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Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Lothen am 27. August 2018, 14:48:55

Titel: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Lothen am 27. August 2018, 14:48:55
Hallo ihr Lieben,

ich weiß, wir haben seeehr viele Threads zum Thema Erzählperspektive, ich möchte aber gerne einen Aspekt davon herausgreifen: den unzuverlässigen Erzähler (oder Erzählerin).

Es gibt ja sehr viele Varianten dieses Stilmittels, aber alle haben eines gemeinsam: Die Leser bekommen vom Erzähler der Geschichte (bzw. dem Perspektivträger) eine Geschichte vermittelt, die nicht der Realität entspricht. Ein klassisches Beispiel wäre eine Traumsequenz oder Halluzination, bei der der Leser zunächst glaubt, das Geträumte würde wirklich passieren, bis es aufgelöst wird.

Eine Version ist mir jetzt schon einige Male in Thrillern untergekommen und ich stelle immer wieder fest, dass sie mich massiv stört. Dabei handelt es sich um unzuverlässiges Erzählen, um den Leser bewusst zu täuschen oder ihm Fakten vorzuenthalten.

In meinem aktuellen Buch gibt es zum Beispiel eine Szene am Anfang des Romans, in dem sich die Protagonistin (eine Ich-Erzählerin, Präsens) mit einigen Arbeitskollegen trifft. Es wird suggeriert, dass einer der Kollegen ein Auge auf sie geworfen hat, sie ihn aber nicht beachtet. Etwa 200 Seiten später wird in einer Rückblende aufgelöst, dass die Protagonistin mit dem Kollegen eine Beziehung hatte. In der Situation gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, trotz Ich-Erzählerin (die ja weiß, dass sie diese Beziehung hat) wurde dieser Fakt bewusst ausgeklammert. Ich kann nachvollziehen, warum man diesen Kniff einsetzt (dramaturgisch betrachtet), er stört mich aber massiv, denn als Leserin fühle ich mich dabei an der Nase herumgeführt, und zwar nicht auf eine geschickte Art und Weise. In Filmen stört mich das witzigerweise nicht, da gibt es aber auch selten eine/n manifenste/n Erzähler/in, in deren Perspektive ich mich bewege. In Büchern erwarte ich dagegen schon, dass ein/e Ich-Erzähler/in den Leser nicht bewusst täuscht, außer es gibt einen Rezipienten, dem sie die Geschichte erzählt (eine Rahmenhandlung, quasi).

Wie steht ihr dazu? Mögt ihr solche Twists? Habt ihr Beispiele, in denen sie gut umgesetzt worden sind? Ich hadere noch sehr damit und bin unschlüssig, ob ich selber damit arbeiten möchte oder lieber nicht ...

Liebe Grüße,
Lothen
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Malinche am 27. August 2018, 15:03:39
Grundsätzlich mag ich die Möglichkeit, die der unzuverlässige Erzähler bietet, sehr, auch wenn ich bis jetzt kaum selbst damit gearbeitet habe. Ich sehe aber auch genau dieses Risiko, dass die Leser sich an der Nase herumgeführt fühlen - ich denke, unzuverlässiges Erzählen ist ein Stilmittel, das man gut beherrschen und umsetzen können muss, damit es wirkt.

Bei dem von dir genannten Beispiel würde ich mich vermutlich auch veräppelt fühlen, es sei denn, die Protagonistin ist charakterlich so angelegt, dass dieses Verdrängen/Ausklammern richtig Sinn ergibt. Oder eben wirklich einen Mehrwert für den Plot liefert. Gerade bei einem Ich-Erzähler kann das schon sehr reizvoll sein, aber wie gesagt, ich finde es sehr herausfordernd, es dann auch wirklich stimmig und souverän umzusetzen. Und überlege gerade, ob mir objektive Indikatoren dafür einfallen.  :hmmm:

Wo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben ...

Eine Geschichte, wo ich den unzuverlässigen Erzähler aber richtig genial umgesetzt finde, ist Jorge Luis Borges' "Mann von der rosa Ecke" (boah, klingt der Titel auf Deutsch bescheuert).

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Allerdings ist das auch nur eine Kurzgeschichte (und Borges selbst fand sie später auch gar nicht mehr so gut), wo dieser Twist im Prinzip die Pointe darstellt und die halt sehr gut über diesen finalen "WTF! Jetzt ergibt alles Sinn, aber anders als vorher"-Moment funktioniert. Im Roman ist das noch mal schwieriger, finde ich.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Alana am 27. August 2018, 15:03:43
Wenn es gut gemacht ist, hat der Ich-Erzähler gerade keinen Grund, über diese Dinge nachzudenken oder man wechselt in eine andere Perspektive, um nicht im Kopf der Figur zu sein, wenn sie diese Gedanken haben müsste. Ich setze das selbst gerne ein, aber es ist natürlich schwierig. Man muss es eben so hinbekommen, dass das Vorenthalten natürlich aus der Figur entsteht und nicht forciert wirkt. Genau das ist aber der Vorteil der Ich-Perspektive, denn man denkt eben nicht jedesmal über Dinge nach, die für einen selbstverständlich sind. Mich stören daher in der Ich-Perspektive weniger die bewussten Auslassungen, sondern eher exzessive Erklärbärszenen, am besten noch über die eigene Haarfarbe etc., weil die total unnatürlich sind. Mit einem Ich-Erzähler sollte und kann man einen extrem direkten Einstieg machen, um einen Exposition-lastigen Anfang zu vermeiden.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Lothen am 27. August 2018, 15:18:11
Zitat von: Malinche am 27. August 2018, 15:03:39
Wo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben ...
Genau, das gibt meine Einschätzung perfekt wieder. In Thrillern ist es ja ähnlich, als LeserIn gehe ich davon aus, dass ich eine Chance habe, die Antwort zu finden, auch wenn sie gut versteckt ist. Wenn mir essentielle Informationen einfach vorenthalten werden, obwohl sie da sind, finde ich das fies.

