Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Ilva am 15. August 2014, 16:49:21

Titel: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 15. August 2014, 16:49:21
Hallo liebe Schreiberlinge ;)

Ich habe ein Problem mit meiner Geschichte, aber da ich dachte, man könnte das auf eine Diskussion ausweiten, poste ich es hier und nicht im "Autoren helfen Autoren"-Teil. Falls das nicht in Ordnung ist, würde ich das Thema gerne verschieben lassen. Danke schön. :)

Also folgende, allgemeine Fragen:

Müssen die Hauptpersonen schon von Anfang an dabei sein oder ist es erlaubt / machbar, jemanden erst während der Geschichte zum Perspektivträger zu machen, damit man nicht alles von Anfang an ausplaudern muss?
Kennt ihr Bücher, wo man sich mittendrin an eine neue Person gewöhnen muss und war das angenehm zu lesen?


So und jetzt noch der persönliche Hintergrund, falls das jemand lesen möchte: ;)

Ich habe nämlich gerade das Problem, dass meine Antagonisten sich als nicht so böse herausgestellt haben wie ich dachte. Besonders einer möchte seine Motive erklärt haben.
Wenn ich ihn aber von Anfang an aufführe, was zwar von der Zeitachse her passen würde, ist sofort klar, dass er zu der Gegenseite gehört und dass diese nur halb so schlimm ist wie gedacht. Für eine Weile hätte ich aber schon gerne richtig böse Antas.  :darth:
Meine provisorische Lösung ist, dass er erst kurz vor dem Showdown eine Stimme bekommt, aber trotzdem seine Geschichte erzählt wird, also quasi ein Zeitsprung rückwärts. Er erlebt auch weniger als die anderen (die ursprünglichen Guten), deshalb sollten diese nicht vergessen sein, wenn es dann knallt. Das Ziel ist, dass man sich nicht mehr richtig freuen kann, falls die Guten gewinnen. Jede Medaille hat zwei Seiten, nicht?


Ich freue mich schon auf eure Antworten. :)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Simara am 15. August 2014, 17:10:24
Ich persönlich glaube, das so etwas, solange gut gemacht, kein Problem sein sollte. Als Beispiel für eine perfekte, wenn auch noch viel kompliziertere Ausführung muss man sich ja nur "Ein Lied von Eis und Feuer" vor die Augen führen. Doch auch in kleinerem Maße gibt es das bestimmt irgendwo... Jedoch solltest du gerade bei deinem Szenario aufpassen, dass es auch mit dem Rest des Erzählflusses stimmig ist.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Tanrien am 15. August 2014, 17:19:52
Mich persönlich stört so etwas nur, wenn die Regeln am Anfang nicht klar sind und in deinem Fall die Antagonistenperspektive mich (dann negativ) überrascht. Um jetzt bei Simaras Beispiel zu bleiben ist bei ASoIaF ja direkt vom dritten Kapitel an klar, dass es viele verschiedene Perspektivträger geben wird, da ist es dann völlig selbstverständlich, dass gegebenfalls auch jeder Charakter drankommen kann. Aber nehmen wir einen Roman, der die ganze Zeit aus Sicht eines Charakters geschrieben ist und dann später erst eine andere Perspektive einführt - da würde ich mich schon "betrogen" fühlen, weil ich ja immerhin die Hälfte der Romans mit der Erwartung gelesen habe, jetzt auch schön mit dem einen Charakter und seiner einen Sicht weiter mitfiebern zu können. Da gibt es sicher auch Wege, wie das aufgezogen werden kann, aber mir fallen ehrlich gesagt keine ein. Wichtig wäre vielleicht, direkt von Anfang an zu zeigen, dass da noch später gegebenenfalls eine andere Perspektive kommen kann.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Christopher am 15. August 2014, 17:22:31
In Abercrombies "Klingen"-Reihe kommen über den Verlauf des Buches immer wieder neue Perspektivträger dazu, einige recht spät also quasi "mittendrin". Gestört hat mich das nicht, allerdings gab es da auch von Anfang an mehrere Perspektivträger.

Bei einem Buch das von Anfang an nur einen Perspektivträger hat, würde mich das vielleicht(!) stören, kommt aber darauf an, wie es gemacht ist. Wenn es handwerklich halbwegs sauber abläuft könnte es gehen.

Bei mehreren Perspektivträgern ist es kein Problem für mich.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Siara am 15. August 2014, 17:38:10
Hallo Ilva,

an sich stimme ich meinen Vorrednern zu. Inzwischen habe ich wirklich viele Reihe und Bände gelesen, in denen manche Perspektivträger erst spät eingeführt wurden, mich stört das überhaupt nicht. Es kommt - wie gesagt - immer darauf an, wie es gemacht ist. Deswegen nur noch eine Anmerkung zu deinem Fall: Wenn du den Antagonisten erst kurz vor dem Showdown als Perspektivträger einführst, um dann mal eben seine gesamte Vergangenheit abzurollen (das ist jetzt vermutlich überspitzt), dann glaube ich, kann es schnell zu viel werden. Andererseits kann es wirklich bewegen, wenn der Böse plötzlich als menschlich erscheint, aber auch da kommt es auf's Maß an. Das Prinzip dahinter, dem Sieg der Guten irgendwie den Ruhm zu stehlen, gefällt mir auf jeden Fall sehr. Viel Erfolg bei der Umsetzung! :vibes:
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 15. August 2014, 17:42:44
Ich oute mich mal wieder als Fundamentalist.

Zitat von: Ilva am 15. August 2014, 16:49:21
Müssen die Hauptpersonen schon von Anfang an dabei sein oder ist es erlaubt / machbar, jemanden erst während der Geschichte zum Perspektivträger zu machen, damit man nicht alles von Anfang an ausplaudern muss?

Ich sehe das weniger als ein Problem der Perspektive, sondern vielmehr des Plots. Natürlich kann man irgendwann neue Hauptfiguren und Perspektivträger einführen - aber wozu? Ein Plot, der als Kampf zwischen Pro- und Antagonist kontruiert ist, wird davon nicht besser, dass man nach der Hälfte einen Anta2 einführt, weil Anta1 nicht befriedigt. Die bessere Lösung wäre, Anta1 besser zu entwickeln.

Wo man dieses Staffetten-Spiel bis zum Erbrechen durchexerziert hat, ist die Serie "24", wo sich immer herausstellte, dass der große Boss nur ein Handlang war. Aber das war eine Serie, da ging es darum, die Geschichte weiterzuspinnen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Schwarzhand am 15. August 2014, 18:05:17
Hallo Ilva,
Ich schließe mich Churke in der Hinsicht an, dass man immer einen neuen Perspektivträger integrieren kann, solange es sich nicht mit der Handlung beißt. Manchmal empfinde ich es als erfrischend, wenn eine neue Figur in die Geschichte geplatzt kommt und frischen Wind mitbringt. Nun aber zu deinem speziellen Problem:
Sollte dein Antagonist wirklich völlig aus seiner Rolle fallen, gibt es, so wie ich das sehe, zwei Optionen. Die erste wäre, du überarbeitest den Antagonisten und jede Szene, die mit ihm zu tun hat. Das ist natürlich mehr Arbeit, verringert jedoch das Risiko, dass der Leser durch einen neuen Antagonisten gestört wird, auf null. Die zweite Möglichkeit wäre, einen weiteren Perspektivträger einzubauen. Dann könntest du mit ihm verfahren, wie du schon beschrieben hast und es würde einen klaren Bösewicht geben und nicht den Antagonisten, der sich als gar nicht so böse herausstellt  ;).

Grüße Daljien
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Fynja am 15. August 2014, 18:45:05
ZitatMüssen die Hauptpersonen schon von Anfang an dabei sein oder ist es erlaubt / machbar, jemanden erst während der Geschichte zum Perspektivträger zu machen, damit man nicht alles von Anfang an ausplaudern muss?
Kennt ihr Bücher, wo man sich mittendrin an eine neue Person gewöhnen muss und war das angenehm zu lesen?

Weil es so rezent ist, fange ich bei der letzten Frage an: Vor kurzem habe ich die Divergent-Trilogie gelesen. In den ersten zwei Bänden war Tris die alleinige Perspektivträgerin in der ersten Person. Im dritten Band kam dann auf einmal der Freund der Prota, ebenfalls als Ich-Erzähler hinzu, der zwar als Figur ab dem ersten Band präsent war, aber eben nicht als Perspektivträger.
Dies hat mich gestört, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Innerhalb von zwei Bänden hat man sich an Tris' Stimme gewöhnt, eben weil die Geschichte nur von ihr in der ersten Person erzählt wurde. Im dritten Band hat die Autorin dann zwar über dem Kapitel angemerkt, wer der jeweilige Perspektivträger ist, aber da auch Tobias in der Ich-Perspektive erzählt hat und sich die Erzählstimme stilistisch meiner Meinung nach fast gar nicht  von Tris' unterschieden hat, war ich oft verwirrt und habe die Geschichte aus Gewohnheit weiter mit Tris als Erzählstimme gelesen.
2. Natürlich will ich der Autorin das nicht vorwerfen, weil ich nicht weiß, ob es stimmt, aber es hat ein wenig den Eindruck erweckt, sie würde die Kapitel aus Tobias' Sicht einbauen, damit auch der letzte Band der Reihe die 500 Seiten füllen kann. Ich habe nicht wirklich einen Grund gesehen, weshalb eine weitere Perspektive benötigt wird, die wenigen Informationen, die man dadurch mehr hatte, hätte man auch anders einbauen können.
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Generell würde ich dennoch nicht behaupten, dass man sowas auf keinen Fall machen sollte. Gerade mein zweites Argument trifft bei dir ja nicht zu, und wenn man ansonsten noch mehr Perspektiven hat oder nicht immer in der Ich-Perspektive schreibt, dürfte es den Leser nicht allzu sehr verwirren. Nichtsdestotrotz sollte man immer abwägen, ob es wirklich nicht anders geht. Als Leser wäre ich zwar erst überrascht davon, wenn am Ende aus einer anderen Perspektive erzählt wird, aber wenn ich einen Sinn darin erkenne oder es den Roman bereichert, würde es mich im Endeffekt nicht weiter stören. Vielleicht gilt das ja nur für mich, aber eine neue Perspektive ist jedenfalls etwas, wobei ich mindestens ein paar Seiten brauche, um mich daran zu gewöhnen (sowohl als Autor als auch als Leser), wenn das aber gelingt, sehe ich kein Problem darin.
Die Antworten zu dieser Frage interessieren mich übrigens auch, weil ich in einem (geplotteten, aber noch nichtgeschriebenen) ein ähnliches Problem wie du habe, mit dem Unterschied, dass eine Figur sich eben nicht von Anfang an als Gegenspieler des Protas offenbaren soll.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Christopher am 15. August 2014, 19:23:13
Ah, gut dass du es erwähnst Fynja. Die Ich-Perspektive wäre eine Ausnahme zu dem von mir gesagtem. Ein Buch in der Ich-Perspektive sollte wirklich nur einen Perspektivträger haben, das wirkt sonst wie du ja beschrieben hast sehr seltsam und schwer gewöhnungsbedürftig.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Tinnue am 15. August 2014, 19:39:24
Ohjee, genau das ist bei mir gerade so ein "Problem". Netterweise habe ich nur noch 3 Kapitel to go, aber jetzt der krasse Hänger. Grund ist die Frage, kurzzeitig eine neue Perspektive einzufügen oder nicht.

