist - ich wusste davon nichts. Oder meine gutmütige Köchin, die mich urplötzlich damit konfrontierte, dass sie zu einer Rebellenbewegung gehört. Damit ist sie sogar erst während des Schreibens rausgerückt. Aber damit sowas klappt, ist es natürlich gut, vorher Grundlagen zu schaffen. Dann geben die Charaktere gerne etwas von sich preis.

Mir persönlich helfen also Charakterbögen und die Frage nach der Biographie. Manchmal steige ich sogar noch in die Lebensgeschichten der Eltern ein, um ganz sicher zu sein, wer diese Figur ist, wo sie herkommt und warum sie so geworden ist, wie sie ist. Ich frage mich, wie sich die Figur in einer bestimmten Situation verhalten würde.

Wichtig ist, denke ich, dass man als Autor seinen Charakter als lebendig und mehrdimensional im Kopf hat, als ein Wesen mit Widersprüchen und einer Geschichte. Wenn man an diesem Punkt ist, macht sich das nach meiner Erfahrung auch beim Schreiben bemerkbar.  :)


Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Churke am 03. April 2011, 10:10:11
Ich arbeite rein intuitiv. Wenn ich genug Informationen über eine Figur habe, und die liefern mir Plot und Story, dann kann ich einfach sagen, wie die Person tickt und mich in sie hinein versetzen. Deshalb überraschen mich meine Figuren auch nie.

Das ist leider keine Hilfe, ich weiß. Was allerdings grundsätzlich sehr hilfreich finde, um einen Charakter lebendig zu machen, das sind Widersprüche im Verhalten.  Wenn der Feigling plötzlich doch Mut zeigt. Wenn der Schwachmatiker eine geniale Idee hat. Oder oder oder. 
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Darielle am 03. April 2011, 19:37:32
Danke danke an alle die geantwortet haben - ihr habt mir wirklich schon sehr weiter geholfen. Ich hätte nicht gedacht, dass man sich wirklich so sehr mit einem Prota befassen muss, wenn man eigentlich einen Plot hat, der mehr auf Tiere (in meinem Fall die Ratten) ausgelegt ist. Aber andererseits muss ich natürlich eine Entwicklung in Ray hinbekommen...

Also ich werde mich nochmal hinsetzen und intensiv mit Charakterbogen, Biografie und dergleichen Gesprächen mit Ray befassen.
Dr. Fauch muss ebenfalls zu Wort kommen, am Rande vielleicht sogar seine Assistentin. Noch ist die Affaire eine Grundidee von der ich noch nicht weiß, ob meine Charaktere das wollen. Bin sehr gespannt, ob und wie sie mit mir kommunizieren.

Habt dank, große Meister der geschriebenen Sprache! :)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Kraehe am 03. April 2011, 20:31:39
Wenn dir die Antwort auch noch willkommen ist:
nicht nur Charakterbögen.
Man kann auch super kleine Szenen mit dne Charas schreiben, sowas wie "Chara allein im Wald".
Es ist nämlich beispielsweise so, dass ein öder, leerer Wald ja nichts anderes ermöglicht, als dass du dich nur mit dem Chara befasst und der Chara sich nur auf sich oder seine Umgebugn konzentriert. Wie er das dann tut, ob er es tut, worüber er nachdenkt, wie er was sieht, das alles gibt auch Aufschluss.
Natürlich kann man sich da auch andere Settings überlegen. Aber ich mag gerne die, wo der Chara erstmal sehr allein ist, damit man ihn ausloten kann.
Das funktioniert allerdings erst dann wirklich besonders gut, wenn man den Chara doch schon kennt.
Eckdaten am Anfang festlegen ist eigentlich essentiell, damit man weiß, mit wem man es zu tun hat. Charabögen und Vorstellungsgespräche sind da gut :)
Als nächstes sollte man Interviews führen, gern auch mit dem nicht-entwickelten-Chara und dem am-Ende-Chara, um die Differenz zu sehen. Biographie in Abrissen festhalten.
Danach kann man dann Szenen schreiben.

Und dann an die eigentliche Geschichte gehen, weil man den Chara letztlich eben doch erst da so richtig, richtig kennen lernt. So läuft das bei mir zumindest mit den Charas, von denen ich dann auch wirklcih sagen kann, dass ich sie gut kenne ;)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Darielle am 04. April 2011, 17:45:04
 :pompom: Danke Krähe, das hast du schön gesagt.^^

Also ich beginne auch mit Eckdaten und habe die Figur ja auch optisch im Kopf. Die Optik sagt bei meinen Charas viel über ihr Innenleben aus (Dr. Fauch z.B. wirkt durch sein langes rotes Haar wie ein Fuchs, und er ist ein sehr rationaler Mensch). Ray hat kein schmales Gesicht, weichere Züge. Das stilisiert seine Liebe für die Tiere. Mit kurzgeschnittenem Haar scheint er ein moderner, mit Verstand ausgestatteter Kerl zu sein, und studieren kann er auch! *bewunder*

Naja, mit sowas beginne ich und viel mehr weiß ich nicht. Ich weiß z.B. nicht, warum Ray keine Freundin hat, vielleicht weil das für den Plot sonst schädlich gewesen wäre. So ist er immerhin unabhängig. Aber vielleicht wäre es auch gut so und würde das knallharte Ending etwas zarter machen. So viele Möglichkeiten und so viele Hintergründe, die es gilt zu erfoschen.
Hauptsächlich versuche ich meine Charas während des Plots kennen zu lernen. Ich weiß wo sie enden sollen und sie sagen mir dann, wie sie da hin kommen. Wenn das mal keine Partnerschaft ist. Ckaraktership. (Dämlich abgeleitet vom unmöglichen Wort Horsemanship, was so in etwa "Pferd sein" bedeutet und die partnerschaftliche Beziehung zu Pferden beschreibt.)

Ja, da muss ich wirklich noch eine Menge lernen, aber hier ist doch wohl der Weg das Ziel. :)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Nycra am 05. April 2011, 13:32:13
Also nach allem, was ich von dir gelesen habe, denke ich schon, dass du Malinches Tipp ernst nehmen und deinen Prota mal ins kalte Wasser werfen solltest, indem du ihn zu einem Vorstellungsgespräch schickst.

Ich habe mich anfangs auch nicht getraut, aber nach einer Weile fand ich es lustig, welches Eigenleben und Charakterstärken meine Protas entwickeln können, wenn sie erstmal Fragen anderer beantworten müssen. Das ist nämlich mitunter ganz schön schwer. Die lieben Zirkler hier haben nämlich den Hang nach Dingen zu fragen, auf die du selbst im Traum nicht kommst - okay, die Fragen nach der Farbe der Lieblingssocken fehlte noch, wird aber bestimmt auchmal kommen.

Wie auch immer, bevor ich das Vorstellungsthema für mich entdecken konnte, hab ich mir innerhalb des Forums über den Prota-Anta-Laber-Fasel-Fred ausgetobt, da kann man einfach mal drauflosschwafeln und bekommt - im schlimmsten Fall - eins vor den Latz geballert. Ob von dem Char selbst oder den anderen Anwesenden ....

Um aber nochmal darauf zurückzukommen, wie ich meine Charas "leben" lasse. Das ist wirklich schwer zu erklären. Wenn ich nicht schon eine genaue Vorstellung davon habe, spiele ich gedanklich mehrere Situationen durch, so wie unten der erwähnte Wald. Ich zwinge mich dazu, den Char antworten/reagieren zu lassen. Mimik und Gestik entwickeln sich dann von selbst. Im Laufe der Zeit wurden dadurch aus oberflächlichen Ich-bin-der-Held-ihr-müsst-mich-alle-lieben-Chars tiefgründige, zuweilen düstere, heitere etc. Chars. Wie gesagt, es ist eine Frage der Entwicklung und eine Faustregel kann ich auch nicht abgeben. Was ich allerdings gerne zugebe. Alle Chars, auch die Bösen sind meine Babys - vielleicht kommt daher auch die Empathie, die ich schriftlich versuche darzustellen und die ihnen den entsprechenden Charakterzug verleiht.

Ach ja, es ist auch mal ganz interessant, seinen eigenen Charakter einfließen zu lassen. In einem meiner Buchprojekte agiert/spricht eine meiner Protas wie ich. Interessanterweise gehen dabei die Meinungen der Betaleser stark auseinander. Was mich wiederum davon überzeugt, dass das gar nicht so verkehrt ist. Wenn man mit 10 Menschen in einem Raum ist, nehmen alle einen selbst unterschiedlich wahr. Damit gestaltet man einen Charakter weniger eindimensional. Mir hat es geholfen, allerdings passte die Figur auch in mein Setting, dass in der Echtzeit spielt. Im Mittelalter hätte sie wohl keinen Tag überlebt, geschweigedenn so ein Verhalten überhaupt erlernen können.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Farean am 06. April 2011, 17:02:48
@Darielle: ich hoffe, ich bin noch nicht zu spät mit meinem Input?

Frage: wie gut kennst du eigentlich dich selbst? Und wie bist du zur Zeit emotional drauf? Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es mir extrem schwer fällt, einen jugendlichen, dynamischen Helden zu schreiben, wenn ich selbst total erschöpft und ausgelaugt bin.

Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich eine Schlüsselemotion habe, über die sich mir meine Charaktere am besten erschließen. Bei mir ist das der Stolz. (Hatte ich, glaube ich, auch schon mal irgendwo gepostet.) Ich komme immer am leichtesten in einen Charakter rein, wenn ich fühle, was ihn stolz macht, und mich darauf besinne, was mich selbst stolz macht. Das ist sozusagen die Saite, die meine Charaktere und ich gegenseitig aneinander zum Schwingen bringen. Vielleicht gibt es ja auch für dich eine solche Schlüsselemotion?

Ansonsten schließe ich mich der allgemeinen Empfehlung an, deinen Protagonisten doch mal zu einem Vorstellungsgespräch zu schicken. Das lockert Autor und Charakter, jedenfalls bei mir. :)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sanjani am 07. April 2011, 00:35:42
Hallo Darielle,

auch ich möchte noch kurz meinen Senf dazugeben. Leider erfolgt bei mir die Charaktererschaffung auch sehr intuitiv. Deshalb nützen mir persönlich fragebögen nicht so viel, weil mir in dem Moment, wo ich das durcharbeite, keine wirklich brauchbaren Antworten einfallen.
Mir fällt aber was anderes auf. Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber ich oute mich trotzdem mal ;-) Manchmal, v. a. wenn eine Geschichte länger ruht, tauchen bei mir nachts meine Charas auf und spinnen mir irgendwelche Szenen zusammen, die es in meiner Geschichte nicht geben kann und nicht geben wird, aber diese Szenen passen sehr gut zu den Charakteren. Grundsätzlich ist es bei mir auch so, dass meine Charaktere sehr eng mit meinem Plot vernetzt sind. vielleicht hilft es dir daher auch mal zu überlegen, wie dein Plot aussehen soll - sofern das schon fest steht - und welche Rolle die Charas dort haben. Z. b. wenn du viel über Tiere schreibst, frag dich, warum gibt es da überhaupt Menschen und nicht nur Tiere? welche Konflikte gibt es vielleicht im Plot und wie werden diese gelöst? Warum ist Ray ein Mann und nicht eine Frau?
Und - um noch mal auf die Szenen zurückzukommen -, vielleicht ist es sinnvoll, die allein im Wald Szenen auf andere Szenen auszuweiten, wo er mit Leuten zusammen ist und wo vielleicht auch was Erschreckendes oder Dramatisches passiert. So, wei ich es verstanden habe, hast du ja schon viel über den Chara allein geschrieben. Da liegt es nahe sich mal mit ihm in gesellschaft und in Extremsituationen zu beschäftigen.