Die Kurzgeschichte klingt super, in so kleinem Rahmen finde ich Twists dieser Art echt spannend. Ich glaube, mein Problem ist wirklich dieses Gefühl, "ums Miträtseln gebracht zu werden". ;)

Zitat von: AlanaMan muss es eben so hinbekommen, dass das Vorenthalten natürlich aus der Figur entsteht und nicht forciert wirkt. Genau das ist aber der Vorteil der Ich-Perspektive, denn man denkt eben nicht jedesmal über Dinge nach, die für einen selbstverständlich sind.
Das sehe ich auch so. Unnötige Details können gerne weg. In dem oben genannten Beispiel gibt es halt eine Szene, in der sich der Freund der Protagonistin (von dem man zu dem Zeitpunkt nicht weiß, dass es ihr Freund ist) zum ersten Mal ihrem kleinen Sohn vorstellt. Da müsste ja so einiges im Kopf der Prota vor sich gehen, sie ist sonst auch sehr emotional und denkt viel über sich und ihre Umgebung nach. Genau das wird dem Leser aber vorenthalten. Da tue ich mir schwer, das als natürlich oder menschlich oder als Aspekt ihrer Persönlichkeit einzustufen.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Tintenteufel am 27. August 2018, 15:22:08
Also ein mir sehr teures Beispiel ist der erste Band der Diebesreihe von Megan Whalen Turner: "The Thief". Ich kann den Roman sehr empfehlen und alle weiteren auch, ein wunderbares Beispiel für Fantasy ohne klassische Fantasy Elemente. Und sehr witzig. Den Wikipediaartikel würde ich aber meiden, der spoilert.

Der erste Band ist auch Sicht des namensgebenden Diebes geschrieben, in Ich-Perspektive und enthält eine ganze Reihe an Twists, die durch die Perspektive verschleiert werden.
Was den Roman in meinen Augen von vielen anderen unterscheidet ist, dass er nicht in die von Malinche angesprochene Falle tappt. Es werden dem Leser keinerlei Informationen vorenthalten, es wird nicht am Ende ein Überraschungstwist aus dem Hut gezaubert, von dem nur der Erzähler wissen konnte, den er aber verschwiegen hat. Viel mehr werden vom Erzähler alle Informationsstückchen mitgeteilt und ausgebreitet, er lenkt einen nur sehr gekonnt auf die falsche Spur.

So oder so ähnlich sollte ein unzuverlässiger Erzähler aussehen. Er sollte mich nicht anlügen, ohne wenigstens seine Lüge zu thematisieren. Ansonsten verfällt für mich da irgendwie der Sinn der Sache und es wird zu einem Trick, um am Ende einen Plottwist hervor zu zaubern.

Gerade in den Thrillern, die du ja angesprochen hast, Lothen, finde ich das bisweilen furchtbar. In Ms. Highsmiths Essay dazu ("Plotting and Writing Suspense Fiction") geht sie auch auf solche Sachen ein - und schiebt das in eine Schublade mit eher billigen Tricks und Kniffen, die Spannung nur durch einen Betrug am Leser schaffen. Also beispielsweise eben die Einführung irgendeines obskuren Gifts oder biologischen Fakts, das doch X als Mörder entlarvt, obwohl alles andere das ganze Buch über auf Y hindeutet.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:27:40
Ich mag den unzuverlässigen Erzähler sehr – aber nur, wenn ich auch eine Chance habe, die Wahrheit selbst herauszufinden. Es ist also vollkommen in Ordnung, wenn der Erzähler ein Detail nicht als nicht wichtig erachtet, aber ich als Leserin würde dieses Detail doch ganz gern wissen, um mir selbst ein Urteil zu bilden.

Da ich sehr häufig nah an den Figuren schreibe, selbst wenn es nicht die Ich-Perspektive ist, nutze ich dieses Mittel zwangsläufig. In Sternenbrand zB war die Wahrheit immer irgendwo zwischen Jonas' und Zenys Perspektive, die beiden waren die beiden Extreme und Leser*innen müssen eben selbst schauen, was stimmt und wo wieder einer übertrieben hat, weil er den anderen nicht mag. Den Rückmeldungen zufolge kam das auch gut an ;)

Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors, wo eine der Figuren ständige etwas gedacht hat wie "Oh nein, ich muss aufpassen, dass sie mein Geheimnis nicht herausfinden!" oder "Schnell den Schal drum legen, sonst sehen sie es". Natürlich kam erst ganz zum Schluss heraus, was es denn ist, aber bis dahin war ich schon stinksauer und fühlte mich verarscht. Denn sorry, das ist für mich handwerkliche Faulheit, da jemand einfach keine Lust, es besser zu machen.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Lothen am 27. August 2018, 15:35:25
Zitat von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:27:40Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors
Ahhh, unser gemeinsamer Lieblings-Roman, ich erinnere mich. ;D

Ich sehe da einen entscheidenden Unterschied, ob Figuren Aspekte ihrer Umwelt unterschiedlich interpretieren und dem Leser überlassen ist, wem er nun glaubt (wie es bei dir bei Sternenbrand war), oder ob sie einfach Fakten über sich oder ihre Umwelt nicht preisgeben. Ersteres finde ich auch spannend, da geht es ja auch um Blickwinkel, Psychologie, individuelle Wahrnehmung etc. Aber wenn mir Prota-Chan einfach mal Dinge aus ihrer Vita verschweigt, obwohl sie offensichtlich sind, stört mich das.

Zitat von: Tintenteufel am 27. August 2018, 15:22:08
Viel mehr werden vom Erzähler alle Informationsstückchen mitgeteilt und ausgebreitet, er lenkt einen nur sehr gekonnt auf die falsche Spur.
So oder so ähnlich sollte ein unzuverlässiger Erzähler aussehen. Er sollte mich nicht anlügen, ohne wenigstens seine Lüge zu thematisieren. Ansonsten verfällt für mich da irgendwie der Sinn der Sache und es wird zu einem Trick, um am Ende einen Plottwist hervor zu zaubern.
Das klingt wiederum spannend. Wie du sagst: Entscheidend ist, ob alle Infos da sind, nicht, wie sie interpretiert werden. Interpretation kann ich ja dem Leser überlassen, aber die Information selbst sollte irgendwo erkennbar sein.

Die gleiche Autorin, von der mein Negativ-Beispiel stammt, hat das in einem anderen Thriller sehr gut gelöst: Da gibt es ein scheinbar belangloses Gespräch im Mittelteil, das wichtige Informationen zur Auflösung enthält.  Das Gespräch ist da, die Info auch, nur in den Gesamtzusammenhang einsetzen muss man sie als LeserIn selber. Das gefiel mir gut.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:49:43
Zitat von: Lothen am 27. August 2018, 15:35:25
Zitat von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:27:40Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors
Ahhh, unser gemeinsamer Lieblings-Roman, ich erinnere mich. ;D

Ja, genau der ;D

Das nicht Nichtpreisgeben von Infos hat seinen Reiz, muss aber eben verdammt gut gemacht sein. Wenn eine Figur aus ihrer Rolle fällt, weil sie jetzt nicht an etwas denkt, wo es doch für sie logisch wäre, ist das schlecht. Sowas kann ich auch überhaupt nicht leiden, vor allem, weil es vermeidbar ist. Möchte man eine Info nicht in der Situation preisgeben, in der sie eigentlich logischerweise die Gedanken der Handelnden dominieren müsste, denkt sie eben daran, dass sie da jetzt nicht dran denken möchte und sich konzentrieren muss. Zu lange sollte man dann aber nicht damit warten, was sie denn da emotional aufgewühlt hat. Zumindest würde ich als Leserin so eine Lösung akzeptieren können.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Carolina am 27. August 2018, 16:04:47
Ich finde das Thema sehr interessant, würde mich aber selbst nicht dran wagen. Ich erzähle immer sehr nah an meinen Figuren. Würde ich dem Leser Infos vorenthalten, würde ich sie glaube ich verprellen. Lieber lasse ich gemeinsam mit dem Leser die Rätsel und Geheimnisse aufdecken, das finde ich ehrlicher und authentischer.

Falls jemand von euch ein wirklich gutes Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler kennt, der die Leser nicht verprellt, sehe ich mir das jedoch gerne an. Man lernt ja bekanntlich nie aus.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Fianna am 27. August 2018, 16:26:39
Gerade Agatha Christie hat doch ein sehr gutes Beispiel für einen unaufrichtigen Erzähler. Das war lange Zeit ein Paradebeispiel, ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass es kommt:
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Trippelschritt am 27. August 2018, 17:01:34
Ich mag keinen unzuverlässigen Erzähler. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein gut erzähltes Buch kenne. Und gar nicht mag ich wichtige Fakten, die mir vorenthalten werden und mich am Ende wie einen Deppen dastehen lassen. Dann hält der Autor den Vertrag mit dem Leser nicht ein.

Aber ich mag unzuverlässige Figuren, von denen ich weiß, dass sie eventuell aus persönlichen Gründen lügen. Dann kann ich überlegen, ob ich ihm glaube oder nicht.

Liebe Grüße
Trippelschritt
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Alana am 27. August 2018, 17:23:54
Jeder personale Erzähler, egal ob Ich-Perspektive oder 3. Person, mit Backstory ist in meinen Augen ein unzuverlässiger Erzähler. Eigentlich kommt das also in so ziemlich jedem Liebesroman vor.

Zitat"Oh nein, ich muss aufpassen, dass sie mein Geheimnis nicht herausfinden!"