Ausgangspunkt: Mein Prota wird von jemandem verraten, nachts aus dem Zimmer ins Freie geschleppt. Das Kapitel endet damit, dass er sich dankbar in die Schwärze der Nacht fallen lässt.
Das folgende Kapitel sollte ursprünglich damit anfangen, dass der Prota den Wald riecht, wach wird und - statt sich dem Grün entgegenzuwerfen - gegen Eisenstangen knallt. Ein Käfig. Er ist also gefangen genommen worden, erinnert sich an das, was vor/nach dem Schlaf kam und fällt in eine Art Lethargie. Ein Schlüsselereignis reißt in wieder heraus.
Nun das Problem: Mein Prota befindet sich als "Ausstellungsstück" in einer Art makabrem Wanderzirkus, wo allerhand Andersartige dem Menschen präentiert werden. Eigentlich muss ich sie kurz (zurück)denken lassen, damit der Leser grob weiß, wo sie ist bzw. wie sie dahin kam. Dann kommt die Lethargie. Die soll eigentlich in wenigen Sätzen geschildert werden, aber da habe ich ein Problem. Der Charakter kann ja nicht von sich so denken, unbedingt. Daher hätte ich kurz aus Sicht des Protas, dann aus der Sicht eines Zwergs erzählt. Die Handlungsstränge kommen quasi im Schlüsselmoment zusammen, der Prota setzt dann wieder und es läuft aus seiner Sicht weiter.

Meine Frage jetzt: Kann man sowas (mal) machen? Oder wirkt das eher unbeholfen? Für mich fühlt es sich ein wenig "richtiger" an, die Lethargie von jemand anderem erzählen zu lassen, jemand, der das mal wieder erlebt, weil er schon viele im Zirkus hat ankommen sehen. Durch die Lethargie wird dann der Ablauf ein wenig geschildert (Prota reagiert nicht, lässt sich begaffen von Uhrzeit X bis Y, sie isst zu Uhrzeit Z, aber so, als hätte sie jeden Geschmackssinn verloren etc etc.) Wenn der Prota wieder einsetzt, weiß man, wie es da abläuft und dass sie einige Tage dort ist, ohne dass dieser Textabschnitt wirklich so lang gerät. Oder würdet ihr eher die Perspektivträger so belassen? Der Zwerg soll in einem weiteren Band nochmal auftreten, bleibt hier fü 2 Kapitel.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Christopher am 15. August 2014, 19:43:03
Hm, ich würde bei der Prota bleiben. Der Wechsel in eine andere Perspektive klingt in deinem Beispiel eher danach, als wenn du bestimmte Dinge dadurch einfacher deutlich machen könntest. Gewinnst du durch diese Perspektive wirklich etwas? Oder ist es nur einfacher zu schreiben? Ich hab jetzt keinen Mehrgewinn für den Leser raushören können, auch wenn das natürlich täuschen kann.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Tinnue am 15. August 2014, 19:49:35
Das ist es ja, da bin ich mir selber grad unsicher. Das ist jetzt wirklich mal wieder so ein Puntk , wo ich merke: Da hab ich noch zu wenig Handwerk für. Ich weiß es nicht, ob es "nur" einfacher zu schreiben ist. Ich weiß aber auch nicht, ob man so eine Lethargie aus Sicht des Protas beschreiben kann. Also ob das logisch geht. Er denkt ja sicher nicht so über sich, wie er tatsächlich drinhängt.
Vielleicht mach ichs mir da grad aber wieder selbst zu schwer.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Schwarzhand am 15. August 2014, 20:13:06
Hallo Tinnue!
Eine ähnliche Situation kenne ich von mir selber, als ich mir das Schreiben damit erleichtern wollte und mir eine weitere Figur und somit eine weitere Sicht kurzfristig aus den Finger saugte. Das was Christopher sagte klingt sehr plausibel für mich, da ich ebenfalls eher eine Vereinfachung des Schreibens heraushöre, als eine Hilfe für den Leser :). Mein Rat: Bleibe bei deinem Protagonisten. Vielleicht kannst du ja einige Erinnerungsschnippsel in das Gedächtnis deines Charakters pflanzen, damit der Leser einigermaßen über das Geschehen bescheid weiß. Wie auch Christopher kann ich mich natürlich täuschen und lese einfach nur heraus, was ich lesen möchte ;).

Grüße Daljien


Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Tinnue am 15. August 2014, 20:15:25
Ja, ich denke fast, ihr habt recht. Ich wrde noch etwas darüber nachdenken, wie ich das Ganze ablaufen lasse, glaube aber, ich bleibe dann doch wirklich beim Prota. :) Danke!
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Christopher am 15. August 2014, 20:18:56
Während der Lethargie macht sie ja auch was. Nur eben nichts äußerlich aktives. Hadert mit ihrem Schicksal. Denkt über dieses und jenes nach. Und dabei tauchen am Rand des Bewusstseins immer wieder Fetzen der Umgebung auf. Jemand starrt sie durch die Gitterstäbe wie ein Tier an, was sie weiter in die Lethargie sinken lässt. Ihr wird etwas zu Essen gereicht, was sie zwar wahrnimmt, aber ignoriert, usw.
Ich kann als Leser durchaus mal damit leben, eine Weile im unklaren zu sein, was GENAU passiert. Das Grobe lässt sich durchaus in Fetzen wiedergeben denke ich. Die einschneidensten Ereignisse oder diejenigen, die dem Leser am ehesten vermitteln, in was für einer Umgebung sie ist durchschimmern lassen, dann kann ich mir den Rest schon zusammenreimen ;)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Tinnue am 15. August 2014, 20:20:32
Danke! Es ist immer wieder Wahnsinn, wie schnell sich ein Problem in Luft auflöst, wenn man nur darüber spricht. Blockade im Hirn. Was bin ich froh. Da kann ich doch bald wieder einsteigen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 16. August 2014, 10:55:57
Vielen Dank für die Antworten. Es ist beruhigend, zu hören, dass man nicht als einzige mit etwas hadert.  :knuddel:
Jetzt sehe ich auch schon viel klarer, worauf ich achten sollte, wenn ich wechsle.
Vermutlich schreibe ich den Ablauf so, wie ich es mir überlegt habe mit all den interessanten Punkten und schaue mal, was für eine Wirkung das erzielt. Falls es nicht klappt, kann ich es ja als Übung verbuchen... :)

Ich fasse für mich mal zusammen und füge weitere Punkte für mich hinzu, korrigiert mich bitte, wenn ich etwas falsch verstanden haben sollte.

- es ist möglich und kommt auch vor
- wenn von Anfang an mehrere Perspektiven zu Wort kommen, wird es auch akzeptiert
- bei Ich-Erzählern ist es einiges schwieriger, weniger gern gesehen und falls doch, sollten die Erzählstimmen sich deutlich unterscheiden
- ein Problem beim Wechsel auf den eigentlichen Antagonisten ist, dass man vielleicht Spannung verliert, weil er ja nicht so böse ist wie gedacht; man fiebert weniger mit den Protagonisten mit
- einen Antagonisten, der doch nicht so fies ist, durch einen noch böseren zu ersetzen, ist eher schwierig, vor allem wenn es mehrmals vorkommt, hier sollte man besser den Anta1 ausarbeiten als ersetzen
- es könnte den Erzählfluss unterbrechen und einen aus der Geschichte herausreissen
- man sollte sich überlegen, ob man mit der neuen Perspektive etwas erreichen will, indem sie vielleicht mehr Tiefe ins Geschehen bringt o.Ä., oder ob man es sich nur einfacher machen will; im ersten Fall ja zur neuen, im zweiten eher nein
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 16. August 2014, 16:57:25
Eine gewisse Gefahr sehe ich darin, dass ein spät eingeführter Hauptcharakter oder ein spät als 'eigentlich nicht so böse, wie immer alle dachten' dargestellter Antagonist einen deus-ex-machina-Eindruck erwecken könnte.

Ebenso unglücklich fände ich es, wenn der GoT-Effekt einträte, wenn ein neuer Hauptcharekter/Perspektivträger aufträte, und der Leser sich während des ganzen Kapitels (und vielleicht noch während vieler anderer) fragen müsste: Wer, zum Teufel ist das, und warum, zum Teufel, muss ich das lesen, was dieser Typ alles erlebt und denkt?

Wenn urplötzlich alles ganz anders weitergeht, als gedacht, dann muss das sehr gut (und für meinen Geschmack ziemlich subtil) vorbereitet sein. Zum Beispiel könnten spät auftretende neue Perspektivträger schon einmal zuvor aus einer anderen Perspektive erwähnt worden sein. Jemand, von dem beiläufig  irgendwas  Plotrelevantes erzählt wird, oder ein im Nachhinein nachvollziehbar werdender Antagonist, von dem zuvor mal erwähnt wurde, dass ja alle wissen, was er für ein Schuft ist.

Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 17. August 2014, 16:23:29
Vielen Dank, canis lupus niger (phu langer Name... ;) )

Das sind noch zwei gute Punkte für meine imaginäre Liste: Deus ex machina vermeiden, Person schon vorher erwähnen und schauen, dass man die Gründe für deren Auftreten nicht zu lange im Dunkeln lässt.

Ist es eigentlich ein Problem, wenn der Antagonist plötzlich erklärbare Motive hat, weil man ihn dann nicht mehr hassen kann?
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 17. August 2014, 21:51:29
Zitat von: Ilva am 17. August 2014, 16:23:29
Ist es eigentlich ein Problem, wenn der Antagonist plötzlich erklärbare Motive hat, weil man ihn dann nicht mehr hassen kann?