Vielleicht hilft es ja etwas weiter.

LG Sanjani
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Darielle am 09. April 2011, 11:22:00
Ui, hier ist ja schon wieder etwas passiert *mit Zehe im Sand scharr*.

Nochmals danke für eure guten Gedanken, das hilft wirklich. Es spornt an.^^

@ Nycra Na DAS nenne ich interessant. Also dass ein Prota so durch Sprache lebendiger werden kann, hätte ich nicht gedacht. Natürlich ist Sprache auch ein wichtiges Indiz für den Leser, ohne Frage. Aber irgendwie konzentriere ich mich immer zu sehr auf das Verhalten der Charas. Naja und so wirklich unterschiedlich reden meine Figuren gar nicht. Gut, sie stammen (zumindest die wichtigsten) aus der gleichen Stadt, wo ein einheitliches Kauderwelsch verlangt wird *gg*

@ Farean Bei mir selbst ist das schwer. ich bin Borderliner. Heute so, morgen so, bzw sogar schon heut Abend. Das heißt, ich kann nicht vorausplanen, wann es Zeit ist zu arbeiten und dann im gewollten Augenblick spontan die Ideen sprießen zu lassen. Die Ideen müssen mich heimsuchen, erst dann geht etwas vorwärts.
Außerdem geht mit der Störung auch eine gewisse Depression einher, die immer spürbar ist. Mein ganzer Roman ist bisher nichts anderes als eine Anhäufung von Wutausbrüchen/ Heulkrämpfen und Verzweiflung. Naja, gelegentlich funkt mal etwas Neugier heraus, das wars aber auch schon. Ich hatte alles ganz anders geplant, wie die Idee umgesetzt werden sollte... Nun tippe ich trotzdem an der Rohfassung als Grundlage weiter und schreibe sie später Stück für Stück um. Das ist für mich einfacher, als alles gleich niederzutreten und völlig neu zu beginnen. Immerhin habe ich noch nie zuvor so dermaßen lange an einem projekt gearbeitet, mit so viel Ausdauer so "viel" geschafft. Das gibt man nicht gern wieder her, auch wenn die Hälfte davon schrott ist.

Diese Schlüsselemotion wie du sie beschreibst, ist bei mir auch vorhanden. Meistens ist das Wut/ Hass. Seltener stelle ich mir vor, wie mein Buch aussehen soll, wenn es (und das wird es, egal ob heute oder in hundert Jahren!) im Handel zu kaufen sein wird. Das Cover habe ich schon sehr genau im Kopf und dann kommt diese Emotion "Ich will um jeden Preis Aufmerksamkeit". So, damit schreibt es sich dann leichter, bzw die Disziplin ist leichter einzuhalten. :D

@ Sanjani Ich schreibe bewusst über das intensive Zusammenleben von Tier (Mensch) und Tier. In meinem Roman geht es eben um den Konflikt, den dieses Zusammensein bedeutet - vor allem in der sog. Zivilisation. Daher wäre es nicht sinnvoll, nur die Ratten spielen zu lassen, zumal sich Mensch kaum in die Gedanken eines solchen Nagers hineinfitzen kann. Das seh ich ja immer wieder an meinen, die ich hier daheim habe, und die sind schon sehr an den Menschen angepasst. Der Einfachheit halber (da ich ja nun blutiger Anfänger in solchen Dingen bin) habe ich nur einen Prota gewählt, weil ich glaubte, dass der Plot ohnehin schon vollgestopft genug ist. Da das sich nicht zwingend bestätigt, hatte ich ja über diese Affaire nachgedacht, obwohl diese Idee nichts mit dem plot an sich zu tun hat. Irgendwo muss ich da noch Brücken bauen.

Aber so generell ist diese Sache mit der "Wald-Szene" natürlich sehr interessant. Denke, auch das werde ich früher oder später einmal ausprobieren. ;)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sven am 09. April 2011, 14:36:34
Hallo Darielle,

mir geht es so wie Runaway, was die Schemata angeht. Da kommt man häufig auch mit viel  :pfanne: nicht raus.

Wenn ich Schwierigkeiten mit Charakteren habe, suche ich mir einfach Schauspieler heraus, die für mich einen bestimmten Typus darstellen. Dadurch kenne ich den Charakter mit einem Mal viel besser und kann darauf aufbauen. Mir die Figur so zurechtkneten, wie ich sie brauche.

Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sanne am 09. April 2011, 14:52:55
Zitat von: Sven am 09. April 2011, 14:36:34
Wenn ich Schwierigkeiten mit Charakteren habe, suche ich mir einfach Schauspieler heraus, die für mich einen bestimmten Typus darstellen. Dadurch kenne ich den Charakter mit einem Mal viel besser und kann darauf aufbauen. Mir die Figur so zurechtkneten, wie ich sie brauche.

Das ist gar keine schlechte Idee ... *mal notiert*  :D
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sven am 09. April 2011, 15:09:18
Zitat von: Sanne am 09. April 2011, 14:52:55
Das ist gar keine schlechte Idee ... *mal notiert*  :D

Dann sind wir ja jetzt quitt  ;D
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Runaway am 09. April 2011, 20:09:56
Das mit den Schauspielern ist großartig, da kann ich nur zustimmen. Wenn ich meine Charaktere erschaffe, laufe ich innerhalb einer Woche los, studiere mein DVD-Regal, gucke mir Bilder von möglicherweise passenden Schauspielern an und schon werden die Herrschaften richtig greifbar - zumal wenn ich sie dann auch noch leicht abgewandelt zeichne... ganz heißer Tip!!
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sven am 10. April 2011, 10:57:33
Schön, dass es andere auch so machen  ;D
Das Schöne bei Schauspielern ist auch, dass sie in verschiedenen Filmen anders aussehen. Dadurch kann man bei seinen Charakteren zwar bei einem Lieblingsschauspieler bleiben und kommt dennoch nicht in Gefahr, ständig die gleichen Figuren zu haben.
Ein weiterer Vorteil ist auch, dass man eine Ausrede hat, wenn man sich Filme angucken möchte. Schließlich recherchiert man ja gerade, und das ist harte Arbeit!!!  :pompom:
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Franziska am 15. Mai 2013, 16:27:19
Ich krame mal diesen Thread aus, weil ich mich gerade genau mit dieser Frage beschäftige. Ich habe festgestellt, dass (nachdem ich schon 100 Seiten geschrieben habe) meine Charaktere noch nicht besonders viel Tiefe haben, bzw. nicht richtig lebendig wirken.
Wenn ich eine Figur habe, dann kommt sie meist mit komplettem Aussehen groben Eigenschaften und einer Geschichte. Ich fülle keine Charakterfragebögen a la: Größe, Eltern, Berufe etc aus. Das weiß ich meistens sofort.
Was dann nach und nach kommt sind die inneren Konflikte, die den Plot bestimmen. Was aus der Vergangenheit trägt die Figur mit sich herum, wie löst er Konflikte, wonach sehnt er sich und wonach glaubt er sich zu sehnen (Ziele),  und nicht zu vergessen: seine Ängste.
Das sind auch Dinge, die ich meistens recht schnell weiß, wenn auch unbewusst. Mannchmal weiß ich erst am Schluss, was die Figur nun eigentlich will.
Eine andere Dimension ist aber das, wie wir auch reale Personen beschreiben würden. Und da liegt meiner Meinung nach das, was Figuren wirklich lebendig macht. Das sind so kleine Eigenschaften, wie bestimmte Mimik oder Gestik, Körperhaltung. Wie geht er auf andere zu und warum? Was macht andere an ihm wahnsinnig, was mögen sie an ihm? Ein bestimmter Wortschatz, kleine Eigenheiten wie rauchen, Vorliebe für bestimmte Farben bei der Kleidung, Schmuck, Vorliebe für einen bestimmten Wein ... wie blickt er auf seine Mitmenschen?
Mir ist aufgefallen, dass ich Figuren dann besonders mag, wenn ich sie mir wirkich real erscheinen, wenn ich mir in jeder Situation vorstellen kann, wie sie reagieren würden. Wenn ich mir manchmal denke, ach ja, das ist ja nur eine fiktive Figur, die existiert ja gar nicht wirklich, wie schade, ich würde sie so gerne mal treffen.
Mir fallen selbst nur wenige solcher Figuren ein. Das ist auch wirklich sehr schwer, finde ich. Es sind manchmal wirklich die kleinen Details, die eine Figur lebendig machen, an die man sich erinnert, weil sie außergewöhnlich sind und man sich die Figur dann sofort vorstellen kann.

Etwas, das mich gerade anregt ist, sich zu überlegen, welche Figuren man besonders mag und warum? Wie werden sie beschrieben?
Habt ihr Beispiele dafür?
Ich muss sagen, dass ich die Klassiker da recht gut finde. Tolkien und J.K. Rowling machen das ziemlich gut.
Recht gut außerhalb von Fantasy finde ich da auch vor allem amerikanische Autoren: da läuft viel mehr über Dialoge als ich das oft in deutscher Literatur lese. Zum Beispiel Carson McCullers, Don Delillo, etc.
Eine andere Möglichkeit ist einem bekannte Leute zu analysieren und zu versuchen sich zu überlegen, was man an ihnen mag und was nicht, welche Eigenheiten sie haben ... jeder Mesch ist doch so individuell und Figuren in Geschichten sind oft so stereotyp. Dann kann man die Eigenschaften neu zusammensetzen, so dass man keine Angst haben muss, über jemanden zu schreiben, den man kennt.
Fallen euch vielleicht so kleine Eigenschaften bei eigenen oder bei Figuren in Büchern ein?

Das schwierige ist dann, dass man das alles nicht nur wissen sollte sondern auch in den Text einbinden und das möglichst show dont tellmäßig. So, dass es dem Leser kaum auffällt. Oft lese ich einen Text, die Figur wir mit ein zwei Eigenheiten eingeführt und dann geht es nur noch um den Plot. Man erfährt nichts über die Vergangenheit der Figur, man weiß nicht mal, wo sie lebt und wie alt sie ist. Das wird mir schnell langweilig, aber das ist sicher auch Geschmackssache.
Ich glaube, ich schreibe demnächst mal etwas dazu in meinem Blog ...
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Almarian am 15. Mai 2013, 16:45:54
Spannender Thread, den ich noch gar nicht gesehen hatte  :)

Franziska, ich fülle auch keine Charakterfragebögen aus, wie sie ja öfter empfohlen werden. Ich empfinde die meisten darauf angegebenen Daten als zu oberflächlich und nicht fantasieanregend.