Sowas ist natürlich extrem cheesy. Man kann das einmal machen, um Neugier zu wecken, aber nicht ständig und dann muss man auch aufpassen, dass man es so formuliert, dass es beim Leser nicht zu Augenrollen führt.

@Fiannas Spoiler: Sowas finde ich extrem cool.

Es ist auf jeden Fall nicht leicht, das richtig zu machen, ich habe das gerade in meinem aktuellen Roman, wobei ich eben immer versuche, es so zu erzählen, dass die Figuren einfach nicht über diese Dinge nachdenken oder reden, weil sie ihnen eh völlig klar sind, oder sie es tatsächlich in dem Moment aktiv verdrängen. Auch das muss man natürlich dosiert einsetzen. Ich hoffe, es gelingt mir.  ;D

Zitat"Schnell den Schal drum legen, sonst sehen sie es"

Das hingegen finde ich einfach nur albern. Aber ich denke, sowas kann man auch machen, wenn man es eben gut macht und etwas Zeit in die Wahrnehmung der Figur steckt.

ZitatDas sehe ich auch so. Unnötige Details können gerne weg.

Nicht nur unnötige Details, man kann schon auch richtig große Sachen weglassen, weil es eben wirklich völlig natürlich ist, dass man nicht immer über sowas nachdenkt und vieles kann man auch darüber lösen, dass man die Figur nicht denken, sondern nur wahrnehmen und handeln lässt. Das ist sowieso schöner, finde ich jedenfalls, weil es showed und nicht tellt, und gerade die Ich-Perspektive nutze ich gern dazu, so showy wie möglich zu schreiben. Beispiel: Wenn ich meinen Ex-Mann jeden Tag sehe, dann denke ich eben nicht jedesmal, wenn er mir begegnet, darüber nach, dass er mein Ex-Mann ist. Ich denke vielleicht darüber nach, dass er ein Arschloch ist.  ;D Oder mir fällt die Kaffeetasse runter, wenn er mir nach langer Zeit wieder begegnet. Dann gebe ich dem Leser eine Info, sage aber noch nicht, was Sache ist. Sowas hätte man z.B. auch in der von dir beschriebene Szene evtl. machen können. Allerdings stellt sich mir bei so einem Twist auch die Frage, wie nötig sowas wirklich für die Story ist und ob man die Story nicht auf besseren Twists aufbauen könnte.

ZitatWo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben


Sowas finde ich auch extrem ärgerlich und nervig. Ich denke mir immer, wenn manche meiner Leser schon zu früh auf den Twist oder die Lösung kommen, ist das gar nicht schlimm, denn das bedeutet, dass ich die Fährte gut gelegt habe. Und diese Leser haben trotzdem Lesespaß, weil sie wissen wollen, ob sie recht haben. Außer natürlich, es ist total offensichtlich, aber ich hoffe mal, das ist bei meinen Romanen nicht so. :P
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Holger am 27. August 2018, 18:00:20
Ich liebe unzuverlässige Erzähler - egal ob in Filmen, Serien, Büchern oder Spielen. Aber sie müssen gut geschrieben sein.

Wie auch hier schon erwähnt, ärgert es auch mich maßlos, wenn ich mir als Leser oder Zuschauer "veräppelt" vorkomme. Gerade Agatha Christie kam mir da auch als gutes Beispiel in den Sinn - und viele Krimis. Wenn der Ermittler einfach irgendwelche Details aus dem Hut zaubert, die vorher nie aufgetaucht sind, nie erwähnt oder thematisiert wurden, dann ist das in meinen Augen ein billiger Trick, damit der Leser nicht die Lösung erraten kann. Aber ich liebe es, wenn ein solcher Twist kommt und es einem wie Schuppen von den Augen fällt: "Ach, jetzt verstehe ich, warum vorher ..." Das ist dann in meinen Augen ein richtig geschriebener unzuverlässiger Erzähler.

Es ist für mich auch nicht schlimm, wenn man den Twist doch früher bemerkt, als es eigentlich geplant war. Das liegt in der Natur der Sache, wenn etwas "fair" für den Leser geschrieben ist. Beispielsweise empfand ich den Twist bei "Sixth Sense" sehr offensichtlich und ahnte schon nach 20 Minuten, was der große Kniff sein sollte. Trotzdem mochte ich den Kniff und ich mochte auch, wie fair das erzählt war. Ich hatte wirklich Freude beim Sehen des Films daran, wie die Zuschauer aktiv in die falsche Richtung geführt wurde. Ähnliches bei "Fight Club". Die Kunst ist es, Details natürlich einzufügen, die zwar auf diese Twists hindeuten, aber am Anfang eher nicht beachtet werden. Wenn der Leser/Zuschauer zu früh drauf kommt, sollte aber der Rest des Textes oder Films auch für sich stehen können. Wichtig ist also, dass der "Twist" nicht das zentrale Element des Texts/Films ist, sondern dass er auf mehreren Ebenen funktioniert und Spaß macht.