Dass man einen Antagonisten nicht mehr hassen kann, wenn man beginnt, ihn verstehen und sein Handeln nachzuvollziehen zu können, das finde ich eher positiv. Die Jahrzehnte, in denen krasse Schwarz-Weiß-Malerei ein notwendiges Element der Fantasy war, sind glücklicherweise vorbei. Sympatische Mistkerle als Antihelden sind ebenso gefragt, wie Antaqgonisten, die gute Gründe für ihr Handeln haben. Man kann es andererseits auch übertreiben mit der schwierigen Kindheit und so. Ein Problem würde ich wie oben schon erwähnt, nur im 'Plötzlichen' der erklärbaren Motive sehen. Wie gesagt, für meinen persönlichen Geschmack (der natürlich nicht allgemeingültig ist) müsste der neue Point of View subtil vorbereitet sein. Subtil, weil ich (persönlich  ;D) auch keinen Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl mag. Da reicht es schon, wenn der Anta zum Beispiel beim Erringen eines vorübergehenden Vorteils nicht in das Triumphgeschrei seiner Mitläufer einstimmt, sondern dass er statt dessen dem besiegten Prota stumm nachsieht. Irgendwas macht ihm in diesem Moment den vorläufigen Sieg bitter, ahnt der Leser, ohne aber zu wissen, warum sich der Mistkerl denn jetzt nicht freut. So was halt ...
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 17. August 2014, 23:35:04
Zitat von: Ilva am 17. August 2014, 16:23:29
Ist es eigentlich ein Problem, wenn der Antagonist plötzlich erklärbare Motive hat, weil man ihn dann nicht mehr hassen kann?
Ich finde das Junktim etwas simpel. Eine Bombe in der U-Bahn ist immer eine Bombe in der U-Bahn. Und der Bombenleger ist ein Mörder.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 18. August 2014, 02:56:10
Und wenn der Bombenleger ein Otto Normalnachbar ist, der die Bomben nur gelegt hat, weil eine Gruppe Terroristen seine Frau und Kinder als Geseln genommen hat? Vielleicht wusste er nichtmal, dass er eine Bombe legt, weil die A****löcher ihm gesagt haben, dass er "nur" eine Tasche mit Drogen oder gestohlenen Dokumenten übergeben soll.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Schwarzhand am 18. August 2014, 03:07:59
Zitat von: canis lupus niger am 18. August 2014, 02:56:10
Und wenn der Bombenleger ein Otto Normalnachbar ist, der die Bomben nur gelegt hat, weil eine Gruppe Terroristen seine Frau und Kinder als Geseln genommen hat? Vielleicht wusste er nichtmal, dass er eine Bombe legt, weil die A****löcher ihm gesagt haben, dass er "nur" eine Tasche mit Drogen oder gestohlenen Dokumenten übergeben soll.

Dann befinden wir uns in einem Teufelskreis in dem man  erst mit Churkes Auffassung argumentieren, und diese dann mit deinem Beitrag  aushebeln könnte. Danach würden wieder Churkes  Sätze folgen und das ganze wiederholt sich.
Grüße Daljien.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 18. August 2014, 08:44:42
Ja, der Mörder wäre im ersten Fall immer noch ein Mörder, aber trotzdem könnte er die Smpathie des Lesers gewonnen haben, weil dieser weiß: Der Mörder ist selber ein Opfer. Im zweiten Fall träfe den Mörder nicht einmal Schuld am Mord, weil Schuld Wissen und Wollen oder zumindest Inkaufnehmen der Folgen (der Handlung) vorausssetzt. So gesehen hätten Churke und ich beide Recht.   :) 
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 18. August 2014, 12:24:44
Ich hatte die Frage so verstanden, dass es darum geht, dass man durch zuviele Sympathiepunkte den Antagonisten kaputt macht. Der nun aufgeführte Bombenleger ist aber nur ein Handlanger und nicht der Superschurke. Es mag sein, dass man ihn für einige Zeit dafür hält - aber sobald der Schleier gelüftet wird, richtet sich der Zorn sofort gegen den soeben eingeführten Big Boss im Hintergrund.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 18. August 2014, 23:45:21
Einen Antagonisten richtig lieb zu haben, geht tatsächlich nicht. Aber was ist zum Beispiel mit dem Loki aus den Marvel-Realverfilmungen? Viele Zuschauer mögen ihn lieber, als die eigentlichen Protagonisten. Ich finde, bei aller objektiver Notwendigkeit, den Antagonisten konsequent zu bekämpfen, kann es in einem gut geschriebenen Roman auch möglich sein, für den Antagonisten bis zu einem gewissen Grad Sympathie zu empfinden, bzw. zu vermitteln.

Der Superschurke, der die Welt aus Prinzip, bzw. reiner angeborener Schlechtigkeit (immerhin ist er Russe oder ein anderer Erzfeind) vernichten will, ist doch irgendwie ein Relikt der 70er-Jahre. Heutzutage sind die Antagonisten gefragter, deren Methoden zwar unmenschlich und hassenswert, deren Motive aber nachvollziehbar sind. Und wenn der Antagonist auch nur einen einzigen netten Zug hätte (er könnte seine alte Mutter sehr gern haben und ihr deshalb sein gesetzloses Tun verheimlichen), kann der Leser oder Zuschauer ihm schon manches verzeihen. 

Zitat von: Churke am 18. August 2014, 12:24:44
Der nun aufgeführte Bombenleger ist aber nur ein Handlanger und nicht der Superschurke. Es mag sein, dass man ihn für einige Zeit dafür hält - aber sobald der Schleier gelüftet wird, richtet sich der Zorn sofort gegen den soeben eingeführten Big Boss im Hintergrund.
Das wäre dann genau der Wendepunkt durch die zusätzliche Information/neue Perspektive, von der Ilva schrieb. So etwas kann meiner Meinung nach ganz gut gehen, wenn es geschickt gemacht wird.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 19. August 2014, 09:25:26
Loki ist zwar Antagonist, aber nicht als Hassobjekt aufgebaut. Auch Thor hasst ihn ja nicht, sondern will ihn nur "aufhalten".

Echte Hassfiguren sind, entgegen landläufiger Vorstellungen, nicht leicht zu erschaffen. Es reicht ja nicht, ihnen Verbrechen anzudichten, muss das gut motivieren und in ein entsprechendes Ökosystem einbetten.
Ein solcher Antagonist ist wertvoll, viel kostbarer als ein Protagonist, und deshalb würde ich ihn nicht vorschnell über den Plot-Jordan schicken.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 19. August 2014, 12:48:26
Darin kann ich Dir nur uneingeschränkt Recht geben. Kein HdR-Leser wird jemals für Sauron Zuneigung entwickeln.

Allerdings kann es auch Spaß machen, den Leser emotional in die Irre zu führen, ihn dazu zu bringen dass er eine Figur hasst (oder mag), und ihm später vor Augen zu halten, dass er sich darin geirrt hat, dass diese Figur noch ganz andere Persönlichkeitsaspekte besitzt, die er noch nicht kennt, und anhand dessen er seine Meinung unbedingt ändern muss. In einem meiner unfertigen Projekte habe ich das versucht und schon von mehreren Betalesern befriedigend starke Rückmeldungen erhalten.  =D Auf tausendmal professionellere Weise hat GRRM das  ja auch mit Jaime Lennister so gemacht. Allerdings gibt es in der Reihe bekanntermaßen auch nicht DEN Protagonisten und DEN Antagonisten. Je besser man Jaime kennen lernt, desto mehr stellt man die eigene anfängliche Meinung über ihn in Frage. Ich finde so etwas klasse.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 19. August 2014, 14:10:51
Hui, da habe ich eine spannende Diskussion losgetreten. :) Vielen Dank, die wird mir bei meinem momentanen Projekt sicher helfen und auch für die Zukunft habe ich interessante und inspirierende Punkte gelesen.

Ich glaube nicht, dass man, wenn ein Antagonist zu Wort kommt, unbedingt einen Superschurken haben muss.
Bei mir privat zum Beispiel entsteht Streit nicht, weil jemand abgrundtief böse ist, sondern weil jeder die Wirklichkeit subjektiv betrachtet und anders mit gewissen Dingen umgeht. Es hat ja jeder auch seine eigene Vorgeschichte. Ich könnte mir auch einen Konflikt aus solch einer Begebenheit vorstellen.
Zudem könnte ja auch eine nicht personifizierte Bedrohung im Raum stehen, die den Antagonisten zum Handeln zwingt. Ein Naturkatastrophe lässt sich schlecht hassen.

Das Erschaffen einer richtigen Hassfigur habe ich noch nie versucht. Im Moment reizt es mich mehr, wenn Motive vorhanden sind. Aber vielleicht wäre es mal ein spannendes Experiment.

@canis lupus niger: Mir gefällt dein Beispiel, wie man die geschickte Irreführung andeutet, richtig gut. Ich sehe es gerade vor mir. :)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 19. August 2014, 15:02:16
Jaime Lannister habe ich nie gehasst. Aber Joffrey, dieses Früchtchen, ist mir sofort negativ aufgefallen, und ich glaube nicht, dass da noch viel positives Entwicklungspotential besteht.  ;D


Zitat von: Ilva am 19. August 2014, 14:10:51
Das Erschaffen einer richtigen Hassfigur habe ich noch nie versucht. Im Moment reizt es mich mehr, wenn Motive vorhanden sind. Aber vielleicht wäre es mal ein spannendes Experiment.

Hassfiguren haben Motive. Je edler ihre Motive sind, desto eher fühlen sie sich moralisch berechtigt, über Leichen zu gehen. Der Weg zur Hölle ist mit lauter guten Vorsätzen gepflastert. Und der Hass auf sie wird umso größer, wenn sie damit durchkommen und man ihnen Denkmäler errichtet.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Schwarzhand am 19. August 2014, 22:13:59
Zitat von: Churke am 19. August 2014, 15:02:16
Jaime Lannister habe ich nie gehasst. Aber Joffrey, dieses Früchtchen, ist mir sofort negativ aufgefallen, und ich glaube nicht, dass da noch viel positives Entwicklungspotential besteht.  ;D

Ganz anders ist da seine Mutter, Cersei, die zwar dem Leser sofort als Antagonistin erscheint, aber in Wirklichkeit mit einer moralisch vertretbaren Motivation im Hinterkopf handelt: Ihre Kinder zu schützen(
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). Insofern kann man vorsichtig sagen, dass man einem Antagonisten ein nachvollziehbares Motiv in die Hand drücken muss und voilà: Die Sympathien sind mit dem Bösewicht. Natürlich kann man dies nicht als Regel aufstellen sondern nur als grobe Zusammenfassung nehmen( Bestes Beispiel ist der Bombenleger).
Grüße Daljien.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 20. August 2014, 08:15:44
Zitat von: Churke am 19. August 2014, 15:02:16
Hassfiguren haben Motive. Je edler ihre Motive sind, desto eher fühlen sie sich moralisch berechtigt, über Leichen zu gehen. Der Weg zur Hölle ist mit lauter guten Vorsätzen gepflastert. Und der Hass auf sie wird umso größer, wenn sie damit durchkommen und man ihnen Denkmäler errichtet.
Bitte entschuldige, ich habe mich unklar ausgedrückt.
Für mich liegt der Unterschied zwischen einer Hassfigur und einem "normalen Antagonisten" darin, dass der "Normalo" menschlich nachvollziehbare Motive hat. Bei der Hassfigur sehe ich auch Motiv, dieses kann auch quasi ein Vorwand sein, aber es hat für mich weniger einen moralischen Aspekt. Zudem gehört zu einer Hassfigur meiner Meinung nach noch eine ordentliche Portion Bosheit.