Beim Lesen des Threads kam mir eine andere Parallele und würde gerne wissen, was ihr dazu meint:
Es gibt ja ein  anderes Umfeld, in dem versucht wird, schriftlich das "Besondere" an einem Charakter und an Einstellungen zu beleuchten, und das ist in Datingplattformen. Da gibt es Fragebögen, die sich mit Einstellungen zu wichtigen Bereichen im Leben beschäftigen und dazu dienen, Menschen zu charakterisieren (und zu vergleichen).
Ich oute mich hier mal als ehemalige Userin einer Datingplattform, die so etwas praktiziert. Ich muss zugeben, dass ich eine ziemlich genaue Vorstellung von den Personen bekommen habe und sie mir gleichzeitig dadurch realer erschienen.
Wäre das nicht interessant als alternativer Charakterfragebogen?

Zur Darstellung bestimmter Eigenschaften nutze ich gerne die Interaktion mit Kindern und Tieren. Dadurch kann man meiner Ansicht nach auch recht einfach Sympathie transportieren.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Debbie am 15. Mai 2013, 17:05:49
ZitatBeim Lesen des Threads kam mir eine andere Parallele und würde gerne wissen, was ihr dazu meint:
Es gibt ja ein  anderes Umfeld, in dem versucht wird, schriftlich das "Besondere" an einem Charakter und an Einstellungen zu beleuchten, und das ist in Datingplattformen. Da gibt es Fragebögen, die sich mit Einstellungen zu wichtigen Bereichen im Leben beschäftigen und dazu dienen, Menschen zu charakterisieren (und zu vergleichen).
Ich oute mich hier mal als ehemalige Userin einer Datingplattform, die so etwas praktiziert. Ich muss zugeben, dass ich eine ziemlich genaue Vorstellung von den Personen bekommen habe und sie mir gleichzeitig dadurch realer erschienen.
Wäre das nicht interessant als alternativer Charakterfragebogen?

Wenn du einen anständigen Charakterfragebogen hast, ist der in jedem Fall ausführlicher als so ein Fragebogen einer Dating-Plattform (wobei ich die, ihrem Zweck gemäß, für sinnvoll und nützlich halte), da er viel mehr intime Infos über den Charakter enthält.

@Franziska: Ich gebe zu, ich arbeite mit Fragebögen - die oft mehrmals neu oder nachbearbeitet werden müssen. Ich finde da den Tipp von Elizabeth George, die wichtigsten Eigenschaften (Aussehen, Eigenarten in Bewegung, Ausdruck, Sprache, etc.) aus dem Fragebogen auf eine Seite zu schreiben und während des Schreibens immer neben sich liegen zu haben, sehr hilfreich.

Und du hast Recht - am lebendigsten wirken Charakterbeschreibungen die "gezeigt" und nicht "erzählt" werden! Und dafür eignet sich natürlich am Besten der Dialog, und auch die Einstellung anderer Figuren zum Chara (zwischenmenschliche Interaktion). Ich bin auch der Meinung, dass deutsche Autoren da größtenteils nicht mit ihren amerikanischen oder englischen Kollegen mithalten können. In deutschen Romanen wird oft viel zu viel "erzählt" (finde ich) :d'oh:

Macht mir eine Figur echt Schwierigkeiten, lasse ich sie auch gerne mal einen handgeschriebenen Lebenslauf verfassen - in seiner oder ihren eigenen Worten. Da bekomme ich gleich mit, wie sich der Chara ausdrückt und wie er zu den verschiedenen Ereignissen in seinem Leben steht. Die Prota aus meinem Hauptprojekt hat mir z. B. jahrelang das Leben schwer gemacht, da sie mal schwach und dann wieder supertrotzig und stark war. Da musste ich ein bisschen dran rumfeilen, aber mit der Zeit wurde sie immer deutlicher . Mein Fehler war, dass ich sie anfangs so reagieren ließ, wie es am besten in den Plot passte - jetzt weiß ich, dass ich den Plot manchmal auf ihre Reaktionen "zurecht biegen" muss. Man lernt eben nie aus  :lehrer:
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: HauntingWitch am 15. Mai 2013, 17:11:17
Franziska, du sprichst etwas an, das mich ebenfalls seit Längerem beschäftigt.

Was mir dabei insbesondere auffällt, ist, wie perfekt viele Buchfiguren eigentlich sind. Z.B. bei Anne Rice. Alle ihre Vampire/Männer haben die richtige Figur, die richtige Grösse, das richtige Gesicht, die richtige Art zu sprechen, den richtigen Stil, viel Geld usw. Zwar weichen sie alle voneinander ab, aber dennoch sind alle irgendwie makellos. Ich finde ihre Bücher trotzdem toll. Aber es wirkt wirklich wie Fantasie und nicht "echt".

Hingegen gibt es andere Autoren, bei denen ich mich frage, wie sie es schaffen, ihre Protas so unperfekt sein zu lassen. Bei meinem Lieblingsautor ist z.B. einer Alkoholiker, ein anderer verbitteter Ex-Schlagerstar, eine weitere eine kaputte Teenie-Göre... Ich bewundere das sehr, denn ich ertappe mich selbst immer dabei, meine eigenen Figuren "perfekt" aussehen zu lassen. Sie entsprechen alle irgendeinem Idealbild, wenn auch verschiedenen Idealbildern (ähnlich wie bei Rice, nur nicht so gut  ;D).

Typische Eigenschaften und Kleinigkeiten? Nun, es gibt da Anton Gorodetsky aus Sergei Lukianenkos Wächter-Reihe. Den finde ich irgendwie total sympathisch, gerade weil er so lebensecht wirkt. Was es genau ist, kann ich aber nicht sagen. Vielleicht, weil er etwas launisch ist. Vielleicht, weil er im Grunde schwach ist. Vielleicht auch, weil er seine unperfekte Frau über alles liebt, weil sie unperfekt ist (das hat mir besonders im ersten Buch sehr gefallen, als die beiden sich kennenlernen; Da wird beschrieben, wie ihre Schöhnheit von innen heraus durch sie hindurch strahlt, obwohl ihr Gesicht nicht als klassisch schön gilt). Es ist schwer zu sagen, ich denke, es braucht nicht einmal so viele Kleinigkeiten, die erwähnt werden müssen. Die Frage ist eher, wie man sie hervorhebt.

Einer meiner Protas hat z.B. die Angewohnheit, sich von der Stirn her durch die Haare zu fahren, wenn er gestresst ist. Nun, das macht ihn "unperfekt". Aber immer noch habe ich das Gefühl, er sei beinahe zu perfekt. Reicht das nun aus? Oder brauche ich tausend Einzelheiten über ihn zu wissen, wie z.B., was seine teuersten Schuhe sind.

Ich beobachte die ganze Zeit reale Personen um mich herum und noch etwas fällt auf: Manche sind eben nunmal einfach vielschichtiger als andere. "Müssen" Protagonisten deswegen also vielschichtig sein? Dürfen sie nicht auch weniger vielschichtig sein als andere? Nun, erstere sind sicher die interessanteren. Letztere braucht es aber auch, sonst landet man am Ende doch wieder beim Überprotagonisten. Alles in allem ist es eine ganz schöne Gratwanderung, denke ich, auf der man sich nur immer wieder üben kann.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Debbie am 15. Mai 2013, 17:25:22
ZitatEiner meiner Protas hat z.B. die Angewohnheit, sich von der Stirn her durch die Haare zu fahren, wenn er gestresst ist. Nun, das macht ihn "unperfekt". Aber immer noch habe ich das Gefühl, er sei beinahe zu perfekt. Reicht das nun aus? Oder brauche ich tausend Einzelheiten über ihn zu wissen, wie z.B., was seine teuersten Schuhe sind.

Das macht ihn für mich nicht wirklich unperfekt; das ist nur eine Angewohnheit, die eben jeder irgendwie hat - der eine hat offensichtlichere, beim anderen fallen sie weniger auf.

Und Schuhe sagen für mich viel über eine Person aus. Tatsächlich ordne ich Menschen anhand ihrer Schuhe oftmals unterbewusst in Kategorien ein  :versteck: Eines der ersten Dinge, die ich zur "Einordnung" fremder Individuen heranziehe.

ZitatIch beobachte die ganze Zeit reale Personen um mich herum und noch etwas fällt auf: Manche sind eben nunmal einfach vielschichtiger als andere. "Müssen" Protagonisten deswegen also vielschichtig sein? Dürfen sie nicht auch weniger vielschichtig sein als andere? Nun, erstere sind sicher die interessanteren. Letztere braucht es aber auch, sonst landet man am Ende doch wieder beim Überprotagonisten. Alles in allem ist es eine ganz schöne Gratwanderung, denke ich, auf der man sich nur immer wieder üben kann.

Das ist wie im realen Leben: Die Vielschichtigen sind immer die, die am interessantesten sind, aus der Masse herausstechen und andere Menschen inspirieren, mitreißen, Leben verändern, etc.. Sie sind ideal als Protas, da es sich dabei meist um einzigartige Charaktere handelt, über die wir auch im realen Leben mehr erfahren möchten - soviel wie nur möglich. Personifizierte Rätsel!

Die Durschnitts-Typen eignen sich hauptsächlich als "Nebendarsteller" - sie bieten Projektionsfläche, Stabilität, Vertrautes, setzen den Standard und machen so die Vielschichtigen erst zu etwas Besonderem. Sie helfen uns bei der Orientierung in der fiktiven Welt. Aber sie sind eben nicht außergewöhnlich genug, um unser Interesse, bzw. unsere Faszination, auf Dauer zu wecken oder aufrechtzuerhalten.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Coppelia am 15. Mai 2013, 17:42:37
Ich finde, nicht vielschichte Protagonisten haben ihre Daseinsberechtigung. Wenn "einfach gestrickte" Personen auf komplizierte Probleme stoßen, wird es manchmal richtig interessant.

Wenn ich Personen vom Reißbrett erfinde, habe ich mit folgender Methode gute Erfahrungen gemacht: Ich gebe der Figur erstmal Eigenschaften, die man von ihr in ihrer Rolle erwarten würde. Dann gebe ich ihr eine oder mehrere andere Eigenschaften, die man von einer Figur in dieser Rolle nicht erwarten würde. Auf die Art bleibt eine Art Dynamik in der Figur, die ihr im Lauf der Zeit Tiefgang verleiht. (manchmal jedenfalls ;)) Eins meiner Lieblingsbeispiele ist mein Jung-Priester Alastair: Ich habe ihm erstmal den Wunsch verliehen, Gutes zu tun und die Menschen zu heilen. Das würde man von einem Priester erwarten. Dann habe ich ihm die Eigenschaft gegeben, sich mit der Hauptfigur schlecht zu verstehen und ständig mit ihr zu streiten. Nicht gerade das, was man von einem Jungpriester erwartet. Dann stellen sich natürlich von selbst Fragen wie: Warum streitet er mit der Hauptfigur? Daraus hat sich im Lauf der Zeit ein wirklich interessanter Charakter mit viel Hintergrund geformt, über den ich immer noch mehr erfahre. :)

Ich bin im Übrigen überhaupt kein Fan von besonders gut aussehenden Charakteren, aber damit stehe ich wohl ziemlich allein da. Die meisten Leser wollen wohl einfach schöne Figuren. Aber letzten Endes entscheidet das Aussehen ja auch nicht darüber, ob eine Figur lebendig rüberkommt.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Debbie am 15. Mai 2013, 18:08:36
ZitatIch finde, nicht vielschichte Protagonisten haben ihre Daseinsberechtigung. Wenn "einfach gestrickte" Personen auf komplizierte Probleme stoßen, wird es manchmal richtig interessant.