Bei Texten empfinde Ich-Erzähler als unzuverlässige Erzähler sehr dankbar - und auch einfacher zu schreiben. Sie haben häufig eine Motivation, warum sie Dinge weglassen oder lügen. Das muss dann nur konsistent mit dem Charakter sein und schon funktioniert der unzuverlässige Erzähler ganz einfach und fast wie von selbst. Wenn ich einen Ich-Erzähler habe, der über jemanden lästern will, dann wird er natürlich diese Person verzerrt oder falsch darstellen. Besonders spannend ist das bei einer bösen oder wahnsinnigen Figur - zumindest muss ich da direkt an "The Tell-Tale Heart" von Poe denken. Das hat zwar auf anderer Ebene einen Twist, aber dadurch, dass die Gedankenwelt des Ich-Erzählers so verdreht und falsch und böse ist, ist er auch ein recht guter unzuverlässiger Erzähler. Viele Lovecraft-Protagonisten würde ich auch dazu zählen, besonders wenn sie anfangen, Sachen auszusparen und sich nicht trauen sie zu erzählen, weil sie Angst davor haben - oder die Befürchtung haben, wenn sie es erwähnen, dass schlimme Dinge passieren.

Bei einem Erzähler in der 3. Person ist es in meinen Augen etwas kniffliger, aber auch hier kann es ganz gut klappen. Beispielsweise finde ich es bei Harry Potter durchaus recht gut umgesetzt, weil man die Welt in erster Linie aus Harrys Sicht sieht und die ist beschränkt - und manchmal auch gefärbt und falsch. Besonders in "Order of the Phoenix" wird damit ganz nett gespielt, wie unfair alles dargestellt wird, gerade wie Harry von Dumbledore behandelt wird - später, wenn es aufgeklärt wird, ergibt das alles dann mehr Sinn.

Meiner Ansicht darf der Leser sich einfach nicht veräppelt fühlen am Ende, sondern sollte denken: "Eigentlich klar, denn im Text gab es ja vorher...." Das funktioniert, indem man charakterkonform Sachen auslässt, Wissen begrenzt oder entsprechend färbt. Je näher man am Charakter ist, desto eher sollte es über den Charakter erklärt werden können, warum dieser etwas nicht erwähnt. Wenn man nüchtern und entfernt vom Charakter ist und sogar zwischen Charakteren springt, wird das Ganze kniffliger und problematischer. Der Klassiker in meinen Augen für einen gut umgesetzten unzuverlässigen Erzähler ist Nick Carraway in "The Great Gatsby" - er lässt Sachen aus, er lügt und er hat eine eigene Agenda, warum er das macht. Wie die genau aussieht, darüber kann man diskutieren, aber es wirkt stimmig und das macht es in meinen Augen zu einem tollen Element des Buchs.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Arcor am 28. August 2018, 09:11:12
Ich bin da auch ziemlich bei euren Meinungen. Wenn es gut gemacht ist, ist es eine Augenweide und ein richtiger Lesespaß. @Holger, bei J.K. Rowling stimme ich absolut zu. Schon im ersten Band gibt es den Nicolas Flamel-Hinweis, den kaum einer versteht, weil er auf Dumbledores Schokofrosch-Karte steht, im zweiten Band dann das "Entsorgen" von Riddles Tagebuch, im dritten die Zeitumkehrer-Hinweise bei Hermione, im vierten ... Es zieht sich durch und sie ist eine Autorin, die es in meinen Augen phänomenal gut hinbekommt, ohne den Leser zu veralbern.

@Lothen
Dein Eingangsbeispiel ist für mich ein klassisches Beispiel für "filmische Umsetzung". Im Film funktioniert das ohne Worte gut, man kann viel mit Perspektiven und Schnitten arbeiten, um etwas anzudeuten oder eben zu verbergen oder Sachen im Hintergrund darstellen, die man leicht übersieht. Bei einem Erzähler in einem Roman funktioniert das nicht, gerade wenn es ein Ich-Erzähler ist. Das ist einfach nur billig.

Ich spiele aber auch mit dem Gedanken, so etwas einmal auszuprobieren - und zwar mit einer Figur, von der der Leser weiß, dass sie ein chronischer Lügner ist. Das könnte funktionieren, wenn der Leser somit alles, was er durch den Prota präsentiert bekommt, hinterfragen muss - vorausgesetzt, es gibt noch andere Perspektiven, die stimmig sind.  :hmmm:
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Sturmbluth am 29. August 2018, 15:34:01
Bisher wurde der Unzuverlässige Erzähler hier als eine Figur beschrieben, die dem Leser Wissen vorenthält, obwohl das sie sicher besitzt (Poirot hat einen Hinweis auf den Mörder, sagt aber nichts). Das könnte dem Leser, wie hier im Thread erwähnt, unangenehm aufstoßen.

Es gibt aber auch noch die Variante, dass der Unzuverlässige Erzähler die Welt so beschreibt, wie er sie eben sieht. Mit seinem Wissen, durch seine Augen - und die sind halt nicht immer korrekt, eben unzuverlässig.

Beispiel: Eine Figur hat ein niedriges Bildungsniveau und stößt auf einen fremdsprachigen Begriff.
ZitatAlea iacta est stand auf dem Buch.
"Ah, Italienisch", dachte Figur A.

Der gebildete Leser kapiert natürlich, dass es kein Italienisch ist, selbst, wenn er die Bedeutung von "Alea iacta est" nicht kennt. Andere mögen vielleicht glauben es wäre wirklich Italienisch.