Als Beispiel für eine Hassfigur mit vordergründigem Motiv sehe ich Lord Voldemort. Er strebt nach der Reinheit des magischen Blutes, aber eigentlich ist er auch einfach ziemlich machtgierig. Natürlich könnte man seine Taten auch mit einer traumatischen Kindheit im Waisenhaus der Muggel erklären, aber das steht wirklich nicht im Vordergrund.
Ich kann auch seine Motivation weniger nachvollziehen als die von anderen Antagonisten, Cersei wurde hier ja schon genannt.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Vic am 21. August 2014, 19:20:17
Also ich finde ein Perspektivenwechsel zwischendurch kann doch richtig spannend sein.  :jau:
Gerade wenn man z.b. immer nur eine Seite erlebt und dadurch die andere Seite richtig hassen gelernt hat und auf einmal in deren Köpfen drinsteckt und man denkt hoppla - ich kann das irgendwie nachvollziehen, was sie denken.
Ich finde eigentlich einen gelegentlichen Perspektivenwechsel ganz schön - aber mir wird es schnell zu viel. Also ich würde mich auf einen oder maximal zwei Erzähler pro "Seite" beschränken. Bücher, wo es zwanzig Erzähler gibt und man wild hin und herspringt finde ich schnell anstrengend ...
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Schwarzhand am 21. August 2014, 21:15:13
Zitat von: Vic am 21. August 2014, 19:20:17
Also ich finde ein Perspektivenwechsel zwischendurch kann doch richtig spannend sein.  :jau:

Hallo Vic!
Natürlich kann er das, doch wenn man kurz vor dem Ende des Werkes steht und sich der Leser mit dem Prota/Antagonisten vertraut gemacht hat, ist es vermutlich eher verwirrend, einen Perspektivwechsel einzubauen. Ich selbst habe dies noch nie gemacht und weiss daher nicht, wie sich solche ein Wechsel auf den Leser auswirkt. Deshalb sind diese Thesen alles nur Vermutungen ;).
Grüße Daljien.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 22. August 2014, 23:34:09
Wenn man in einer Geschichte mehrere Perspektivwechsel hat, dann kann man meiner Meinung nach auch kurz vor Schluss noch einen einbauen. Besonders unproblematisch ist das, wenn die Perspektive zwischen mehreren Charakteren immer hin und her wechselt. Eine ganz neue Perspektive eignet sich dagegen eher für so etwas wie einen Epilog (Irgend ein Nachfahr, Museumsführer oder eine ehemalige Nebenfigur erzählt irgendwelchen Neugierigen wie die Geschichte ausgegangen ist, und warum sie so ausgegangen ist, obwohl niemand damit gerechnet hätte). Das gibt es in Buch und Film ja oft genug. Aber wenn die ganze Geschichte bis dahin aus ein und derselben Perspektive erzählt wurde, und auf einmal, so nach 90 % wird die Geschichte von jemand ganz anderem weiter erlebt, das fände ich irgendwie unglücklich.

Es ist auch ein beliebter Trick, dass zum Beispiel Leute im höheren Alter zusammentreffen, die den Anfang einer Geschichte zusammen erlebt haben. Einer von beiden ist der erste Perspektivträger und erzählt "Weißt du noch ...?" Über das, was passiert ist, gibt dieser dem anderen dann Informationen zum Beispiel in Form eines Tagebuches eines dritten Charakters, somit in einer zweiten Erzählperspektive. Das lässt dann die Ereignisse aktuell miterleben, sozusagen erntefrisch eingefroren. Zum Abschluss reden die beiden Alten dann wieder rückblickend über das, was später noch passiert ist, und was der Tagebuchschreiber nicht mehr berichten konnte (zum Beispiel, weil er bereits gestorben ist), also wieder die erste, oder eine dritte Erzählperspektive. Hab gerade den bezaubernden Film "Die Kinder des Monsieur Mathieu" gesehen, der nach diesem Schema aufgebaut ist.   

Da ist allerhand möglich, aber es muss eben stimmig aufgebaut sein.

Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 22. August 2014, 23:55:06
Ich finde, dass ein Perspektivträger immer (s)eine Geschichte erzählt. Deshalb identifiziert sich der Leser mit ihm und bleibt bei der Stange.
Nach diesem Muster sind auch Geschichten mit mehreren Perspektivträgern aufgebaut. Das wird leider viel zu oft vergessen, und deshab funktionieren Romane mit 10 Perspektivträgern auf 300 Seiten (alles schon gelesen...) meistens nicht. Dem Autor gelingt es einfach nicht, die Romanhandlung in fesselnde POV-Geschichten aufzulösen.
Perspektivträger und Perspektivwechsel wollen also wohl überlegt sein. Ich würde mich da auch nicht unnötig verzetteln, weil ich mit einem neuen POV auch eine neue Handlung einführen muss, sonst muss ich damit rechnen, dass die Spannungskurve abflacht. 
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Vic am 27. August 2014, 18:46:02
Zitat von: Daljien am 21. August 2014, 21:15:13
Hallo Vic!
Natürlich kann er das, doch wenn man kurz vor dem Ende des Werkes steht und sich der Leser mit dem Prota/Antagonisten vertraut gemacht hat, ist es vermutlich eher verwirrend, einen Perspektivwechsel einzubauen. Ich selbst habe dies noch nie gemacht und weiss daher nicht, wie sich solche ein Wechsel auf den Leser auswirkt. Deshalb sind diese Thesen alles nur Vermutungen ;).
Grüße Daljien.

Das stimmt natürlich, aber so wie ich den Originalpost verstanden habe, soll doch der Antagonist a.) schon die ganze Zeit auftauchen, also ist es ja per se kein neuer Chara und soll b.) ab dem Zeitpunkt die Story noch mal aus seiner Perspektive erzählen.
Ich denke das könnte schon funktionieren.
Die Frage ist eher was das eigentliche Ziel ist.

Also wenn es nur darum geht, dass der Antagonist sich erklären kann, würde man das mMn auch aus Sicht des Protagonisten schaffen, in dem der Antagonist sich ihm erklärt, bzw eine andere Seite von sich zeigt?
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 28. August 2014, 22:28:37
Zitat von: Vic am 27. August 2014, 18:46:02
Also wenn es nur darum geht, dass der Antagonist sich erklären kann, würde man das mMn auch aus Sicht des Protagonisten schaffen, in dem der Antagonist sich ihm erklärt, bzw eine andere Seite von sich zeigt?
Ich halte den erklärenden Monolog des Antagonisten für sehr schwierig. Es gibt meiner Meinung nach keinen guten Zeitpunkt dafür, weil dieser die Handlung während des Showdowns plötzlich unterbricht. Weshalb sollte der Antagonist seine Pläne und Gründe auch erklären? Er ist ja bei einem Aufeinandertreffen auch immer in Gefahr, nicht?
Zudem mag ich Gespräche weder lesen noch schreiben. (Ich habe immer das Gefühl, statt ordentliches Hochdeutsch Dialekt zu schreiben, den ich wortwörtlich ins Schriftdeutsche übersetze) :)

Das Zeigen gefällt mir gut, es wurde ja schon ein Beispiel genannt. Ich glaube, die Schwierigkeit dabei ist, dass es sehr subtil sein sollte.
Bei mir funktioniert das leider nicht so gut, da Prota und Anta nicht so oft aufeinandertreffen, als dass man das ausarbeiten könnte, deshalb habe ich beschlossen, dem Anta eine eigene Stimme zu geben.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 28. August 2014, 23:16:05
So Dialoge in der Art:

ZitatSchurke:
"Du und ich, wir sind gar nicht so verschieden!"

Held:
"Da liegst du falsch! Wir haben nichts gemeinsam!"

Schurke:
"Ich war früher Polizist wie du! Aber dann wurde meine Familie von einem SWAT-Team erschossen!"

Held:
"Das gibt dir nicht das Recht, unschuldige SWAT-Teams zu ermorden."

Schurke:
"Falsche Antwort. Du hättest mich töten sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest."

Der SCHURKE drückt ab. Der HELD wirft sich vom Dach des Hochhauses und bekommt einem Fahnenhalter mit einer amerikanischen Flagge zu fassen. Der Fahnenhalter biegt sich durch und droht zu brechen.

Nein, bitte nicht. Wenn man es gut macht, werden die Motive deutlich, ohne dass der POV je ein Wort darüber verloren hat. Sie ergeben sich einfach aus der Handlung und dem, was der POV tut oder nicht tut. 
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 29. August 2014, 16:44:10
Ich grüble jetzt die ganze Zeit darüber nach, warum ein Buch nicht aus zwei Perspektiven (Ich und Personal) geschrieben werden darf/soll, wie Christopher es angemerkt hat. Wenn man erreichen will, dass eine Figur näher und intimer erlebt wird als eine andere, auch wichtige Figur, dann würde es sich doch geradezu anerbieten, diese beiden Perspektiven zu wählen. Dies würde doch vor allem helfen, komplexe Erzählstränge effizienter zu erzählen. Aus einer reinen Ich-Perspektive gelangt man oft rasch an Grenzen, wenn auf mehreren Bühnen was passiert. Oder wie seht ihr das? Sorry, ich hoffe, das weicht nicht zu sehr vom Thema ab.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Fynja am 29. August 2014, 18:12:01
Zitat von: Cailyn am 29. August 2014, 16:44:10
Ich grüble jetzt die ganze Zeit darüber nach, warum ein Buch nicht aus zwei Perspektiven (Ich und Personal) geschrieben werden darf/soll, wie Christopher es angemerkt hat. Wenn man erreichen will, dass eine Figur näher und intimer erlebt wird als eine andere, auch wichtige Figur, dann würde es sich doch geradezu anerbieten, diese beiden Perspektiven zu wählen. Dies würde doch vor allem helfen, komplexe Erzählstränge effizienter zu erzählen. Aus einer reinen Ich-Perspektive gelangt man oft rasch an Grenzen, wenn auf mehreren Bühnen was passiert. Oder wie seht ihr das? Sorry, ich hoffe, das weicht nicht zu sehr vom Thema ab.

Huch, das hab ich ganz überlesen, die Gründe dafür würden mich dann auch interessieren. Sowohl in einem meiner älteren Projekte als auch in meinem aktuellen mache ich es, ehrlich gesagt, genau so, weil die Ich-Perspektive bei meiner Hauptprota einfach am passendsten ist, es aber nicht ohne eine zweite Perspektive funktioniert, da ich persönlich aber nicht mehrere Ich-Erzähler in einem Roman haben will, habe ich mich für diese Lösung entschieden.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 29. August 2014, 21:08:24
Zitat von: Fynja am 29. August 2014, 18:12:01
Huch, das hab ich ganz überlesen, die Gründe dafür würden mich dann auch interessieren.