Ja, das stimmt - aber nur wenn sie das Potential haben (wenn auch verborgen), durch Schwierigkeiten über sich hinaus zu wachsen und den Rahmen des "Normalen" zu sprengen; wodurch sie dann ebenfalls zu einem "besonderen", vielschichtigen Charakter werden. Bis zu einem gewissen Grad, haben viele Menschen diese Fähigkeit - aber anhand der vielen Alkoholiker, Drogenabhängigen, Beziehungsunfähigen und Selbstmördern, sieht man auch gut, dass nicht jeder das Potential hat, mit seinen Aufgaben und den Widerständen des Lebens zu wachsen.

Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Coppelia am 15. Mai 2013, 18:29:37
Interessant finde ich Charaktere auch, wenn sie scheitern. Aber sie wachsen dann oft insofern, als dass sie das Problem erkennen, und das ist manchmal schon eine große Leistung.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Franziska am 15. Mai 2013, 18:41:46
Das stimmt, es hat ja auch seinen Reiz, eine Figur zu begleiten, die einfach nichts auf die Reihe kriegt und von einem Schlammassel in den anderen stolpert.
Zum Beispiel Jason aus True Blood. Man weiß einfach, das bei ihm nie etwas ein gutes Ende nimmt. Er versucht es immer wieder und gibt sich auch wirklich Mühe, aber er vermasselt es einfach immer.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Issun am 15. Mai 2013, 19:23:19
Zitat von: Coppelia am 15. Mai 2013, 17:42:37
Ich bin im Übrigen überhaupt kein Fan von besonders gut aussehenden Charakteren, aber damit stehe ich wohl ziemlich allein da.

Jedenfalls nicht ganz alleine.  ;D
Vor einigen Jahren habe ich begonnen, eine Vorliebe für unschöne, gealterte oder sonstwie ,,unzulängliche" Charaktere zu entwickeln, und diese Vorliebe ist mir bis heute erhalten geblieben. Oft frage ich mich, ob ich mit meinem Set an Charakteren die meisten - vor allem junge - Leser nicht in die Flucht schlagen würde. Wenn ich einmal einen Charakter als makellos schön beschreibe (zumindest für sein Alter, das bei den meisten Figuren, mit denen ich momentan arbeite, die Vierzigermarke überschreitet), dann darf man davon ausgehen, dass er zumindest innerlich nicht ganz so problemfrei ist; so habe ich zum Beispiel einen Kavalleriekommandanten, der zwar nicht schlecht aussieht, dafür aber psychisch angeknackst ist. Im Allgemeinen sind meine Charaktere aber vom Aussehen her Menschen, die man täglich in der U-Bahn treffen könnte, sie haben ihre kleinen Hässlichkeiten und Wehwehchen, sie verlieren ihre Haare und merken, dass ihre körperlichen Fähigkeiten mit zunehmendem Alter nachlassen. 

Zitat von: Debbie am 15. Mai 2013, 17:05:49
Macht mir eine Figur echt Schwierigkeiten, lasse ich sie auch gerne mal einen handgeschriebenen Lebenslauf verfassen - in seiner oder ihren eigenen Worten.

So mache ich es auch. Charakterbögen benutze ich, um mir einen groben Überblick über eine Figur zu verschaffen; aber zusätzlich höre ich gerne, was ein Charakter selbst über sein Leben zu sagen hat, was er betont und verschweigt, was er beschönigt. Damit bekommt man u.U. ein klareres Gefühl für die Krisen, die den Charakter zu dem gemacht haben, was er zu Beginn der Geschichte ist.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Melenis am 15. Mai 2013, 21:47:19
Damit habe ich selber Probleme. Ich versuche Figuren so echt wie möglich zu gestalten, aber weiß nicht, ob es mir gelingt. Auf der einen Seite glaube ich, dass Figuren, die überzeichnet sind, nicht echt wirken, eben nur wie Figuren wirken, aber andererseits kann nicht jeder nur lieb und nett und schüchtern sein. Ich versuche meinen Figuren Stärken, aber auch Schwächen zu geben, wobei ich die Schwächen bei manchen stärker, bei manchen weniger hervorhebe. Ich glaube, das gerade Schwächen Figuren ausmachen, und natürlich der Weg, den sie gehen, um ihre Schwächen zu besiegen, was aber nicht heißt, dass dies am Ende auch allen gelingt.

Und, auch wenn es schwer fällt, ich denke, man sollte seinen Figuren nicht nur kleine Macken geben (die zum Beispiel gerade bei Mary Sues sehr beliebte Tollpatschigkeit), weil ich bei den meisten Macken eher das Gefühl habe, dass sie nur eine Alibifunktion inne haben und die Figur eigentlich nur sympathischer machen sollen. Mir fällt es selbst schwer, meine geliebten Protagonisten "schlechter" zu machen, aber kein Mensch ist ohne Fehler, und es ist auch nichts verwerfliches daran, an eben diesen Fehlern arbeiten zu wollen. Wobei ich manche "Schwächen" mittlerweile nicht mehr lesen kann. Solche Dinge wie zierlicher Körperbau und flacher Oberkörper sind für mich keine Schwächen, genauso wenig Vollwaise zu sein. Bestimmt sind diese Dinge wichtig für die Person, und beeinflussen ihr Leben, aber mir fehlt da einfach was an Kreativität. Diese Dinge liest man so oft, dass man fast meinen könnte, jeder Mensch auf dieser Welt wäre Waise und müsste sein Leben als Dieb verdingen. Gähn  :d'oh:.

Wobei ich gestehen muss, dass ich die meisten meiner Figuren für zu langweilig halte. Ein, zwei stechen heraus, aber das war's auch schon. Wie gesagt, ich habe selber Probleme damit, Figuren zu gestalten. Ich hoffe einfach, dass sie sich im Laufe der Story entwickeln...  und wenn nicht...  :hmmm:

Grüßle
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sanjani am 15. Mai 2013, 21:57:56
Ich finde, es hängt auch viel vom persönlichen Geschmack ab. Der eine findet die Charas z. B. besonders lebendig, wenn sie möglichst viele Eigenheiten haben, der andere findet sie besonders lebendig, wenn er sich gut in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzen kann. Ich finde z. B. weder Tolkien noch Potter besonders gelungen. Bei Tolkien im Buch (gilt nicht für den Film) war mir viel zu wenig Gefühl beschrieben, sodass ich die Charaktere nur an ihren Taten messen konnte und das war mir zu künstlich. Bei Potter habe ich fast die Krise gekriegt, weil die Charaktere aus meiner Sicht wenig vielschichtig waren, ziemlich schwarz weiß und sie gerieten in jedem Band in dieselben Konflikte. So habe ich das jedenfalls erlebt. Ich konnte mich nur selten wirklich in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzen und damit waren sie für mich ziemlich hölzern und unrealistisch. Vielleicht lag es auch daran, dass sich das, was sie dachten und fühlten, nur wenig bis gar nicht mit meiner Erfahrungswelt deckte. Aber vermutlich muss man da einfach das treffen, was die meisten Leser anspricht und die anderen fallen eben unten durch.

Ich selber habe das Problem eigentlich nicht und meine Betaleser waren mit meinen Charas bisher immer zufrieden. Noch habe ich nicht herausgefunden, was einen Chara lebendig macht, aber die Vielschichtigkeit ist es m. E. nicht unbedingt (wobei es sicher dazu beiträgt) und die Rolle als Prota auch nicht. Ich hatte auch schon sehr lebendige Nebencharaktere, von denen Betas recht begeistert waren, obwohl ich nur wenig über deren Vergangenheit erzähle und sie auch keine eigene Perspektive haben. Ich denke daher eher, dass es mit der Interaktion zusammenhängt. Wenn sich jemand in Stresslagen immer durch die Haare fährt, dann ist das gut und schön, ist mir persönlich als Leser aber auch mehr oder weniger wurscht. Wenn aber ein Chara ständig bei den unmöglichsten Situationen spöttisch lächelt, weil er einfach etwas anders tickt als die anderen, und die anderen dann jedes Mal den Wunsch verspüren den Chara ins Gesicht zu schlagen, dann bietet das Zündstoff für einen handfesten Konflikt oder es bleibt nur ein Groll für die einen und ein Amüsement für den anderen.

Aber ich weiß nicht, ob es wirklich das ist. Ich habe auch schon über Charas geschrieben, von denen ich kaum etwas wusste, und trotzdem haben sie sich für mich ganz nah und bekannt angefühlt. Die sind aber noch nicht durch den Beta-Test gegangen :)

Was das Aussehen angeht - ich weiß jetzt nicht, ob das ein Blindending ist, aber ich habe manchmal ewig überhaupt gar kein Bild meines Charas vor Augen. Erst, wenn es relevant wird (z. B. ist er körperlich belastbar? Passt er durch das Loch?), spinne ich es mir spontan zusammen. Ich weiß nicht, ob so etwas schon mal dazu geführt hat, dass jemand sich 100 Seiten lang einen rothaarigen Chara vorstellte, um dann zu lesen, dass dieser in Wirklichkeit blond ist, aber ich mache das so, weil das Bild auch vorher i. d. R. nirgends in den Plot reinpasst ohne gekünstelt zu wirken. Ob meine Charas alle gutaussehend sind, vermag ich gar nicht zu sagen, weil ich mir manchmal was zusammenbastle, wo ich es schlichtweg nicht weiß. Oder ich hab z. B. einen hageren Chara, den ich mir als nicht so richtig attraktiv, sondern eher ein bissl hungerhakenmäßig vorstelle, aber ich weiß nicht, ob das beim Leser auch so ankommt. Die meisten haben aber zumindest attraktive Gesichter, glaub ich.

Mehr werde ich dazu jetzt nicht schreiben, weil ich das Gefühl habe, dass mich zu viel Nachdenken über das Thema von meiner intuitiven und für gut befundenen Charakterentwicklung wegbringt.

LG Sanjani
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Issun am 15. Mai 2013, 22:50:48
Zitat von: Sanjani am 15. Mai 2013, 21:57:56
Ich habe auch schon über Charas geschrieben, von denen ich kaum etwas wusste, und trotzdem haben sie sich für mich ganz nah und bekannt angefühlt.