Man kann nun damit spielen und die Figur entsprechend charakterisieren, wenn man vom gebildeten Leser ausgeht (der denkt dann "Man, was ist diese Figur ungebildet" - was ja ein gewünschter Effekt sein kann).

Man kann aber auch ein schwierigeres Beispiel nehmen, dass der Leser selbst nicht durchschaut. Dann kann der Leser dem Autor aber keinen Vorwurf machen, denn die Figur wusste es ja nicht besser. Bei der Auflösung wird der Leser dann zusammen mit der Figur überrascht.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Lothen am 29. August 2018, 16:09:26
Zitat von: HolgerAber ich liebe es, wenn ein solcher Twist kommt und es einem wie Schuppen von den Augen fällt: "Ach, jetzt verstehe ich, warum vorher ..." Das ist dann in meinen Augen ein richtig geschriebener unzuverlässiger Erzähler.
So was mag ich auch. Das passt zu dem, was @HSB schrieb: Wenn der Erzähler, d.h. die Figur selbst, es nicht besser weiß und in dem Kontext die Verbindung zwischen A und B nicht herstellen kann, einen bestimmten Hinweis falsch deutet oder einen guten Grund hat, Fakten zu verschweigen (oder nicht wahrzunehmen), dann finde ich das unzuverlässige Erzählen auch spannend. Ich mag es nur dann nicht, wenn die Figur keine Motivation hat und nur der Autor/die Autorin bewusst etwas weglässt oder verschweigt.

Mir ist auch noch ein Beispiel eingefallen, wo ich es - wohldosiert - mag, nämlich dann, wenn es um Coups geht. Zuletzt ist mir das in "Piraten des Mahlstroms" von Nils Krebber aufgefallen, es gibt aber sicher noch weitere Beispiele. Die Figuren haben einen Plan, agieren danach, geben den Lesern aber nichts davon preis, sodass spannend bleibt, was als Nächstes passiert und an welchen Stellen das Vorhaben gelingt und wo es scheitert.

Zitat von: Arcor am 28. August 2018, 09:11:12Ich spiele aber auch mit dem Gedanken, so etwas einmal auszuprobieren - und zwar mit einer Figur, von der der Leser weiß, dass sie ein chronischer Lügner ist. Das könnte funktionieren, wenn der Leser somit alles, was er durch den Prota präsentiert bekommt, hinterfragen muss - vorausgesetzt, es gibt noch andere Perspektiven, die stimmig sind.  :hmmm:
Mach das, das hört sich spannend an! So etwas Ähnliches gibt es auch in "The girl on the train":
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.
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Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Evanesca Feuerblut am 12. September 2018, 11:37:42
Ein interessantes Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler ist "Die Entdeckung des Salai" von Monaldi und Sorti - da wird der Protagonist mehrfach in einem Verhör befragt und erzählt jedes Mal die gleiche Geschichte. Aber jedes Mal mit mehr Details, weil ihm sonst bei den Ermittlungen zu sehr auf die Pelle gerückt wird. Das fand ich sehr interessant.

ZitatEs gibt aber auch noch die Variante, dass der Unzuverlässige Erzähler die Welt so beschreibt, wie er sie eben sieht. Mit seinem Wissen, durch seine Augen - und die sind halt nicht immer korrekt, eben unzuverlässig.
Das mache ich beispielsweise immer, wenn ich in der ersten oder dritten Person schreibe und personell agiere. Dann sind alle meine Erzählinstanzen grundsätzlich unzuverlässig. Ich habe aber gemerkt, dass damit teilweise schon das Lektorat im Verlag überfordert ist. Mir wurde angekreidet, dass Figuren da Sachen in erlebter Rede von sich geben, die gar nicht stimmen, weil Handlung soundso.
Aber wenn die das so wahrnehmen ... ist das für die halt so.

Das Eingangsbeispiel aus dem ersten Post fände ich aber auch eher schlecht umgesetzt. Da würde ich mich veräppelt fühlen.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Churke am 12. September 2018, 12:00:51
Was ist ein unzuverlässiger Erzähler?
Ein Erzähler, dem der Leser aus irgendwelchen Gründen nicht vertrauen darf. Und wenn er ihm dennoch vertraut, wird er getäuscht und in die Irre geführt. Das Stilmittel ist umso wirkungsvoller, je mehr sich die Wahrheit des POV vom objektiven Geschehen unterscheidet.

Für mich ist der unzuverlässige Erzähler der Normalzustand. Der Erzähler beschreibt die Welt (und Geschichte) so, wie er sieht und erlebt. Der Erzähler kann sich massiv irren und er erzählt häufig Mist, aber ich lasse ihn niemals bewusst anlügen. Wenn der Erzähler lügt, dann gibt er eine Lüge weiter, die er selbst für die Wahrheit hält.