Es gibt Leute, die fahren mit dem Auto in den Urlaub.
Es gibt andere Leute, die fahren mit dem Motorrad in den Urlaub.
Und dann gibt es solche Leute, die fahren im Auto und haben das Motorrad auf den Anhänger geschnallt.

Mit der Erzählperspektive ist das genauso. Man nimmt entweder die eine oder die andere. Fährt man zweigleisig, ruiniert man sich die größten Vorteile beider Perspektiven.
Man kann es natürlich trotzdem machen, z.B. Arturo-Pérez-Reverte in "Alatriste". Der Autor hat dafür einen spezifischen Grund und die ich-Passagen sind auch in einem völlig anderen, auktorialen Stil geschrieben (das muss man erst mal können...)
Anderes Beispiel: Adam Roberts in "Sternennebel". Das Buch ist aus 2 Perspektiven geschrieben: Der Er-Erzähler ist Anarchist und der Ich-Erzähler ist so ein Typ wie George W. Bush. Der Kontrast zwischen bei den Figuren wie Perspektiven ist extrem und mit ein Grund dafür, dass man mit keinem Erzähler richtig warm wird. Meiner Meinung nach wäre das Buch wesentlich besser und auch lesbarer, wenn sich Roberts auf den Ich-Erzähler beschränkt hätte.

Man macht sich damit immer eine Menge kaputt und muss sich überlegen, ob es das wert ist.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 02. September 2014, 08:42:32
Zitat von: Churke am 29. August 2014, 21:08:24
Es gibt Leute, die fahren mit dem Auto in den Urlaub.
Es gibt andere Leute, die fahren mit dem Motorrad in den Urlaub.
Und dann gibt es solche Leute, die fahren im Auto und haben das Motorrad auf den Anhänger geschnallt.

Mit der Erzählperspektive ist das genauso.
Das verstehe ich jetzt ehrlich gesagt nicht ganz. Ist es nicht besser, das Fahrzeug zu nehmen, das am Besten zur geplanten Strecke passt, um bei der Metapher zu bleiben? Eine tolle Passstrasse würde ja mit dem Motorrad vermutlich mehr Spass machen und für einen langen Tunnel nimmt man lieber das Auto.

Solange einem klar ist, ob man gerade Auto oder Motorrad fährt, sollte es doch eigentlich gehen, wenn man beides mitnimmt?

Also auf ein Buch bezogen, sollte man nicht die Perspektive wählen, die passt? Also die, welche mehr Atmosphäre bringt / den Plot vorwärts treibt o.Ä.?

Mir ist eben noch nie so ein Roman untergekommen, der beides mischt - oder ich habe es nicht bewusst wahrgenommen, deshalb sind das nur theoretische Überlegungen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 02. September 2014, 14:04:22
Zitat von: Churke am 29. August 2014, 21:08:24
...Fährt man zweigleisig, ruiniert man sich die größten Vorteile beider Perspektiven.

Aber warum denn überhaupt? Es ist doch so, dass ich mich als Leserin auf die jeweilige Textpassage bzw. auf das jeweilige Kapitel einstelle. Wenn z.B. Kapitel 1-3 in Ich-Form geschrieben ist, dann identifiziere ich mich unter Umständen stärker mit dem Protagonisten (was dann auch beabsichtigt wäre). Und Kapitel 4 wäre dann aus der Perspektive eines anderes Protas in personaler Erzählform geschrieben. Dieses Kapitel würde ich eher aus einer gewissen Distanz lesen, was auch beabsichtigt wäre. Die personale Erzählweise diente mir in diesem Fall, um Erzählstränge zu beleuchten, die sonst vielleicht im Dunklen blieben. 

Also würde sich diese Mischform doch anerbieten, um:
a) Geheimnisse zu lüften, die man unbedingt lüften möchte;
b) Logik-Löcher zu flicken, damit er Leser hinterher die Zusammenhänge begreift und
c) um die ganze Geschichte mehrschichtiger zu gestalten, auch wenn der personale Erzählstrang weitaus weniger prägnant sein soll wie derjenige mit dem Ich-Erzähler

Alatriste kenne ich. Da ich Arturo Perez-Reverte ohnehin sehr gerne mag, bin ich viel zu unkritisch ihm gegenüber. Gestört habem mich deshalb die Erzählperspektiven nicht.

Auch im Bestseller "The Outlander" wechselt die Autorin immer wieder von Ich-Perspektive zu personaler Erzählweise. Und ich fand es dort absolut notwendig, weil sonst einfach zu viele Nebenerzählstränge auf Eis liegen würden. Das wäre dann echt schade.

Aber Churke, vielleicht kannst du ja nochmals genauer erklären, was genau denn für dich die Vorteile der Perspektiven sind.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Siara am 02. September 2014, 15:04:37
Zitat von: Churke am 29. August 2014, 21:08:24
Fährt man zweigleisig, ruiniert man sich die größten Vorteile beider Perspektiven.
Das sehe ich auch ein wenig anders. Sind zwei POVs gleichermaßen beteiligt und einer von diesen wird aus der dritten, der andere aus der ersten Person geschrieben, würde mir das schon seltsam vorkommen. Dann fehlt ganz einfach der Bezugspunkt und es bleibt die Frage, warum der Autor sich einmal so und einmal anders entscheidet. Sind beide Figuren gleich wichtig, stimme ich Churke zu. Das kann für Verwirrung sorgen, weil der Leser sich auf nichts ganz einstellen kann.

Wenn es aber eine Hauptfigur gibt, die aus der ersten Person erzählt, und hier und da Nebenfiguren aus der dritten sprechen, ist es etwas Anderes. Dann gibt es einen Bezugspunkt, auf den man sich als Leser konzentrieren kann. Das Gewicht der Ich-Perspektive liegt dann ganz klar auf einem Charakter. Die Nebenfiguren, die aus der dritten Person sprechen, können durchaus Einblicke in ihre Gedanken und Leben geben, aber sie bleiben eben das: Nebenperspektivträger.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 02. September 2014, 15:45:32
Zitat von: Ilva am 02. September 2014, 08:42:32
Also auf ein Buch bezogen, sollte man nicht die Perspektive wählen, die passt? Also die, welche mehr Atmosphäre bringt / den Plot vorwärts treibt o.Ä.?
Was ich mit dem Bild zu verdeutlichen versuchte: Die Urlaubsreise ist wie der Roman ein Gesamtpaket. Das Auto ist komfortabel, aber das Motorrad ist Freiheit und Abenteuer. Packt man das Motorrad auf den Hänger, ist es nicht so, dass man deshalb beides hat.

Zitat von: Cailyn am 02. September 2014, 14:04:22
Aber warum denn überhaupt? Es ist doch so, dass ich mich als Leserin auf die jeweilige Textpassage bzw. auf das jeweilige Kapitel einstelle.
Bist du dir da sicher? Wenn ich einen Roman kapitelweise lese, ist er schlecht. Es geht nicht um Kapitel, sondern um Geschichten. Einen guten Roman liest man als Ganzes. Man lässt sich in die Handlung hineinziehen und identifiziert sich mit den Figuren. Der Ich-Erzähler ist darauf ganz besonders angelegt.
Wenn du wie dargestellt 3 Kapitel in der Ich-Form schreibst, schaffst du mit dem Wechsel in Kapitel 4 auf jeden Fall eine Zäsur. Du schreibst ja selbst, dass du "Distanz" schaffen willst. Der Preis, den du dafür bezahlst, ist der, dass du den Leser aus der Geschichte herausreißt. Obendrein zeigst du bereits durch die Gewichtung, dass der Er-Erzähler nur die zweite Geige spielen soll. Das kann man alles machen - aber ob man sich bzw. dem Leser damit immer einen Gefallen tut, ist eine andere Frage.

Zitat
Die personale Erzählweise diente mir in diesem Fall, um Erzählstränge zu beleuchten, die sonst vielleicht im Dunklen blieben. 
Und hier die ketzerische Frage: Wem nützt das? Es gehört zum Wesen des Ich-Erzählers, dass er mit einem gewissen Allwissen ausgestattet ist. Achte bitte mal darauf, welche elegischen Ausführungen der Ich-Erzähler bei "Alatriste" über den Niedergang Spaniens verliert. Sie halte für den Grund, dass Perez-Reverte diese Perspektive eingeführt hat. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich der Ich-Erzähler überwiegend aus der Handlung heraushält.

Zitat
Aber Churke, vielleicht kannst du ja nochmals genauer erklären, was genau denn für dich die Vorteile der Perspektiven sind.

Ich sag's mal so: Der Ich-Erzähler erzählt mehr und der Er-Erzähler erlebt eher. Der Ich-Erzähler kann ein unbegrenztes Wissen haben, er kann Dinge wissen, die sich nicht aus der Handlung ergeben, er kann Zusammenhänge kommentieren, von deren Existenz der POV nicht einmal weiß. Er ist als absolute Identifikationsfigur des Lesers angelegt.

Die (!) Er-Erzähler reizen dagegen mit einem beschränkten Wissen, mit wechselnden POVs, mit show don't tell. Sie haben auch mehr Potential bei der Charakterentwicklung. Ich sehe diese Erzählform änlich wie beim Film, wo die Handelnden auch in jeder Szene wechseln können. Es ist eben eine andere Art, eine Geschichte zu erzählen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Siara am 02. September 2014, 16:36:12
@Churke: Vielleicht liegt es an mir, aber ich habe glaube ich ein anderes Verständnis von Perspektive und Erzählweise als du.

Für mich unterscheiden sich personale und auktoriale Perspektive. Allerdings kann beides sowohl in der Ich- als auch in der Er/Sie-Form geschrieben sein. Oder irre ich da gerade komplett?
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 05. September 2014, 11:07:50
Zitat von: Siara am 02. September 2014, 16:36:12
Für mich unterscheiden sich personale und auktoriale Perspektive. Allerdings kann beides sowohl in der Ich- als auch in der Er/Sie-Form geschrieben sein. Oder irre ich da gerade komplett?

Nein, tust du nicht.
Theoretisch hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Theoretisch. Da der Ich-Erzähler mit der Figur identisch ist, hat die Figur aber selbst einen Wissensvorsprung. Sie kennt das Ende der Geschichte und kann Dinge wissen, die sie erst zu einem späteren Zeitpunkt erfährt. Beim Er-Erzähler kann zwar der Erzähler selbst auktoriales Wissen haben, die Figur selbst aber nicht. Und das hat Folgen.