So geht es mir, wenn ich Kurzgeschichten schreibe, vermutlich, weil ich in sie in komprimierterer Form Persönliches einbringe als in meine Romanhandlung. Die Charaktere der Kurzgeschichte leben gewissermaßen meine Gemütslage und brauchen daher oft keinen ausgefeilten Hintergrund. Wie gut diese Geschichten ankommen, kann ich mangels kritischer Leserschaft nicht einschätzen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, einen Roman mit mir unbekannten Charakteren zu schreiben, bzw. das eine Mal, dass ich es versucht habe, bin ich nach gut 200 Seiten gescheitert, und das war ziemlich hart für mich.

Bei Kurzgeschichten reichen mir auch ungefähre Anhaltspunkte, was das Aussehen angeht - nicht so bei längeren Geschichten. Für mich erzählt der Körper einer Figur auch deren Geschichte. Eine Narbe von einer alten Schusswunde hier, eine Verbrennung da, Schatten unter den Augen oder ein magerer Körper sagen schon manches über eine Figur aus. Mit solchen Merkmalen assoziiert der Leser etwas. So können mittels Beschreibung Klischees bedient oder auch aufgebrochen werden.
Aber das ist wohl am Ende doch Geschmackssache, und man sollte den Lesern auch nicht jedes Detail am Aussehen eines Charakters aufdrängen.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: HauntingWitch am 16. Mai 2013, 09:17:50
ZitatDas macht ihn für mich nicht wirklich unperfekt; das ist nur eine Angewohnheit, die eben jeder irgendwie hat - der eine hat offensichtlichere, beim anderen fallen sie weniger auf.

Und Schuhe sagen für mich viel über eine Person aus. Tatsächlich ordne ich Menschen anhand ihrer Schuhe oftmals unterbewusst in Kategorien ein   Eines der ersten Dinge, die ich zur "Einordnung" fremder Individuen heranziehe.

1) Natürlich ist "perfekt" auch eine Definitionsfrage. Ich finde ihn ja gerade deswegen super.  ;) Dahinter ist auch der Gedanke, dass Angewohnheiten erst "perfekt" machen könnten, insofern, dass das vermeintlich Unperfekte eben genau das Interessante und somit Perfekte ist. Ich hoffe, das ist einigermassen verständlich. Das sind aber jetzt ganz frische Überlegungen.

2) Interessant. Mir sind auch schon gewisse Tendenzen bei Typen von Schuhträgern aufgefallen, aber dass manche Menschen da so grosses Gewicht drauf legen, ist gut zu wissen. So kann man auch auf solche vermeintlichen Kleinigkeiten mehr achten.

Man kann auch einen Charakter von solchen Gesichtspunkten aus zusammensetzen, wie wenn man einen Faden spinnt, der einfach immer weiter läuft. Eine Vorliebe führt zur nächsten Eigenschaft usw. Da muss man nur aufpassen, dass man keine Klischee-Figur draus macht und nicht zu sehr kategorisiert, denke ich.


ZitatDie Durschnitts-Typen eignen sich hauptsächlich als "Nebendarsteller" - sie bieten Projektionsfläche, Stabilität, Vertrautes, setzen den Standard und machen so die Vielschichtigen erst zu etwas Besonderem. Sie helfen uns bei der Orientierung in der fiktiven Welt. Aber sie sind eben nicht außergewöhnlich genug, um unser Interesse, bzw. unsere Faszination, auf Dauer zu wecken oder aufrechtzuerhalten.

Dem kann ich nur noch zustimmen.  :)

@Coppelia: Nun, wie gesagt, wer sagt denn, dass sie gut aussehen müssen. Ich mag Gutaussehende einfach. Aber andere können genauso faszinierend sein, wenn nicht gar noch mehr, gerade weil sie eben nicht gut aussehen und damit aus der Idealvorstellung fallen.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sanjani am 16. Mai 2013, 10:26:46
Hallo,

Zitat von: Debbie am 15. Mai 2013, 18:08:36
Ja, das stimmt - aber nur wenn sie das Potential haben (wenn auch verborgen), durch Schwierigkeiten über sich hinaus zu wachsen und den Rahmen des "Normalen" zu sprengen; wodurch sie dann ebenfalls zu einem "besonderen", vielschichtigen Charakter werden. Bis zu einem gewissen Grad, haben viele Menschen diese Fähigkeit - aber anhand der vielen Alkoholiker, Drogenabhängigen, Beziehungsunfähigen und Selbstmördern, sieht man auch gut, dass nicht jeder das Potential hat, mit seinen Aufgaben und den Widerständen des Lebens zu wachsen.

Sorry, aber das hier kann ich nicht unkommentiert so stehen lassen. Ich weiß nicht, ob das heutzutage allen Leuten klar ist, aber jeder 4-5 Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer Depression. Und Depressionen können wirklich jeden treffen und zwar inklusiv suizidales Syndrom (= Selbstmordgedanken, -fantasien und -absichten). Das ist ein Teil der Erkrankung. Dazu muss man kein besonders schwacher oder wenig widerstandsfähiger Charakter sein. Darüber hinaus ist die Fähigkeit mit harten Anforderungen im Leben zurechtzukommen sowie "Beziehungsunfähigkeit" nicht nur angeboren, sondern wird über weite Strecken erlernt, z. B. durch gute Bezugspersonen. Das heißt nicht, dass nicht auch genetische Komponenten eine Rolle spielen, aber es gibt kein Beziehungsunfähigkeitsgen und kein Selbstmordgen und es gibt keine genetischen Komponenten, die präzise vorhersagen könnten, dass jemand alkohol- oder drogenabhängig wird oder sich im Laufe seines Lebens das Leben nimmt.
Und nur weil Alkohol im Handel frei erhältlich ist, bedeutet das in keinster Weise, dass es harmlos wäre oder besonders schwierig davon abhängig zu werden.

Kurz gesagt: Die Leute, die du da erwähnst, sind krank. Und ich finde es nicht angemessen so über kranke Menschen zu sprechen bzw. zu schreiben.

Liebe Grüße und nichts für ungut,

Sanjani
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Über Charakterentwicklung könnte ich ewig schreiben. Aber es bleibt wohl immer das "Problem" Leser: So großartig, vielschichtig und lebendig ein Charakter auch sein mag, es wird immer Leser geben, die ihn platt und blöd finden. ;)

Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Was das Aussehen betrifft: Man kann Figuren natürlich aussehen lassen, wie man will (ich denke: Sie sehen halt so aus, wie sie aussehen), aber wenn man den Roman verkaufen will, könnte man Schwierigkeiten bekommen, wenn wichtige Figuren übergewichtig oder glatzköpfig sind. Eben weil die meisten Leser das nicht gern sehen. Krimis, denke ich, sind da eine Ausnahme. Detektive dürfen ruhig dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen, zumindest männliche.
Nun ja, solange man junge Hauptfiguren hat, sollte man keine ernsthaften Probleme bekommen - junge Leute gelten ja automatisch als schöner. ::) Aber mein 43jähriger, übergewichtiger, glatzköpfiger Superredner Lukial wird es wohl schwer haben, sich in die Herzen der Leser zu palavern. Nur - was wäre Lukial, wenn ich ihm einen Waschbrettbauch und schnieke dunkle Haare gebe und ihm dann vielleicht noch seine Wehleidigkeit und seine Egomanie wegnehmen? ;D Auf jeden Fall nicht mehr Lukial.

(Galotta hatte eine Glatze, ja. ;D)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Churke am 16. Mai 2013, 11:42:23
Ein Figur wird nicht durch die Länge oder Ausführungslichkeit des Charakterbogens plastisch, sondern durch die Akzente, die man setzt.

Neulich z.B. schickte ein örtlich berüchtigter Bauträger (Bauleistung: 30 Millionen pro Jahr) seine "Prokuristin" zur Bauabnahme. Aus dem C-Klasse-Cabrio stieg ein abgehalftertes Pornosternchen. Das war total surreal. Von den Leggins über das Nasenpiercing, die verpsiegelte Sonnenbrille und die blondierten Haare bis zum blassen, gelblichen Teint, den man sonst bei Junkies beobachtet.
Die Dame nahm in den folgenden drei Stunden ihren Kaugummi nicht mal zum Rauchen heraus und kommentierte jeden Baumangel mit einem Schulterzucken. "Ist doch mir egal."

Die Erscheinung (die mit ihren absolut unverschämten Briefen korrespondiert) sagt alles und ob die jetzt wirklich vom Porno kommt, ist völlig irrelevant. Da kann sich jeder seine eigenen Gedanken zu machen.  ::)

Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: HauntingWitch am 16. Mai 2013, 13:00:20
Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Das stimmt sicher teilweise. Ich denke auch, es macht Menschen - oder auch Buchfiguren - besonders aus, wenn man sie trotz oder gerade wegen ihren Fehlern mag. Aber als Autor habe ich Mühe, meine Figuren entsprechend zu gestalten. Ich erlaube mir das sozusagen nicht und weiss noch nicht einmal so genau, warum. Hm. Ich glaube, das ist die grosse Schwäche, die ich habe. Denn lesen tue ich auch diese spezielleren Charaktere sehr gerne.

Ich finde es soo spannend, eure Meinungen zu lesen, das gibt mir laufend neue Anstösse.

Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was das Aussehen betrifft: Man kann Figuren natürlich aussehen lassen, wie man will (ich denke: Sie sehen halt so aus, wie sie aussehen), aber wenn man den Roman verkaufen will, könnte man Schwierigkeiten bekommen, wenn wichtige Figuren übergewichtig oder glatzköpfig sind.

Lies mal etwas von John Ajvide Lindqvist (egal, was) und achte auf die Hauptfigur(en). Sie sind alle entweder alt, dick, verschupft oder sonst irgendetwas. Das meinte ich weiter oben.  :psssst:

Zu deinem Lukial: Das ist ja auch eine Frage der Umsetzung, wie man den Charakter einführt und dem Leser näher bringt. Man kann auch einen optisch "hässlichen" (ist ja auch wieder Ansichtssache ;)) sympathisch machen. Wer weiss, vielleicht lieben die Leser ihn dann alle und finden dich als Autorin gerade deswegen toll.

Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Debbie am 16. Mai 2013, 15:09:48
Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Das stimmt absolut - und gerade vielschichtige Charaktere haben oftmals viele und "scherwiegende" Makel. Normale "Macken" machen einen Menschen nicht wirklich vielschichtig (meine subjektive Meinung), das tut für mich nur ein gewisses Maß an "Abnormität", gepaart mit anderen, kontroversen Seiten. Am besten, wie bereits gesagt wurde, durch Kontraste. Und je mehr und deutlicher vorhanden, desto vielschichtiger (und interessanter) wird die Figur für mich.