Aus meiner Sicht liegt die Schwierigkeit darin, den Leser zwischen den Zeilen (oder ggf. durch andere Perspektivträger) mit den nötigen Informationen für ein objektives Bild zu versorgen. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass ein relevanter Teil meiner Leser auch nur die Hälfte dessen mitbekommt, was ich in den Texten verstecke, aber das sehe ich sportlich.  :)
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Angela am 12. September 2018, 18:14:03
Ich habe gerade 'The Woman in the Window' gelesen. Die Erzählerin wirkt verlässlich, aber nach und nach merkt man, dass vielleicht etwas mit ihr nicht stimmt. Sie trinkt gerne einen, merkt aber nicht, wie viel zu viel sie eigentlich trinkt (scheint mir momentan 'in' zu sein in Thrillern). Okay, das mit dem Alkohol geht anderen von uns auch so. Dann kommt der Punkt, an dem die Geschichte plötzlich umklappt. Was kann man ihr/sie sich noch glauben, was nicht. Schon gut gemacht, spannend. Kam mir vor wie ein Hitchcockfilm.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Was für ein spannendes Thema! Vielen Dank dafür!


Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:


Dann hätte ich eine zweite Frage in dieselbe Richtung: Wie viel Wiederholung darf es sein, wenn zwei Figuren eine Szene ganz unterschiedlich erleben? Das wäre ja eine Art unabsichtliche Unzuverlässigkeit. Erzählt man am besten die relevanten Szenen zweimal oder lässt man nur die jeweils spannendere zu Wort kommen? Aber wie wissen die Leser dann, dass die stumme Perspektive das gerade ganz anders wahrnimmt? Reagiert sie einfach "unangemessen"?

Als Extrembeispiel würde ich hier gerne den Film Wahnsinnig verliebt mit Audrey Tautou erwähnen (im Original A la folie ... pas du tout!). Ich versuche das mal ohne Spoiler zusammenzufassen: Der erzählt dieselbe Beziehung zweier Menschen zweimal. Einmal aus ihrer, einmal aus seiner Sicht. Und beide erleben dieses Zusammenkommen jeweils komplett anders. Der Film macht in der Hälfte einen Schnitt und erzählt dann alle Szenen noch einmal.
Im Film funktioniert das gut - aber kann man im Buch so viel Wiederholung bringen? Und wie streicht man die Unterschiede so stark heraus?


Als interessantes Beispiel fällt mir zum Thema noch der eine Prolog aus der Twilight-Reihe ein. Der geht in etwa so: "Ist es in Ordnung, an der Stelle einer Person zu sterben, die man liebt?" Und dann natürlich noch ganz viel Blabla.  ;D Aber der springende Punkt ist, dass die Person nicht namentlich erwähnt wird und man anhand der vorherigen Bände automatisch davon ausgeht, dass es sich bei der Person um ihren Love Interest handeln muss. Dieselbe Szene kommt dann später im Buch nochmals vor und man erfährt mehr. Das gibt eine gewisse dunkle Vorahnung, sobald man realisiert, dass es auf die Szene aus dem Prolog zu geht. Jetzt mal unabhängig von der Qualität der Bücher fand ich diesen Effekt noch spannend.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Arcor am 19. September 2018, 08:33:19
@Ilva
Mir fällt dazu der Beginn von Red Seas under Red Skies von Scott Lynch ein, der mich sehr an Serienauftakte erinnert. Man bekommt eine packende Szene geliefert, bei der man als Leser am Ende groß die Augen aufreißt und sich fragt, was denn hier falsch läuft, dann springt man zurück (4 Stunden/2 Tage/6 Wochen zuvor) und erfährt, wie es zu der Szene kommt und der WTF-Moment wird aufgelöst. Ich bin mir nur bei der Szene gerade nicht sicher, ob man einen Perspektivwechsel vom Prolog zur späteren Szene hat oder nicht.

Szenen zweimal zu erzählen finde ich aber prinzipiell okay, vorausgesetzt sie sind nicht zu lang - 10 Seiten Dialog fände ich zum Beispiel schwierig, es sei denn wir haben bei der ersten Perspektive aus irgendeinem Grund das Finale nicht mitbekommen. Auch müssen sich die Perspektiven sehr stark unterscheiden und - für mich ganz wichtig - es muss ein Mehrwert für den Leser dabei herausspringen. Und das wäre für mich mehr als nur zu erfahren, wie sich die andere Figur dabei fühlt. Aus ihren Gedanken müsste sich etwas Neues für den Leser ergeben, sonst schätze ich, würde ich es als Füllsel betrachten.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Alia am 19. September 2018, 09:02:51
Scott Lynch macht das gut. Er springt ja immer zwischen der Vergangenheit und "jetzt" hin und her ohne dass die Spannung dadurch nachlässt. Im Gegenteil. Dadurch, dass es immer (mindestens) zwei Zeiten gibt, von denen erzählt wird, kommt erst richtig Spannung auf und etliche Informationen kann man erst richtig einordnen, wenn man andere Teile aus der Zukunft oder Vergangenheit gelesen hat.
Im ersten Band springt er immer zwischen Locke als Kind und Locke als Anführer der Gentleman Bastards hin und her.
Im zweiten Band liegen die Zeitebenen näher beieinander. Die eine ist kurz nach der schlimmen Verletzung und Flucht von Locke und Jean und die andere ein ganzes Ende später.
Beim dritten Band haben wir Locke und Sabetha in dem Wettkampf als Gegner und die Beziehung der beiden ganz zu Anfang.
Aber er kann das einfach.
Ich habe gerade Spiegelsplitter und Spiegelstaub von Ava Reed gelesen. Dort hat man die Perspektive von ihm und ihr abwechselnd. Die überschneiden sich aber so viel (teils werden ganze Dialoge und Handlungen mal aus ihrer mal aus seiner Sicht geschildert), dass es langweilig wird. Wenn beide getrennt agieren geht es. Aber sobald man jede Szene an der beide beteiligt sind doppelt bekommt, nervt es nur noch. Ich habe dann ganze Teile einfach nur noch überflogen, bis endlich wieder etwas kam, was neu war. Die Idee des Buchs, der sonstige Schreibstil, etc. sind eigentlich gut, aber diese Wiederholerei vermiest es einem. Ja, man lernt dadurch, dass er vielleicht etwas anderes gesagt hat, als er meinte oder sie vielleicht anders handelte, als sie fühlte. Aber das muss man anders auflösen.