Ich will das mal verdeutlichen: Nehmen wir den Untergang der Titanic.
Wenn der Ich-Erzähler an Bord geht, weiß er schon, dass die Titanic untergehen wird. Er kennt alle Einzelheiten der Katastrophe und wird alles auf dem Schiff vor dem Hintergrund dieses Wissens beschreiben. Er nimmt damit automatisch die Perspektive des Lesers ein. Der Leser wird sich mit ihm sofort und vollständig identifizieren.

Beim Er-Erzähler ist das anders. Selbst bei auktorialem Erzählen (dessen Sinnhaftigkeit ich hier offen lassen möchte) weiß die Figur selbst nicht, was ihr bevorsteht. Sie wird sich also auch keine Gedanken darüber machen, dass 20 Rettungsboote vielleicht nicht ausreichen könnten. Wenn sie aus der Oberschicht stammt, wird sie die Fahrt als eine einzige Riesenparty wahrnehmen, die dann irgendwann ganz schrecklich schief läuft.
Hier laufen Ich- und Er-Erzähler vollkommen auseinander, obwohl sie auf dem selbem Schiff sind.

Natürlich gibt es Kniffe, wie der Autor mit einiger Anstrengung seine Infos trotzdem an den Mann bringt.
Vielleicht will der Autor aber auch eine ganz andere Geschichte erzählen: Nicht über das Schiff, sondern über die Gesellschaft, die untergeht. Dann braucht er mehrere POVs, deren begrenztes Wissen (die 1. Klasse weiß nicht, was in der 3. abgeht und es kümmert sie auch einen Dreck) die Geschichte überhaupt erst möglich macht.

Man könnte jetzt beides verbinden wollen, mit mehrere POVs und einem Ich-Erzählstrang. Ich glaube allerdings nicht, dass das funktioniert. Das ist wie Schnitzel mit Kabeljau.

Das ist jetzt nur ein Beispiel, um meine Ansicht zu verdeutlichen. Die Wahl der Erzählform kann dramatische Folgen haben. Wenn sich der Autor richtig entscheidet, wird es ihn durch die Geschichte führen. Entscheidet er sich falsch, handelt er sich jede Menge Schwierigkeiten ein.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Judith am 05. September 2014, 14:35:36
Zitat von: Churke am 02. September 2014, 15:45:32
Wenn ich einen Roman kapitelweise lese, ist er schlecht. Es geht nicht um Kapitel, sondern um Geschichten. Einen guten Roman liest man als Ganzes. Man lässt sich in die Handlung hineinziehen und identifiziert sich mit den Figuren. Der Ich-Erzähler ist darauf ganz besonders angelegt.
Wenn du wie dargestellt 3 Kapitel in der Ich-Form schreibst, schaffst du mit dem Wechsel in Kapitel 4 auf jeden Fall eine Zäsur.
Ich weiß nicht recht, inwiefern ein Wechsel z.B. zwischen einem personalen Erzähler in der 3. Person und einem Ich-Erzähler mehr Zäsur schafft als ein Wechsel zwischen zwei komplett unterschiedlichen Perspektiventrägern, die beide personal in der 3. Person geschrieben sind.
Ich würde z.B. auch behaupten, dass man das Lied von Eis und Feuer eher "kapitelweise" liest, wenn man von Daenerys im Osten zu Tyrion in King's Landing und dann zu Jon jenseits der Mauer springt. Es hat von ihnen ja auch jeder eine eigene Erzählstimme. Wenn von einem/r davon die Erzählstimme nun in der Ich-Perspektive wäre, würde das für mich auch nicht mehr Zäsur schaffen als der Wechsel zwischen den Personen an sich.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 05. September 2014, 16:07:42
ZitatWenn ich einen Roman kapitelweise lese, ist er schlecht. Es geht nicht um Kapitel, sondern um Geschichten. Einen guten Roman liest man als Ganzes.

Da muss ich nun wirklich intervenieren. Natürlich lese ich ein Buch als Ganzes. Aber ich (und sicherlich auch viele andere Leser) haben doch die Fähigkeit, sich ganz von selbst, also quasi automatisch auf eine neue Perspektive einzustellen. Das ist so ähnlich, wie wenn man von einer Sprache in eine andere wechselt, wenn man beide beherrscht.
Mit den Kapiteln hat das an sich nichts zu tun. Theoretisch könnte man ja auch innerhalb eines gleichen Kapitels die Perspektive wechseln. Es geht mehr um die Flexibilität des Lesers, die - meiner Meinung nach - fast jeder Leser von Natur aus hat. Das ist ja nicht anstrengend, sondern geschieht natürlich. Ich muss mich dann nicht krampfhaft auf eine andere Perspektive einstellen, wenn eine neue Figur im Zentrum steht bzw. die Perspektive gewechselt wird.

Was für mich aber die Bedingung wäre für zwei verschiedene Perspektiven: Die Ich-Erzählerin hat vor dem personalen Erzähler immer Vorrang. Wenn also in einer Szene beide vorkommen, dann immer aus der Ich-Perspektiven-Figur, denn sonst (da gebe ich Churke recht) verliert die Ich-Perspektive irgendwie ihren Sinn und Zweck.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Churke am 05. September 2014, 16:58:45
Es gibt da das bekannte Phänomen, dass man als Leser bei mehrere POVs einen bestimmten Erzählstrang (bzw. Erzähler) bevorzugt und aufstöhnt, wenn schon wieder ein Kapitel mit dem echt lästigen POV2 kommt.
Die Ursachen dieses Problems liegen zwar tiefer als der Wechsel von POV1 zu POV2, aber der Wechsel begünstigt es eben.

Das meinte ich mit "kapitelweise" lesen.

Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Judith am 05. September 2014, 18:42:57
Ich verstehe, was du meinst, aber das ist für mich dann völlig unabhängig von der Erzählperspektive an sich, sondern hat mehr damit zu tun, ob ich mit bestimmten Figuren einfach nicht "kann". Ob das nun alles personale Erzähler sind oder sogar ein auktorialer Erzähler, der eben zwischen Handlungsstränge springt oder einmal ein Ich- und einmal ein personaler Erzähler, ist da für dieses Phänomen meiner Meinung nach völlig unwichtig.

Um noch einmal das Eis und Feuer-Bsp. zu bemühen: In den ersten Bänden ist mir das trotz all der Wechsel dort nie passiert, aber in Band 5 habe ich jedes Mal aufgestöhnt, wenn ich "Daenerys" las, weil sie mich zu dem Zeitpunkt genervt hat und ich ihren Handlungsstrang anstrengend fand. Dabei hat sich aber an den Sprüngen und der Erzählweise an sich ja nichts geändert seit Band 1.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 05. September 2014, 19:38:55
Ja das ist mir auch schon passiert. Zum Beispiel in GOT, wenn wieder mal ein 20-seitiges Kapitel aus Cerceis Sicht kam... :happs:

Damit der Leser das Kapitel mit dem anderen Prota unbedingt lesen will, muss natürlich etwas darin vorkommen, ohne welches die Story sonst nicht weitergehen könnte oder was man unbedingt wissen möchte. Zum Beispiel die Erklärung, warum der Mörder.... und warum der verlassene Ehemann... oder wo der gekaute Schatz am Ende...  ;)

Also mal ein Beispiel: Eine Prinzessin (Ich-Perspektive) wrid entführt. Sie wird in einem Turm festgehalten, kämpft um ihre Freilassung, wird aber stattdessen auch noch gefoltert. Schliesslich wird sie von ihrem Kammerdiener Archibald gerettet. Als er auftaucht, ist er spitternackt und trägt das Tattoo eines Buckelwals.

Schön und gut soweit. Aber wäre es nicht interessant zu wissen, warum ihr Diener - der sonst nie nackt ist - sie ausgerechnet im Adamskostüm rettet? Natürlich könnte er es ihr erzählen. Aber wesentlich lebendiger wäre es doch, wenn der Leser die Rettung der Prinzessin direkt liest und nicht nur erzählt bekommt. Und ich ahne jetzt, was du (Churke) wohl dazu sagen würdest: "Warum denn nicht nur die Personale?". Ja, das wäre auch eine Möglichkeit. Aber als Ich-Erzählerin wirken das Leid und die Folter nun mal sehr intensiver als aus der Personalen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Klecks am 05. September 2014, 21:15:03
Zitat von: Cailyn am 05. September 2014, 19:38:55
Aber als Ich-Erzählerin wirken das Leid und die Folter nun mal sehr intensiver als aus der Personalen.

Das muss nicht sein. Es ist unter anderem die Kunst des Schreibens, in den Lesern Gefühle auszulösen, und das kann man mit jeder Art der Perspektive und/oder Erzählweise erreichen. Jede für sich hat nur verschiedene Herausforderungen und vielleicht ist die eine schwerer zu schreiben als die andere, aber deshalb muss es die Intensität des Gefühls nicht mildern.  :)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Judith am 05. September 2014, 23:08:24
Zitat von: Cailyn am 05. September 2014, 19:38:55
Ja das ist mir auch schon passiert. Zum Beispiel in GOT, wenn wieder mal ein 20-seitiges Kapitel aus Cerceis Sicht kam... :happs:
Völlig OT, aber: Wah, Cersei, eine meiner liebsten Perspektiventrägerinnen! Was für ein Fest, live in ihrem Kopf mitzuerleben, wie sie mit all ihrer Paranoia untergeht!  :snicker:

EDIT: Um auch noch etwas zum Thema beizutragen: Ich sehe es wie Klecks. Leid und Folter können nicht nur in der personalen Perspektive ebenso intensiv wirken wie in der Ich-Perspektive, sondern selbst, wenn es auktorial geschildert wird. Das kommt ganz auf die Art und Weise an, wie es geschrieben wird.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: canis lupus niger am 07. September 2014, 14:47:34
Zitat von: Churke am 05. September 2014, 16:58:45
Es gibt da das bekannte Phänomen, dass man als Leser bei mehrere POVs einen bestimmten Erzählstrang (bzw. Erzähler) bevorzugt und aufstöhnt, wenn schon wieder ein Kapitel mit dem echt lästigen POV2 kommt.

Das geht mir beim Lesen ganz oft so. In meinem Drachenprojekt habe ich versucht, diesen Effekt dadurch zu vermeiden, dass ich den Handlungsfaden nicht unterbrochen habe, sondern praktisch immer von einem Charakter dem nächsten habe zuwerfen lassen. So, wie Cailyn das schon treffend formuliert hat:
ZitatDamit der Leser das Kapitel mit dem anderen Prota unbedingt lesen will, muss natürlich etwas darin vorkommen, ohne welches die Story sonst nicht weitergehen könnte oder was man unbedingt wissen möchte.
Die Geschichte wird direkt weitererzählt, nur eben mit einer anderen Stimme. Na ja, zumindest war das der Plan. Mal sehen, ob ich es hingekriegt habe.