@Sanjani: Da ich selbst zu diesen "kranken" Leuten gehört habe, und viele Drogenabhängige und einige Alkoholiker kenne (die im Übrigen alle irgendwie wissen, dass sie tun, was sie tun, weil es in ihrem Leben ein oder mehrere "unfinished businesses" gibt), sehe ich in dem was ich gesagt habe, weder eine Beleidigung noch sonst was Negatives, und nehme mir auch das Recht raus, darüber zu urteilen. Es ist keine "Leistung" Depressionen zu kriegen, oder Alkoholiker zu werden - oder sich umzubringen - sondern es ist eine Leistung, sich garnicht erst so weit fallen zu lassen. Vielleicht auch eine noch größere, da wieder raus zu kommen (das weiß ich aus eigener Erfahrung). Solche Charaktere können hervorragende Protas oder Figuren sein, solange sie das Potential haben, sich weiterzuentwickeln und über sich hinaus zu wachsen, also ihr Leben wieder in die Spur kriegen. Das Aufsteigen ist eine Leistung, der Fall ganz sicher nicht!
Und zu diesem "angeboren" vs. "erlernt": Ich kenne Leute, die hatten alles - liebevolle und geduldige Eltern, fürsorgliche Freunde, Geld - und sind dennoch total verkorkst. Und dann kenne ich Leute, die hatten eine absolut besch.... Kindheit und/oder Jugend, die es ohne entsprechende Vorbilder geschafft haben, ein moralisches Gewissen und eine Art "Ehrenkodex", sowie die Fähigkeit zu lieben zu entwickeln. Erziehung/der Lernprozess haben m. M. n. (und die begründet sich nicht auf irgendwelche psychologischen Bücher, gegen die ich generell komplett allergisch bin, sondern auf echte "Fallbeispiele") nur einen begrenzten Einfluss auf den Charakter eines Menschen - und darauf, wie er mit den Widrigkeiten des Lebens umgeht.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: HauntingWitch am 16. Mai 2013, 16:57:07
Zitat von: Debbie am 16. Mai 2013, 15:09:48
Das stimmt absolut - und gerade vielschichtige Charaktere haben oftmals viele und "scherwiegende" Makel. Normale "Macken" machen einen Menschen nicht wirklich vielschichtig (meine subjektive Meinung), das tut für mich nur ein gewisses Maß an "Abnormität", gepaart mit anderen, kontroversen Seiten.

Interessant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Sanjani am 16. Mai 2013, 20:34:10
Hallo Debbie,

Zitat von: Debbie am 16. Mai 2013, 15:09:48
sondern es ist eine Leistung, sich garnicht erst so weit fallen zu lassen. Vielleicht auch eine noch größere, da wieder raus zu kommen (das weiß ich aus eigener Erfahrung).

Ich hab ja nix Gegenteiliges behauptet. Aber ich glaube fest daran, dass jeder (na ja vllt 90-95%) es schaffen kann aus so einer Sache wieder rauszukommen, wenn die Bedingungen dafür stimmen. Und deshalb finde ich es unangemessen zu sagen: Na ja, der hat sich umgebracht, weil er eine gescheiterte Persönlichkeit ist und eben kein Potential zur Weiterentwicklung hatte. So kam es jedenfalls bei mir an. Und du darfst mir glauben, dass ich auch allerhand Fallbeispiele kenne.

Aber so hat eben jeder seine Meinung und die anderen hier können sich darüber Gedanken machen, welchem von beidem sie mehr zustimmen.

Viele Grüße

Sanjani
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Valaé am 17. Mai 2013, 02:05:29
Lebendige Charaktere ... eines meiner absoluten Lieblingsthemen.
Ich gehöre zu den Autoren, denen lebendige Charaktere über alles gehen und in der Prioritätsliste noch vor einem interessanten Plot kommen. Zwar bedingen sich diese beiden Sachen meist gegenseitig, jedoch brauche ich selbst auch einfach für mich interessante Charaktere oder ich kann mein eigenes Buch nicht ausstehen.
Wie aber werden die Charaktere lebendig. Ich gebe zu, dass ich es nicht ganz genau sagen kann. Hauptsächlich möchte ich mich Malinches Post recht am Anfang anschließen: Meine richtig guten Charaktere zeigen sich für mich selbst allesamt dadurch, dass sie keine Charaktere waren, in der Art, wie man sich das so vorgestellt hat, als man noch "nur Leser" war. Der Autor konzipiert sie, der Autor bestimmt über sie und legt alles fest. Auch Charakterbögen neigen dazu, diesen Eindruck zu vermitteln. Keiner meiner wirklich guten Charaktere könnte so beschrieben werden. Die würden diese Sätze lesen und danach einen so gründlichen Lachanfall bekommen, dass ich erst einmal ein paar Minuten nichts mehr mit ihnen anfangen könnte - die wirklich guten Charaktere habe ich immer behandelt wie ... Freunde. Ich kann sozusagen mit ihnen "reden" wir sind auch manchmal nicht gleicher Meinung, sie haben ihre eigene Vorstellung und rücken gerne erst nach langer, langer Zeit mit ihren Geheimnissen heraus. Nur, wie bekommt man einen Charakter, der irgendwann so anfängt zu leben?

Das war bei mir unterschiedlich. Der erste, bei dem ich es erlebt habe, war als Nebenfigur geplant und überraschte mich zuerst damit, dass ich einen Namen für ihn überlegte und auf einen Namen stieß, der mir nicht gefiel. Aber er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. So sehr ich auch überlegte ... an einen anderen Namen war nicht mehr zu denken. Das nenne ich heute, dass er sich geweigert hat, seinen Namen abzugeben und es ihm egal war, ob ich den Namen toll fand. Und als mir klar wurde, dass ich es nicht schaffen würde, ihm einen anderen Namen zu geben, da sah ich ihn vor mir. Mit einem dicken Grinsen und einem Schulterzucken, dieser schelmischen Art, die auch später sein Markenzeichen wurde und er hat mich ausgelacht. Es war, als hätte ich in dem Moment, in dem ich ihm sein Eigenleben zugestanden hatte auch diesen lebendigen Charakter erhalten. Er ist auch heute noch der, den ich fast am lebendigsten von allen bezeichnen würde und ich sehe es an ganz bestimmten Dingen: Er hatte eine Hintergrundgeschichte, die weit über die Relevanz für das Buch hinausging und Träume, die ganz fassbar waren und ihn beeinflusst haben. Er war ein Mensch mit Erinnerungen, Träumen und Hoffnungen, mit einem (leicht gebeutelten) Moralkodex, festen Ansichten, einer Fassade und dem, was dahinter lag. Er war für mich wie ein sehr guter Freund, ich konnte mir selbst in eigenen Alltagssituationen vorstellen, wie er reagieren würde und sah ihn beim Schreiben regelmäßig vor mir (und er taucht sogar heute noch manchmal einfach vor meinen Augen auf und macht Späße oder wirft mit sarkastischen Kommentaren um sich). Seine Tiefe lag für mich vor allem daran, dass er eben ein Leben fernab des Buches hatte und immer wieder Dinge am Rande eingeflossen sind, die ich erst nicht erklären konnte und dann durch kleine Nachforschung wusste ich später, warum er sich so verhält oder jenes tut und selbst wenn das nie im Buch erwähnt wurde, es hatte ihn geprägt. Er war eben nicht einfach ein "Schablonenmensch" wie ich sie gerne in Romanen sehe, der nur für diese Geschichte entwickelt wurde und dem man das anmerkt.  Es ist eher so, dass er als vollwertiger Mensch in die Geschichte geworfen wurde und dann damit klar kommen musste. Also nicht: Am Anfang stand der Plot und wen brauche ich dafür? Sondern: Am Anfang stand der Charakter und was ergab sich daraus? Es ist unwichtig, dass im Entstehungsprozess eben doch der Plot zuerst da war - wichtig war, dass dieses Gefühl am Ende nicht mehr da war, das man sich diesen Charakter auch vollkommen ohne den Plot hätte vorstellen können - er wäre auch dann noch ein vollwertiger Mensch gewesen.

Nicht alle lebendigen Charaktere kamen so. Einer brauchte fünf Kapitel, in denen er sich kontinuierlich in den Vordergrund schob, bis mir auffiel, dass ich ihn mir nicht mehr wegdenken konnte und dass ich die Geschichte unbeabsichtigterweise sehr um ihn gewoben hatte - obwohl er nur eine Nebenfigur war. Ich ließ ihm den Willen und schwupps - überfiel er mich mit einer Fülle von Informationen und Einsichten, die mir erneut erlaubten, ihn als einen Charakter darzustellen, der auch ohne Plot ein selbstständiges Leben hätte führen können.
Wieder andere Charaktere brauchten nur einen kurzen Anstupps. Ein Lied. Ein Bild. Eine kurze Idee - dann waren sie da und gingen nicht mehr aus dem Kopf. Aufgrund der unterschiedlichen Entstehungsweisen glaube ich, es gibt kein Patentrezept dafür, wie sich so ein Charakter entwickeln lässt. Sie können plötzlich kommen oder langsam. Wichtig war bei mir immer nur: Es waren immer Charaktere, die irgendwo etwas anders machen wollten, als ich es wollte. Gab ich nach, wurde ich mit einem so lebendigen Charakter belohnt, wie sonst selten der Fall war. Wichtig war immer, sie mehr als Freunde und Partner zu behandeln, als als Marionetten der eigenen Schreibe. Deswegen halte ich persönlich auch mehr von den Vorstellungsgesprächen als von einem Charakterfragebogen, bei dem ich einfach immer oft das Gefühl habe, ich konstruiere etwas. Wogegen ich bei den Vorstellungsgesprächen mir meinen Charakter vorstelle, wie er da sitzt und gelöchert wird. Und dann fängt er meistens ganz schnell an zu singen (oder zu keifen ...  ;D).

Was alle sehr lebendigen Charaktere verbunden hat, ob ich sie selbst schrieb oder auch las, war, dass ich sie mir immer auch außerhalb der Geschichte vorstellen konnte. Es war, als hätte ich da einen Menschen vor mir. Das kam meistens davon, dass es eben mehr Infos über sie gab, als zwangsläufig wichtig für die Geschichte gewesen wäre. Manchmal hatten sie VErgangenheiten, die noch nicht einmal beschrieben werden mussten. Ihre Andeutung reicht. Auch kleine Verhaltensweisen und Macken, die nicht wichtig sein müssen, helfen viel. Ebenso verleiht meiner Meinung nach auch eine "stille Situation", also eine Situation, in der einmal nicht viel geschieht und die möglichst ruhig ist, einem Charakter oft viel Tiefe. Wenn er ganz allein ist mit sich, seinen Gedanken und allen Geschehnissen, dann kommt gerne das Innerste zum Vorschein oder die kleinen liebenswerten Eigenheiten, wie mein Dieb, der von einem Tischlerdasein träumte oder mein Narr, der gerne das Schillern des Morgentaus betrachtet - alles keine wichtigen Szenen. Aber ohne sie wären diese Charaktere nicht, wer sie sind.