Die Lügen eines unzuverlässigen Erzählers muss man anders ans Licht bringen, als durch schlichte Wiederholung aus einer anderen Perspektive. Zumindest, wenn sich die Handlung dermaßen viel überschneidet. Bei "Acht Blickwinkel" ist es z.B. vollkommen okay die ganze Geschichte mehrmals mitzubekommen. Aber da liegt der Fokus auch jedesmal anders und es wird dadurch nicht langweilig.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Gilwen am 19. September 2018, 11:53:28
Bei Holly Black in den Curse Workers ist das mit dem unzuverlässigen Erzähler auch wunderbar gemacht. Man zweifelt schon an der geistigen Gesundheit des Ich-Erzählers, besonders in Band 1, und auf einmal bekommt man einen Hinweis, und alle Puzzlestücke vorher machen auf einmal Sinn!
Der Protagonist Cassel tut teilweise Dinge aus einem Gefühl heraus oder weiß etwas, das der Leser nicht weiß, aber es ist so geschickt gemacht, dass es einem erst gar nicht richtig auffällt.

Übrigens eine tolle Reihe, könnte ich eigentlich mal wieder lesen  :hmmm:
Sehr düster, spielt in einer Parallelwelt unserer heutigen Zeit, aber manche Menschen sind so genannte Fluchwerker und können durch Berührungen mit ihrer Hand andere Leute beeinflussen. Eine gut ausgearbeitete Welt, interessante Figuren, es geht um Familie, die Mafia und eine nicht zu aufdringliche Liebesgeschichte ist auch dabei.

Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:

Ich glaube, das kommt darauf an... Man kann eine Auflösung machen, vielleicht fällt der Figur etwas ein, was sie bis zu einem bestimmten Punkt vergessen hatte, oder die Hinweise, dass das, was die Figur schildert, nicht die Realität sein kann, häufen sich immer weiter an. Man könnte am Ende auch aus der Figur hinausspringen und aus einer Perspektive von außen zeigen, was eigentlich in Wirklichkeit los ist.
Das ist ja grade das Spannende daran, dass man so viele Möglichkeiten hat. Gerade das macht es ja auch für einen Leser unvorhersehbar.

Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Dann hätte ich eine zweite Frage in dieselbe Richtung: Wie viel Wiederholung darf es sein, wenn zwei Figuren eine Szene ganz unterschiedlich erleben? Das wäre ja eine Art unabsichtliche Unzuverlässigkeit. Erzählt man am besten die relevanten Szenen zweimal oder lässt man nur die jeweils spannendere zu Wort kommen? Aber wie wissen die Leser dann, dass die stumme Perspektive das gerade ganz anders wahrnimmt? Reagiert sie einfach "unangemessen"?

Also genau nochmal dieselbe Szene aus der anderen Perspektive würde ich vermeiden. Oder die andere Perspektive müsste wirklich komplett anders sein, sonst wird es vermutlich schnell langweilig.
Vielleicht kann man ja aus der anderen Perspektive in einer Rückblende zeigen, wie die andere Figur die Situation erlebt hat. Oder man trennt die beiden Perspektiven voneinander, indem man den einen zB im Prolog berichten lässt und der Leser daraus Schlüsse auf eine Situation zieht, die man dann aber später im Verlauf der Geschichte als falsch aufklärt, indem man die Szene nochmal aus der "richtigen" Perspektive zeigt.
Titel: Re: Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?
Beitrag von: Churke am 19. September 2018, 12:59:49
Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:

Es ist wie im wahren Leben: Wenn dir jemand mit "do what I say not what I do" kommt, spricht einiges dafür, dass er dich du ver*rschen will.  ;) Achte also nicht auf die Lippen, sondern die Hände, und wirst die Wahrheit erkennen. Dafür brauchst du keinen Gewährsmann.

Davon abgesehen halte ich in den meisten Fällen eine "Aufklärung" für unnötig. Was spielt es für eine Rolle, ob eine Figur ein genialer Visionär oder ein geisteskranker Irrer ist? Soll doch der Leser entscheiden, nachdem du ihn mit Argumenten für beide Sichtweisen versorgt hast. Ich würde sogar sagen: Je schwerer dem Leser die Entscheidung fällt, desto besser hat der Autor gearbeitet.

Das Wiederholen von Szenen aus anderer Perspektive ist überflüssig. Es gibt genug andere und vor allem bessere Möglichkeiten, um die Sicht der anderen Seite zu zeigen. Reflexion, Reaktion, eine andere Szene... der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.