Das Problem ist dabei: Der Leser weiß ja nicht unbedingt, dass in diesem Kapitel mit der anderen Perspektive etwas erzählt wird, das ein wichtiger Schlüssel für den Fortgang der Geschichte ist. Und manchmal erfährt er das nicht einmal im Lauf des Kapitels. Das kann einen Roman extrem hintergründig machen. Der Leser muss im Grunde jedes Detail, von dem er erfährt, im Hinterkopf behalten, um der Geschichte folgen und die Aufschlüsselung am Ende verstehen zu können. Einige der besten Romane, die ich kenne, sind so aufgebaut. Aber bei GOT hat Martin dieses Stilmittel, wie ich finde überreizt. Als Leser muss man SO viele Details aus so vielen Perspektiven betrachtet über so viele Buchseiten und einen so langen Zeitraum im Blick behalten, ...  dafür bin ich persönlich offenbar zu dumm. Jedenfalls geht es mir wie manchem anderen Leser auch, dass ich ein dumpfes Stöhnen nicht unterdrücken kann, wenn wieder einmal ein Perspektivträger zu Wort kommt, von dem ich mir keine neuen wichtigen Informationen und auch nur wenig Unterhaltung erhoffe.     
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 09. September 2014, 19:58:20
Zitat von: Churke am 05. September 2014, 11:07:50
Ich will das mal verdeutlichen: Nehmen wir den Untergang der Titanic.
Wenn der Ich-Erzähler an Bord geht, weiß er schon, dass die Titanic untergehen wird. Er kennt alle Einzelheiten der Katastrophe und wird alles auf dem Schiff vor dem Hintergrund dieses Wissens beschreiben. Er nimmt damit automatisch die Perspektive des Lesers ein. Der Leser wird sich mit ihm sofort und vollständig identifizieren.
Auch wenn die Perspektive und Zeitform anscheinend verpönt ist - wenn man im Präsens schreibt, ist der Ich-Erzähler nicht unbedingt allwissend. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass auch ein Roman in der Vergangenheit nicht unbedingt einen allwissenden Ich-Erzähler haben muss. Die beliebten Sätze wie "ich wusste nicht, dass ich heute elendiglich ersaufen und/ oder erfrieren würde" sollten meiner Meinung nach spärlich gesetzt sein. Mir gefällt es besser, wenn der Ich-Erzähler alles unmittelbar erlebt.
Und wenn ich von mir selbst als Ich-Erzähler ausgehe, bin ich auch nicht allwissend. Ich kann auch in einen Konflikt hineingeraten, den ich überhaupt nicht verstehe.

Zitat von: Cailyn am 05. September 2014, 19:38:55
Also mal ein Beispiel: Eine Prinzessin (Ich-Perspektive) wrid entführt. Sie wird in einem Turm festgehalten, kämpft um ihre Freilassung, wird aber stattdessen auch noch gefoltert. Schliesslich wird sie von ihrem Kammerdiener Archibald gerettet. Als er auftaucht, ist er spitternackt und trägt das Tattoo eines Buckelwals.

Schön und gut soweit. Aber wäre es nicht interessant zu wissen, warum ihr Diener - der sonst nie nackt ist - sie ausgerechnet im Adamskostüm rettet? Natürlich könnte er es ihr erzählen. Aber wesentlich lebendiger wäre es doch, wenn der Leser die Rettung der Prinzessin direkt liest und nicht nur erzählt bekommt. Und ich ahne jetzt, was du (Churke) wohl dazu sagen würdest: "Warum denn nicht nur die Personale?". Ja, das wäre auch eine Möglichkeit. Aber als Ich-Erzählerin wirken das Leid und die Folter nun mal sehr intensiver als aus der Personalen.

Ich sehe das auch so. Tolles Beispiel übrigens! ;) OT: Jetzt würde ich wissen wollen, wofür der Buckelwal steht... :D
Die Rettung der Prinzessin wäre meiner Meinung nach spannender zu lesen, wenn man quasi live mit Archibald unterwegs ist, als wenn er danach bei einer heissen Schokolade am Kaminfeuer nacherzählt, weshalb er sich seiner Kleidung entledigen musste, um die Prinzessin zu retten.
Obwohl dadurch ein Bruch in der Perspektive und somit in der Geschichte entsteht, würde mich die erste Version besser unterhalten, zumal der Ausgang bei der zweiten Version ja eh klar ist.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Siara am 09. September 2014, 21:16:08
Zitat von: Ilva am 09. September 2014, 19:58:20Auch wenn die Perspektive und Zeitform anscheinend verpönt ist - wenn man im Präsens schreibt, ist der Ich-Erzähler nicht unbedingt allwissend. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass auch ein Roman in der Vergangenheit nicht unbedingt einen allwissenden Ich-Erzähler haben muss.
Das sehe ich genauso. Rein der Logik nach müsste ein Ich-Erzähler, der im Präteritum spricht, über den weiteren Handlungsverlauf bescheid wissen. Allerdings gibt es viele Bücher, in denen er dennoch nur das Wissen des Handlungszeitpunktes besitzt und darüber hat sich (meines Wissens nach) noch niemand beschwert. Wenn es der Spannung und der Geschichte zugute kommt, kann die Logik da in meinen Augen auch mal links liegen gelassen werden - unter der Bedingung, dass dieses dann konstant durchgezogen wird. Siehe:

Zitat von: Ilva am 09. September 2014, 19:58:20
Die beliebten Sätze wie "ich wusste nicht, dass ich heute elendiglich ersaufen und/ oder erfrieren würde" sollten meiner Meinung nach spärlich gesetzt sein.
Diese Sätze stören mich dann, wenn der Autor sich dafür entschieden hat, den Ich-Erzähler nicht allwissend sein zu lassen. Denn dann sind diese Aussagen ganz klar out-of-character und zerstören in meinen Augen alle Illusion und Spannung.

Ob Ich-Erzähler oder Personal, entscheide ich in der Regel aus dem Bauch heraus. Beides kann intensiv oder auch entfremdet wirken, das kommt ganz auf die Umsetzung an. Aber: Wenn ein Ich-Erzähler gesetzt wird und später weitere Perspektviträger in in der dritten Person dazukommen, wird der Leser dazu animiert, sich in den Ich-Erzähler einzufinden. Für mich jedenfalls stehen die Sorgen, Wünsche und Absichten dieses Ich-Erzählers dann im Fokus.

Genauso ist es bei mir, wenn es nur Erzähler der dritten Person gibt und diese nacheinander eingeführt werden: Derjenige, der als erste eine eigene Stimme bekam, bleibt für mich der Hauptcharakter, auf den ich mich konzentriere. Aber das ist vermutlich vollkommen persönliches Empfinden. ;)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Felsenkatze am 09. September 2014, 21:46:50
Ein Buch, in dem sowohl nach einem langen Teil der Erzählung der Perspektivträger gewechselt wird, als auch zwischen 3. Person und 1. Person gewechselt, ist übrigens "Der Nobelpreis" von Andreas Eschbach. Man mag von dem Buch halten, was man will, viele fanden es zu langatmig, aber der Wechsel ist gut gemacht und fällt auch nicht unangenehm auf. Er ist mit ein klein wenig Tricksen verbunden - es stellt sich raus, dass die "er"-Perspektive im Grunde eine lange Erzählung des Ich-Erzählers war, und deswegen NICHT objektiv zu sehen ist, aber es beweist meiner Meinung nach, dass es machbar ist, UND dass es durchaus seinen Sinn haben kann.

Es ist natürlich nur ein Buch, und sicher auch eine Frage des Könnens, ob man so einen Stunt machen kann, aber grundsätzlich ist das Meiste im Unterhaltungsroman auch machbar. ;)

Allwissende Ich-Erzähler stören mich übrigens oft mehr als die unwissenden. Allerdings stehe ich manchmal auf dem Kriegsfuß mit Actionszenen mit Ich-Erzähler im Präteritum. Wenn mir der Autor sagen möchte, wie lebensgefährlich das alles gerade ist, stört mich das, weil ich "weiß", dass der Erzähler überleben wird, sonst könnte er nicht erzählen. Dabei ist es meinem Hirn leider egal, dass auch die wenigsten Erzähler in der dritten Person in so einer Situation sterben werden, es fühlt sich für mich schon anders an. Bei den Dresden-Files ist mir das immer wieder unangenehm aufgefallen.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Judith am 10. September 2014, 00:43:32
Ich betrachte das Präteritum auch beim Ich-Erzähler einfach als die fiktionale Erzählzeit (das "epische Präteritum" gewissermaßen) und nicht zwingend als ein Zeichen dafür, dass der Ich-Erzähler rückblickend erzählt (außer, das wird durch bestimmte Äußerungen deutlich gemacht).
Daher hätte ich auch kein Problem mit dem Tod eines Ich-Erzählers im Präteritum.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 11. September 2014, 09:49:50
Ich sehe das wie Judith. Man kann zwar signalisieren, dass der Ich-Erzähler allwissend ist (so nach dem Märchen-Motto, wo eine Oma aus ihrem Nähkästchen plaudert), aber man muss nicht. Man kann jegliche Hinweise auf Allwissen weglassen, was ich oft auch bevorzuge.

Felsenkatze,
Ich kenne das Buch von Eschbach nicht. Hört sich aber clever an mit der verschleierten Er-Perspektive.
Mich stört übrigens nicht, dass der Ich-Erzähler in Action-Szenen verräterisch rüberkommt, weil man ja weiss, dass er überlebt. Ich frage mich dann halt immer, wie er es schaffen wird, wenn die Situation auswegslos erscheint.

Ilva,
Das mit dem Buckelwal kann ich dir leider nicht sagen. Ich werde Archibald bei der nächsten Gelegenheit fragen  :P.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Sanjani am 11. September 2014, 13:33:51
Hallo zusammen,

ich kenne kein Buch, wo ein sehr spät eingeführter Perspektivträger mich noch hätte begeistern können. Ich mag es nicht und finde imm Allgemeinen, dass es schlechter Stil ist. Vor allem, wenn kurz vor Schluss noch mal jemand eingeführt wird, weil ansonsten die Geschichte nicht zu Ende erzählt werden kann oder der Handlungsschwerpunkt verlagert wird - damit kann man mich jagen. Beispiel dafür Die Prophezeiung von Sven Bötscher (oder so ähnlich).  Was für mich noch einigermaßen geht, ist, wenn der Charakter schon vorher regelmäßig dabei war, aber eben noch keine Stimme besaß. Aber oft gibt es ja auch das Phänomen, dass kurz vor Schluss noch völlig neue Leute eingeführt werden, und so etwas kann ich dann überhaupt nicht ab. Aber das ist auch Geschmacksache, und ich mag solche Bücher einfach nicht, wo auf Seite 600 von 800 noch ein neuer Handlungsstrang eingeführt wird. Ich bin auch kein großer Eis und Feuer Fan deswegen. Die ersten zwei oder drei Bände fand ich noch ok, aber danach hörte es für mich dann definitiv auf.