Leider kann ich so gut wie keine Beispiele anderer Charaktere als meiner eigenen nennen, was nicht daran liegt, dass ich keine kenne, die ich als lebendig betrachten würde (es sind aber in der Tat nur wenige, gerade in der bekannteren Literatur. So würde ich sowohl die Figuren aus HdR, als auch die aus Harry Potter beide als eher flach bezeichnen. Die einen, weil hier der Augemerk deutlich mehr auf dem Plot liegt und Charakterentwicklung gar nicht so groß geschrieben wird und man nur recht wenig Innensicht erhält (HdR), die anderen weil sie sehr vorgezeichnete Schemata haben und aus denen auch nicht herauskommen (HP) und mir irgendwie die kleinen überraschenden Feinheiten fehlen). Vor allem aber ist es die Tatsache, dass ich bei denen, die ich als lebendig bezeichnen würde (Kvothe aus "Der Name des Windes" fand ich lebendig, oder auch Tyrion Lennister aus "Das Lied von Eis und Feuer") nicht wirklich festmachen kann, was sie eigentlich lebendig macht. Als Leser achte ich weniger auf diese Feinheiten wie als Autor. Ich nehme sie unterschwellig wahr. Während ich als Autor meine Figuren eben kenne wie der beste Freund oder noch besser, wie einen Teil meiner selbst, den ich auch ironisch belächeln kann und mich über jede kleine Info freue, die sie mir geben, nehme ich sie als Leser eben diese kleinen Infos kaum war. Aber sie tragen unterbewusst zu diesem lebendigen Bild bei. Ich spüre, dass es da Dinge gab, die sie irgendwie anders machen, als andere Charaktere und manchmal fällt mir sogar etwas ein (bei Kvothe finde ich diese Prägung durch die Musik und das junge Leben bei einer Art Schaustelltruppe (verbessert mich wenn ich Käse rede, es ist lange her) mit seiner konstanten Prägung enorm gelungen, bei Tyrion kann ich nicht sagen, was ihn so lebendig macht), aber meistens ist es so geschickt eingebunden, dass es Nebensachen sind, die ich nicht mehr wirklich weiß - aber ich weiß gleichzeitig, dass da etwas war und wenn es fehlen würde, wäre der Charakter nicht mehr so lebendig. Und genau das ist es, was ich als Autor bei meinen Charakteren auch erreichen will. Das ein Leser irgendwann dasitzt, ihn als lebendig empfindet, aber nicht genau sagen kann, warum. Dann habe ich alles richtig gemacht. Denn bei einem echten Menschen sind es auch oft Kleinigkeiten, die man erst nach langem Nachdenken oder nur unterbewusst als Besonderheiten erkennt und nicht genau benennen kann, die ihn so ganz besonders macht.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Judith am 17. Mai 2013, 12:18:58
Zitat von: HauntingWitch am 16. Mai 2013, 16:57:07
Interessant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.
Das würde ich so unterschreiben. Fehler und Macken machen nicht zwangsläufig eine Figur vielschichtig, ebenso wenig, wie eine Figur ohne allzu auffällige Fehler und Macken gleich automatisch platt sein muss. Da steckt schon noch deutlich mehr dahinter.
Genauso kann eine Figur zwar vielschichtig sein, von den Lesern aber dennoch als langweilig und platt wahrgenommen werden, weil es vielleicht eine Kombination von Charaktereigenschaften ist, die so sehr häufig vorkommt.
Das alles macht ja die Sache so schwierig, finde ich.

Valaé hat Kvothe genannt, und was ich an ihm so interessant finde, das ist die Tatsache, dass er zwar eigentlich ein ziemlicher Überflieger ist, sich dessen aber auch bewusst ist und manchmal recht arrogant wirkt. Das ist für eine Hauptfigur eher ungewöhnlich, da diese sonst meistens eher ganz bescheiden ist und sich selbst überhaupt nicht für toll hält.
Kvothes Schwäche ist genau die Tatsache, dass er ziemlich perfekt ist - das finde ich klasse. Na gut, und er ist teilweise recht inkompetent im Umgang mit anderen Menschen.  ;)

Fehler und Macken alleine machen für mich also eine Figur noch nicht lebendig und interessant. Es kommt auch drauf an, welche Fehler es sind und wie sie sich mit den weiteren Eigenschaften ineinander fügen. Manchmal sind gerade ungewöhnliche Kombinationen interessant.
Außerdem wird für mich eine Figur vielschichtig, wenn ich sie nicht immer gleich einschätzen und ihre Reaktionen voraussehen kann, wenn sie sich auch mal überraschend verhält. Welche Menschen kann man schon immer und in jeder Situation einschätzen? Selbst bei meinen besten Freundinnen, die ich jahrelang kenne, könnte ich vorher nicht immer sagen, wie genau eine Reaktion ausfallen wird.
Bei manchen Romanfiguren ist es aber so - vermutlich aus Gründen der Glaubwürdigkeit - dass sie sich immer vorhersehbar verhalten und man daher, wenn man sie einmal ein wenig kennengelernt hat, stets sagen kann, wie sie wohl auf diesen oder jenen Plotpunkt reagieren werden. Und das wiederum macht Figuren meiner Meinung nach eher platt, weil man ihnen auf diese Weise eben keine Vielschichtigkeit zugesteht.
Damit meine ich natürlich nicht, dass sich eine Figur ständig unberechenbar und "gegen" ihren Charakter verhalten soll.  ;)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Kati am 17. Mai 2013, 12:39:10
ZitatInteressant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.

Da stimme ich dir auch zu. Ich kenne einige Autoren, die ihren Figuren alle möglichen Macken aufschwatzen, weil sie denken, sie werden so vielschichtiger. Es gibt ja kaum noch Romanhelden, die ohne düsteres Geheimnis oder tiefe psychologische Schäden auskommen und das finde ich eigentlich schade. Psychische Probleme mit einem vielschichtigen Charakter gleichzusetzen, finde ich eh problematisch, was soll denn da beim Leser ankommen? "Du bist so langweilig, wie dieser völlig normale Nebencharakter hier, weil du noch keine absoluten Tiefschläge in deinem Leben hattest." Was ist denn das wieder? Ganz gewöhnliche Figuren, die in große Abenteuer hineingezogen werden, finde ich meist sogar viel interessanter. Figuren, die an ihren Aufgaben wachsen und über sich hinauswachsen müssen, finde ich auch total interessant und toll, aber das muss ja nicht gleich heißen, dass die Figur am absoluten Tiefpunkt starten muss, um hinterher sonst wie hoch zu fliegen.

Die Annahme, dass man ein besserer Mensch wird, weil man harte Zeiten durchgemacht hat, finde ich ungefähr genauso merkwürdig, wie diesen Spruch ,,Was dich nicht umbringt, macht dich stärker." So ein Unsinn. Aber genau dieses Bild wird in vielen Romanen ja verwendet, um Charakteren Tiefe zu verleihen. Aber ganz offen gesagt: Einen Autor, der Tiefe bloß erzeugen kann, indem er seinen Figuren harte psychische Probleme aufhalst, halte ich für keinen besonders guten Autor.

Und mal ehrlich: Den völlig normalen Menschen, der glücklich durchs Leben wandert, gibt es gar nicht. Jeder hat irgendwelche Probleme. Und vielleicht ist ein verlorener Job im Gegensatz zu jemandem mit Selbstmordgedanken harmlos, aber da kommt es dann darauf an, wie ich so etwas schreibe, denn für die Person, die den Job verloren hat, ist es in dem Moment das Schlimmste auf der Welt. Also, jeder Mensch hat irgendwelche Macken und Probleme, das müssen keine großen, schwierigen Sachen wie Drogenabhängigkeit sein. Und so sollte man seine Figuren auch angehen. Ich denke, die Kunst lebendig und vielschichtig zu schreiben, besteht darin echte Menschen zu schreiben, mit Macken und guten Eigenschaften, mit dunklen Zeiten und schönen Zeiten, egal ob es sich nun um eine ganz gewöhnliche Schülerin handelt oder einen jungen Mann mit Drogenproblemen. Die können beide tolle, vielschichtige, interessante Helden abgeben, wenn man sie glaubwürdig schreibt.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Guddy am 18. April 2014, 22:58:51
Was man aus diesem Thread lernen könnte (überspitzt, natürlich):

Charaktere, die

*gutaussehend sind
*eine tragische Vergangenheit haben
*zierliche Frauen mit kleiner Oberweite sind

... sind doof.
(Tja, dumm gelaufen, meine beiden Lieblingschars sind dann wohl doof.)

Es ist wirklich schade, dass man so leicht in die garstige Klischeefalle tappt und der Charakter dadurch von Dritten direkt abgestempelt werden kann. Doch warum? Es ist nicht eine Eigenschaft, die einen Protagonisten nun tiefgründiger und interessanter macht als andere. Ob gutaussehend oder nicht, ob tragische Vergangenheit oder nicht - ein Charakter wird durch alle seine Facetten zu dem, was er ist und wenn ein Klischee zu einem Prota einfach passt, spricht nichts dagegen, es auch zu benutzen. Das kann ein interessantes oder weniger interessantes Endprodukt sein, letztlich ist es Geschmacksache.

Ob ein Protagonist vielschichtig wirkt oder nicht, liegt mEn. an zwei Dingen: Zum Ersten der Kreativität und Vorstellungskraft des Autors und zum Zweiten dessen Fähigkeiten als Schriftsteller, was Technik, Wortwahl und vieles mehr beinhaltet, was in den Bereich "Handwerk" gehört.
Ich bilde mir ein, dass meine Charaktere sehr lebendig sind. Ich weiß genau, was sie tun, was sie denken, was sie sind. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge und brauche weder Fragebogen, noch Steckbrief. Manche haben Macken, andere nicht, aber für mich wirken alle lebendig und wie von der Straße gegriffen. Ich glaube, dass man sich das erarbeiten kann, ich selber habe einfach eine gute Menschenkenntnis und bin kreativ. Das klingt furchtbar eingebildet, aber diese beiden Dinge sind meine beiden Stärken, derer ich mir einfach sehr sicher bin. Dafür kann ich alles andere nicht gut ;D
Doch ob  sie auch dann noch lebendig sind, wenn ich versuche, sie in Buchstaben zu pressen? Verkommen sie dann zu grauen Abziehbildern ihrer selbst oder bleibt ihre Leuchtkraft erhalten? (vielleicht benutze ich auch einfach das falsche Waschmittel.)
Das ist die technische Seite, zu der ich keine Tipps geben kann, weil ich mir da selber viel zu unsicher bin.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Kati am 18. April 2014, 23:40:22
Guddy: Genau.  :jau: Das meinte ich ja auch damals im Mai: Solang man eine Figur glaubwürdig und interessant schreibt, gibt jede Art von Figur eine gute Hauptperson ab. Deshalb denke ich auch, das Menschenkenntnis und genau hinsehen können für Autoren sehr wichtige Fähigkeiten sind, die man aber auch lernen kann. Handwerklich betrachtet muss man das, was man auf der Straße oder sonstwo sieht, einfach umsetzen können und sich nicht auf literarische Klischees in dem Sinne verlässt, das man die ganze Figur von irgendwo anders übernimmt. Beispiel ist der typische byronsche Held: Launisches, düsteres Love Interest mit turbulenter Vergangenheit, der immer nachdenklich in der Ecke sitzt. Natürlich kann man so eine Figur schreiben, aber eben nicht genau so, wie sie im Katalog steht. Klischees sind echt nichts böses, man muss nur wissen, wie man sie erweitert und einsetzt. Klischees sind für mich halt keine fertigen Figuren sozusagen, sondern Versatzstücke, die man in ein größeres Bild der Figur einbauen muss.

