Das Problem bei solchen Regeln ist immer: Beide Seiten haben Recht

Natürlich soll man diese Regeln NICHT in den Mülleimer schmeißen, leider werden sie in der Praxis aber allzuoft sinnentleert gebraucht.
Für die Hilfsverben (und Füllwörter) gilt im Grunde nämlich dasselbe wie für die Sache mit den Adektiven: Es sind Faustregeln für "Dummies", zugespitzt gesagt: Im wahrsten Sinne des Wortes "Eselsbrücken", die einfach formuliert und verständlich sind und es dem Anfänger erlauben sollen, typische Anfängerfehler zu vermeiden. Und als solche sind sie meistens auch sinnvoll, denn sie betreffen typische Anfängerfehler - 90% aller Leute, denen man diese Tipps gibt, können damit tatsächlich ihren Stil verbessern.
Nun passiert es aber allzu oft, wenn man einem Anfänger eine Faustregel an die Hand gibt und er damit seinen Stil verbessern kann, dass er damit glaubt, den Stein der Weisen gefunden zu haben und "überkompensiert"; manisch wird also jedes Hilfverb und jedes Adjektiv aus dem Text getilgt, bis das Ergebnis faktisch unlesbar wird. Das ist im Ansatz nicht einmal schlimm und gehört zum Lernprozess. Wer über das Sprachgefühl verfügt, dass ein Autor braucht, merkt rasch selbst, dass er übers Ziel hinausgeschossen ist; und irgendwann pendelt er sich auf ein Mittelmaß ein. Lernprozess abgeschlossen, der Schreiber hat sich weiterentwickelt.
Leider tummeln sich im Hobbyschreiberbereich auch Leute mit unterdurchschnittlicher Sprachbegabung. Die sammeln dann solche Regeln, und weil sie kein Gefühl für Texte haben, versuchen sie, die Sprache zu verbessern, indem sie Adjektive und Hilfsverben zählen und den Algorithmus aufstellen: Je weniger, desto besser. So einfach ist es natürlich nicht, denn die Kunst liegt daran, das richtige Maß zu finden. Trotzdem findet man immer wieder die Schreibspezialisten, die Bestsellerautoren einen schlechten Schreibstil attestieren, weil sie selbst ja schon weniger als ein Adjektiv pro Seite schaffen, während der betreffende Autor immer noch mehrere pro Absatz hat

Na ja, dazu muss man wohl nichts weiter sagen ...
Also, OgerBoy, was dein Problem mit den Hilfverben betrifft: Wenn du noch nicht flüssig schreiben kannst, würde es deinen Texten vermutlich nutzen, diese Wörter bewusst zu vermeiden; und zwar nicht durch blindes Durchstreichen, sondern durch bedachtvolles Neuformulieren. Aber wirklich wissen, ob in deinen, persönlichen Texten zu viele von diesen Wörtern drin sind, kannst du nur, wenn ein erfahrener Leser dir einen umständlichen Stil attestiert und dich auf überflüssige Hilfsverben aufmerksam macht. Also: individuelle Stilanalyse geht vor pauschale Faustregeln! Seinen Stil zu verbessern, erfordert manchmal ein schmerzhaftes Umdenken. Aber den Unterschied zwischen diesem notwendigen Neulernen und schädlichen und krampfhaften Vermeidungsstrategien kannst du allenfalls dann erkennen, wenn du funktionierende und anerkannte "Vorbildtexte" als Maßstab heranziehst, oder besser noch im Dialog mit geeigneten Testlesern.