Witzigerweise stehe ich in einem meiner Projekte vor einem ähnlichen Problem: Die eine Perspektivträgerin ist ausgeknockt und die andere befindet sich auf einer anderen Ebene. Und ich krieg die Geschichte nicht erzählt bis zu dem Punkt, wo POV 1 wieder aus dem Koma erwacht :) Da werd ich dann wohl meine eigene Regel brechen und noch eine dritte Perspektive einführen.

LG Sanjani
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Cailyn am 11. September 2014, 18:19:58
Sanjani,
Schlimm finde och das vor allem in einem Thriller oder Krimi, bei dem der Schurke plötzlich aus dem Nichts auftritt.
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Ilva am 30. September 2014, 15:35:53
Zitat von: Sanjani am 11. September 2014, 13:33:51
Witzigerweise stehe ich in einem meiner Projekte vor einem ähnlichen Problem: Die eine Perspektivträgerin ist ausgeknockt und die andere befindet sich auf einer anderen Ebene. Und ich krieg die Geschichte nicht erzählt bis zu dem Punkt, wo POV 1 wieder aus dem Koma erwacht :) Da werd ich dann wohl meine eigene Regel brechen und noch eine dritte Perspektive einführen.
Vielen Dank für dein Votum! Ich bin auch hin- und hergerissen, ob das eine gute Idee ist.
Konntest du dein Problem mittlerweile auf eine andere Art lösen oder bleibt es beim Regelbruch?
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Sanjani am 30. September 2014, 17:04:21
Hallo Ilva,

nee, ich konnte es noch nicht lösen, allerdings ruht das Projekt auch gerade. Ich habe auch noch sehr viele Plotlöcher und vieles ist noch offen. Deshalb überlege ich, ob ich die Perspektive nicht schon früher einführen kann. Die Figur ist ja in der Geschichte schon etabliert. Aber ich möchte natürlich auch nicht, dass es künstlich wirkt.

LG Sanjani
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Carolina am 04. Oktober 2014, 08:42:45
@Ilva: Ich habe jetzt nicht den ganzen Thread gelesen, sondern nur den Anfang und das Ende. Generell sagt man, dass der Perspektivträger möglichst schon im ersten Satz Erwähnung finden sollte. Leser gehen ja mit Erwartungen an ein Buch ran, und das wäre ein schwerer Vertrauensmissbrauch dem Leser gegenüber, wenn er mehr über Person A lernen will und du überraschend zu Person B wechselst.

Was man überlegen könnte, ist das Buch in zwei oder drei Teile zu splitten, und diese Trennung mit neuer Seite und auch schon vorn im Inhaltsverzeichnis ganz, ganz deutlich zu machen. Spontan fällt mir nur der letzte Band von Twilight ein, wo das so gemacht wurde, da gab es einen Teil aus der Perspektive von Jakob.
A – B – A wäre da also ein mögliches Muster, falls du dich für einen solchen Weg entscheiden würdest.

Was ich schon gemacht habe, ist im Buch für ein Kapitel die Perspektive zu wechseln. Das wird von Lesern im Allgemeinen als erfrischend empfunden, so lange es danach mit den liebgewonnenen Charakteren weitergeht. Wichtig ist dabei, die Geduld des Lesers nicht zu sehr zu strapazieren.

Toi, toi, toi für den Plot!
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Klecks am 04. Oktober 2014, 10:06:01
Zitat von: Carolina am 04. Oktober 2014, 08:42:45
Generell sagt man, dass der Perspektivträger möglichst schon im ersten Satz Erwähnung finden sollte. Leser gehen ja mit Erwartungen an ein Buch ran, und das wäre ein schwerer Vertrauensmissbrauch dem Leser gegenüber, wenn er mehr über Person A lernen will und du überraschend zu Person B wechselst.

Nach allem, was ich über Game of Thrones weiß (das ich nie gelesen habe), dürfte das dieser "Generell sagt man"-Theorie nach niemals den Erfolg gehabt haben, den es letztendlich hat, nämlich deshalb, weil die Leser enttäuscht waren.  :hmmm:  Ganz ehrlich, das sind Regeln, die ich für Gerüchte halte. Die wenigstens Bücher, so ist mir aufgefallen, haben einen einzigen Perspektivträger. Und dass nicht alle beide, alle drei, alle soundsoviele Perspektivträger im ersten Satz erwähnt werden können, ist ja klar.

Ich finde es viel wichtiger, dass die Perspektivträger notwendig sind, sprich uns einen Bereich der Geschichte durch ihre Augen zeigen, der für die Geschichte auch wichtig ist. Bevor ich einen Perspektivträger einführe, frage ich mich immer, ob seine Sichtweise dem Leser etwas zu sehen gibt, das für das Verständnis - oder für die Geschichte ganz allgemein - von Bedeutung ist. Wenn nicht, kann betreffende Figur eine ganz tolle, spannende Nebenfigur oder gar Hauptfigur sein, aber als Perspektivträger wäre sie trotzdem nicht geeignet, weil damit eben ein Effekt entstehen würde, der hier auch schon angesprochen wurde: Es wirkt künstlich.

Klar kommt man manchmal nicht drum herum, eine neue Perspektive einzuführen, um ein Plotloch zu stopfen. Aber wenn das in einem meiner Projekte die einzige Möglichkeit zum Stopfen dieses Lochs wäre, würde ich mir gründlich überlegen, inwiefern dieser neue Perspektivträger noch eine wichtige Rolle spielen und über fünf, sechs Kapitel hinauskommen könnte. In einem meiner Fantasy-Projekte habe ich einen halben Roman lang einen Perspektivträger, der in der letzten Hälfte des Romans nicht mehr Perspektivträger ist, einfach, weil er dem Leser das gezeigt hat, was der Leser wissen musste, aber durch keine andere Figur hätte gezeigt werden können. Wenn es mir nicht gelingt, eine Perspektive auszuweiten, dann verzichte ich darauf, diese neue Perspektive einzuführen, und suche nach einer anderen Lösung, weil jemand, der einmal auftaucht auf fünf Seiten und dann wieder weg ist, tatsächlich Frustration im Leser auslösen kann.

Wobei, was ich schon mal geschrieben habe (sogar hier, glaube ich), es ja auch klassisch für viele Krimis und Thriller ist, den Prolog, das erste Kapitel oder gar "nur" die erste Szene aus der Sicht des Opfers zu beschreiben. Wenn betreffende Person dann ermordet wurde, ist seine Perspektive auch "plötzlich weg", aber der Leser ist nicht überrascht - er kennt das schließlich von anderen Krimis und Thrillern.  ;)
Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Wave am 04. Oktober 2014, 10:22:42
Hallo zusammen  :vibes:,

früher hätte ich auch hier rigoros gesagt: Um Himmels willen – das geht gar nicht!
Und meistens hat mich ein solcher Wechsel als Leser auch rausgeworfen. Endgültig.
Meistens, nicht immer.

Es gibt ja auch verschiedene Möglichkeiten, einen Perspektivträger zu wechseln. Man kann den eigentlichen Perspektivträger allmählich verabschieden, während nach und nach ein neuer, der vielleicht bisher sogar im Hintergrund irgendwo blass herumgeweilt hat, nach vorne rückt und mehr und mehr deutlicher und schärfer an den Leser herangeführt wird; und während der erste allmählich verblasst, gewinnt der nächste an Farbe und Kontur.

Oder eben krass und plötzlich; hierbei halte ich es für ungleich schwieriger, den Leser bei der Stange zu halten, denn dann muss ich als Autor/in schon einen unglaublich guten Grund finden, diesen Wechsel erstens glaubwürdig und zweitens mitreißend hinzubekommen.
Und da meine ich eben, dass dem nächsten Perspektivträger irgendetwas anhaften muss, was ihm dem Leser möglichst spontan sehr sympathisch (nicht zwangsläufig im Sinne von mögen, sondern im Sinne von Spannung, Interesse) macht.
Ich glaube, bei einem ersten Perspektivträger kann man sich einfach mehr Zeit und Raum lassen für die Entwicklung, man kann den Leser nach und nach heranführen, ihn seine Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen miterleben lassen, während ein plötzlicher Wechsel zu einem völlig anderen Perspektivträger dies alles m. E. schon in sich erledigt haben muss und bereits als starke Figur ankommen muss – oder/und einen starken Bezug zum bisherigen Perspektivträger aufweisen muss, damit ich bei einem solchen Wechsel bei der Stange bleibe.

Denn zumindest ich habe, wenn ich da eine interessante, spannende Person vorfinde, deren Erlebnis- und Entwicklungswelt ich mitdurchlebt und mitgefühlt habe, zu der ich eine Beziehung aufgebaut habe, ganz bestimmt kein gutes Gefühl, wenn diese Beziehung ratzfatz plötzlich durchgeschnitten wird – und ein neuer Charakter erst wieder von vorne aufgebaut wird. Dann fühle ich mich als Leser verloren, weil das stärkste Band, das mich mit der Geschichte verband einfach – Schnippschnapp.


Aber grundsätzlich halte ich einen Wechsel des Perspektivträgers schon – auch mittendrin – für zwar u. U. heikel und herausfordernd, aber nicht für zwangsläufig unmöglich.

Liebe Grüße

Wave


Titel: Re: Schon mitten drin - und jetzt ein neuer Perspektivträger?
Beitrag von: Sanjani am 04. Oktober 2014, 15:27:33
Zitat von: Klecks am 04. Oktober 2014, 10:06:01
Nach allem, was ich über Game of Thrones weiß (das ich nie gelesen habe), dürfte das dieser "Generell sagt man"-Theorie nach niemals den Erfolg gehabt haben, den es letztendlich hat, nämlich deshalb, weil die Leser enttäuscht waren.

Na ja, so dogmatisch darf man das sicher nicht sehen. Es ist, finde ich, ganz oft so, dass man als Leser manches billigend in Kauf nimmt, weil das Buch überwiegend eben doch gefällt. Und gerade bei einem so langen Werk wie dem Lied von Eis und Feuer geht das sicher auch gut, weil es eben einige Charaktere gibt, die einen total fesseln. Und je länger ein Werk ist, desto dichter und besser und interessanter können solche Charaktere sein, weil man ja sehr viel Zeit mit ihnen verbringt. Ich fand z. B., dass es da einige Perspektivträger gab, die mich nicht interessierten oder sogar langweilten, aber ich habe das eben in Kauf genommen, weil ich immer die Hoffnung hatte, dass nach dem nächsten Kapitel wieder eins kommt, das mich mehr interessiert. So hab ich es bis Band 4 gemacht, danach war dann Schluss, weil es mir gereicht hat :)