Was ich eben gar nicht mag ist, wenn Autoren platte Figuren durch viel Beiwerk tiefer machen wollen. Dann hat die Hauptfigur eine auffällige Frisur, wurde als Kind beinahe von Löwen gefressen, lebt mit 16 allein in New York in einer Luxuswohnung, die Eltern sind Bonnie und Clyde und alles ist ganz aufregend und ungewöhnlich. Und die Figur schreit: "Ich bin anders und originell" aber darunter ist nichts - keine Persönlichkeit, keine Eigenschaften, einfach nichts. Das Schlimmste, was passieren kann, ist wenn ein Autor versucht eine Figur mit Gewalt auf originell und noch nie dagewesen zu biegen und dabei vergisst, dass all die spannenden Ereignisse auf einen Menschen normalerweise Eindruck machen. Wenn man solche Sachen einbaut, sollten sie den Charakter formen und so Tiefe und Lebendigkeit erzeugen. Aber sehr viele Autoren (besonders im Jugendbuchbereich) überspringen den Schritt, wo die Figur eine eigene Persönlichkeit bekommt und definieren ihre Figuren durch ihre Erlebnisse und Umstände und nicht durch den Charakter selbst, der durch Umstände und Erlebnisse entstanden ist.

EDIT: Beispiel, damit das auch Sinn ergibt: Wenn man einer Figur anheftet, dass sie die schönsten blonden Haare hat, ständig liest und in Museen geht, ihre Eltern Starschauspieler sind und sie selbst jetzt bald die erste CD aufnimmt, macht das allein die Figur für mich nicht interessant und originell, wenn darunter einfach keine echten Eigenschaften sind, sondern wieder nur der hobbylose, charakterlose Pappaufsteller. Dann ist das für mich trotzdem eine farblose Figur, dann könnte das genauso gut das ganz normale Mädchen von nebenan sein. Das dann auf jeden Fall die interessantere Figur darstellen würde, wenn im Gegensatz zu der anderen Figur Ecken, Kanten und richtige Eigenschaften vorhanden sind.
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Anj am 19. April 2014, 09:25:13
Ui, das ist ein interessantes Thema. Ich muss gestehen, ich habe jetzt nicht alle Beiträge gelesen, aber ich hoffe, dass mein Posting trotzdem passt ...

In der letzten Zeit habe ich in einigen Geschichten, die ich gegengelesen habe, das Gefühl gehabt, dass die Figuren nicht lebendig wurden. Bei mir hat dieses Leben der Figur aber auch nichts mit dem Aussehen zu tun und sogar nur in zweiter Linie mit dem, was sie gerade erlebt. Was für mich eine lebendige Figur ausmacht, sind drei Dinge:
1. Eine Vergangenheit, die mitschwingt. Kein Charakter entsteht erst beim Anfang der Geschichte, er muss bereits eine Vergangenheit haben. Erinnerungen, Assoziationen, Vorlieben, Ängste, Sorgen, Träume usw. Und diese müssen im Text mitschwingen. Im Subtext. Eine Figur, die in unbekannte Länder zieht, muss je nach Charakter und Situation freudig aufgeregt, angstvoll, resigniert oder sonst was sein. Und diese Emotionen lassen ältere Emotionen oder Erinnerungen anklingen. Und das muss spezifisch sein. Eine Emotion ist auch selten einzeln aktiv. Jemand mit Angst hat nicht unbedingt nur Angst, sondern ist dabei vielleicht noch panisch gelähmt, vielleicht aber auch freudig erregt wegen des Adrenalinstoßes, oder resigniert.
Vergangenes wird wieder "hochgeholt" und färbt die übergeordnete Emotion mit einer ganz individuellen Nuance. Und dann charakterisiert der Umgang mit eben diesem Cocktail von Emotionen/Erinnerungen/Träumen die Figur wieder auf einer weiteren Ebene und erweitert den Subtext. Wird dort rigoros abgeblockt oder systematisch entgegengewirkt, usw? Und das kann mit zwei Sätzen in der Situation alles mit in den Text einfließen.
Für mich sind also letztlich auch Hobbys oder Eigenschaften nur dann wichtig, wenn sie die emotionale Struktur der Figur mitformen.

2. Ein wirklich stringentes Handeln aus der Figurenperspektive heraus. Gerade das fällt mir bei Neulingen oft auf. Der Autor weiß beispielsweise in einer bedrohlichen Situation, dass die Gegenspieler ihm nichts tun werden, vielleicht sogar die Guten sind. Und er schreibt die Szene mit diesem Wissen, statt sich wirklich voll und ganz in die Situation der Figur zu begeben. Dann hat die Figur auch keine wirkliche Angst und die Szene entwickelt sich zusätzlich noch unglaubwürdig.

3. Muss auch die gesamte Geschichte verwoben sein, damit alles lebendig wird. Sätze dürfen nicht einfach nebeneinander stehen und Handlungen oder Beschreibungen aufzählen, sondern es muss eine Struktur vorhanden sein, die ich mit Folgepfeilen darstellen kann. Sätze, oder Satzfragmente müssen logisch zum nächsten Satz führen. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir alles in ineinandergreifende Konstrukte übersetzen und massiv durch bewusste und unbewusste Assoziationen gesteuert werden. Dieses Gefühl, dass alles zusammengehört, das brauche ich auch in einem Buch, wenn es dreidimensional und echt wirken soll.
Mir hilft das Bild, dass meine Satzfragmente und Inhalte Farbgarn sind, die zu einem Teppich verwoben werden. Eine Farbe darf nicht plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, sie muss ins Muster integriert werden. Entweder, in dem sie ein neues (Teil-)Muster schafft, oder in dem andere Farben auf sie vorbereiten.

Um abzuleiten, wie ich meine Figuren schaffe, muss ich wohl sagen, dass ich wahnsinnig viel Innensicht verwende. Meine Perspektivträger kommentieren und sinnieren in der Rohfassung wahnsinnig viel. Vor allem deswegen, weil ich sie niemals im Vorfeld entwickle. Sie sind einfach da und entwickeln sich. Das heißt, ich muss ihre Vergangenheit ebenfalls in der ersten Version erschaffen und da lasse ich mich dann ganz von ihnen und dem Schreibgefühl dabei leiten. Sie zeigen mir, wie sie auf die Situationen reagieren. Meine anderen Figuren bekommen  ständig Kommentare mit Hintergrunderklärungen in den Text und zusätzlich auf die Pinnwand, die bei Papyrus immer vorhanden ist. Das hilft mir, diese Dinge immer wieder vor Augen zu haben und bei den Überarbeitungen kann ich hin und her springen und prüfen, ob das auch wirklich konsistent durchgehalten ist und die Innensicht der Perspektivträger auf ein akzeptables Maß kürzen.

Ob meine Figuren auf Leser allerdings wirklich lebendig wirken? Bislang habe ich dazu noch nicht viele konkrete Rückmeldungen bekommen. Allerdings auch keine Kritik, dass es nicht so wäre. (Zumindest inzwischen schon lange nicht mehr^^)
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: Klecks am 19. April 2014, 09:57:32
Wow, Anjana, dein Beitrag ist klasse! Danke dafür. :jau:
Titel: Re: Charakter so richtig lebendig machen?
Beitrag von: canis lupus niger am 19. April 2014, 15:46:19
Wie ich finde, ist alles, was ich anführen könnte, bereits geschrieben worden. Aber ich fasse es hier nochmal zusammen, auch für mich selber ...  :)

Lebendige Charaktere müssen keine attraktiven Charaktere sein. Man muss nur das Gefühl haben (als Leser ebenso wie als Autor), sie vor sich zu sehen.

Für mich als Autorin (ebenso, wie das weiter oben bereits einige andere Autoren über ihre Arbeit schrieben) haben meine lebendigsten Charaktere ein Eigenleben, das auch vor meiner Geschichte und außerhalb meiner Geschichte stattfindet. Ich schaue sozusagen während des Schreibens nur bei ihnen vorbei und sehe ihnen zu, um dann über das zu erzählen, was sie gerade gemacht/erlebt haben.

Einige Charaktere entwickelten sich auch bei mir aus Nebencharakteren, die ursprünglich reine Funktionsträger waren. Baron Tarzel zum Beispiel, aus dem "Sommerturnier". Ein überheblicher Mistkerl, den ich aber im Lauf des Schreibens näher kennen und verstehen glernt habe.

Während ich die vorangegangenen Beiträge dieser Diskussion überflogen habe, habe ich überlegt: Wie lasse ICH denn eigentlich Charaktere lebendig werden? Da konnte ich anfangs gar nicht den Finger drauf legen. Und ein Statement aus dem Jahr 2013 hat mich geradezu elektrisiert, denn genau so ist es:  Nicht vollständig beschreiben, sondern Highlights setzen muss man. Das eigene Erleben ist ja auch nicht immer gleichmäßig intensiv. Aber wenn man intensive Gefühle oder Wahrnehmungen hat, dann ist man sich ihrer auch bewusst. Ich denke, genauso schreibe ich auch meine Charaktere. Manchmal laufen sie nur durchs Bild, ich sehe ihnen aus der Ferne zu, aber manchmal müssten sie eigentlich meinen Atem in ihrem Nacken spüren. Wenn jemand nicht schlafen kann, grübelnd am Lagerfeuer sitzt, mit einem Zweig in der Glut herumbohrt und Gedanken, die er jahrelang unterdrückt hat, nur so über ihn hereinstürmen. Dann bin ich ihm ganz nahe, und ich glaube, das kann ich dann auch dem Leser vermitteln. Würde ich allerdings die ganze Geschichte in dieser Intensität schreiben, würde ein Leser bald anfangen zu gähnen und das Buch mangels Ereignissen aus der Hand legen. Ich weiß nicht, ob es nicht sogar viele als Perspektiv-Fehler ansehen, dass meine Distanz zu einem Charakter sich immer wieder verändert. Einmal habe ich so etwas Ähnliches in einer wirklich gehaltvollen Kritik gelesen. Aber ich denke, dass es auch diese Variabilität ist, die mir hilft, Lebendigkeit zu erzeugen. Vielleicht ein bisschen wie eine Kamera, die mal näher heranzoomt, und mal aus der Entfernung filmt.

Ach ja, und eine Sache gibt es noch, die mir wichtig ist. Meine Charaktere verändern sich, optisch, in ihrem Verhalten und auch in ihrem Gefühlsleben. Wenn sie Sorgen haben, werden sie je nach ihrer Persönlichkeit still, agressiv oder angespannt. Sie werden krank, verlieren ihr (gelegentlich habe ich solche Charaktere  ;D) gutes Aussehen. Niemand, den ich wochenlang durch die Wildnis streifen lasse, hat ständig sauberes, glattgekänntes Blondhaar, wie Legolas im HdR. Das Leben hinterlässt an meinen Charakteren Spuren. Das ist nicht nur eine Entwicklung über den ganzen Plot hinweg, das sind auch Momentaufnahmen, die ein paar Tage später ganz andere Bilder zeigen würden.