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Urban Fantasy mit Setting in Deutschland? Wenn ja: wo?

Begonnen von Adalia, 08. Juni 2011, 13:56:36

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Sparks

Zitat von: Volker am 30. September 2020, 10:00:31
Ich denke, das Setting sollte schon von sich aus interessant genug sein, und dann insbesondere einen direkten Bezug zum Ort des Geschehens haben.
Wenn es also um alte Kultstätten geht, die doch gar nicht so unbenutzt sind wie es scheint, dann bieten sich natürlich so Orte wie die Externsteine an.

Ähm.....das ist schon einmal ein Punkt, wo ich mir wesentlich mehr Flexibilität denken könnte. Zum einen, weil ich irgendwo im Hinterkopf habe, dass es keinerlei Hinweise gibt, dass die Externsteine irgendeinen alten kultischen Hintergrund haben ausser halt als Einsiedler/Mönchsklause ab dem Mittelalter.


Zitat von: Volker am 30. September 2020, 10:00:31
Ähnlich auch eher ländlich: Worpswede und das Teufelsmoor. Orte mit Höhlen. Oder vielleicht ist an der Kyffhäusersage och mehr 'dran. Das Erzgebirge und seine Berggeister und Winselmütter. Material gibt's genug. Bekannteres wie unbekannteres. Gut, bis hierhin eher weniger "urban", sondern eher "modern"  (~ Fantasy).

Unsere Vorfahren seit der Jungsteinzeit waren im wesentlichen Bauern, und diese verehrten eigentlich dass, was ihnen Nahrung gibt....also die Henges als Kalender zum Bestimmen der Saatzeitpunkte, oder oder später die heiligen Heine der Germanen passt gut dazu.
Und warum solten Henges oder Opferstätten nicht fiktional jüngst in der Gegend, in der der Roman spielt, von Archaeologen gefunden worden sein?

Solche mytisch überhöten Orte wie Böcklins Toteninsel waren auch zu Böcklins Zeit komplette Fiktion.

Du musst also nicht also zwangsweise alte Klippen, Höhlen oder Ruinen in der Nähe haben.
Wenn es jünger sein sollte: Römische Orte sind wohl für aktuelle Gebäude noch in gebrauch. Siehe Haus Bürgel z.B. Die Aussenmauern des rezenten Gutshofes decken sich fast mit denen des ehemaligen römischen Kleinkastells.


Zitat von: Volker am 30. September 2020, 10:00:31
Oder man konzentriert sich bei "Urban Fantasy" auf "urban". Berlin, München, Hamburg. Ruhrpott. Metropol(region)en.
Oder Städte, von denen "man" weiß, für welche Moderne sie stehen. Frankfurts Bankenviertel (Zentrum & Niederrad), doer Hannovers Messegelände, die nachts menschenleer sind.
Wo kulturell Fantasy und Moderne, unheimliches oder heimeliges/(Über)Natürliches und kalte Industriatlität aufeinanderprallen. Da braucht es den Kontrast.

Ich habe in den 1980ern bei Thyssen in Hamborn an der Schienen- und Trägerstrasse gearbeitet. Das waren teils uralte Gebäude vom Anfang des 20 Jhd. Teile der ursprünglichen Installation existierten noch. Wie bei Käptn Nemo auf dem Schiff. ;O) Das ist später modernisiert, im Krieg teilweise zerstört, wieder aufgebaurt und modernisiert worden.

Alte mechanische Umformer riesigen Ausmaßes (Ilgnersätze) die eine Viertelstunde vom Stillstand bis Nenndrehzahl brauchen, und noch eine gute Stunde nachliefen, wenn sie abgeschaltet wurden. Mit zwei großen Schwungrädern und mehreren über Lederflachriemen angetriebene Schmierpumpen. Im Keller Wasserwiderstände mit Sodalösung gefüllt, um die Asynchronmotore in der
Drehzahl zu regulieren. In Nebenräumen Verstärkermachinen und Schaltanlagen in Etagenbauweise und Steigbügelschalter. Dazu ein riesiger Marmorblock mit Stromschienen auf beiden Seiten, wo federnde Bronzebolzen von gut 10cm Durchmesser mit einem Hammer ein- oder Ausgeschlagen werden konnten, um über diesen Kreuzschienenverteiler die Gleichstromerzeuger mit den verschiedenen Walzenantrieben zu verkuppeln.

Aus einer Modernisierung aus den 50er 60er eine Gleichstromerzeugung mit großen Quecksilberdampfgleichrichtern. Große flachrotationselipsoidförmige Gebilde, wo oben große Isolatoren herausragten. Sah zusammen mit den adaequaten Schaltschränken aus wie ein Hangar mit sechs geparkten Ufos im Raumpatruille Orion Stil  Als neuestes eine Tyristorgleichrichtung im schlichten 70er Jahre Stil in orangerot.

Alles total eingestaubt und so funzelig beleuchtet, das man in der 380V und 500V Verteilung von einem Ende der Anlage nicht das andere sehen konnte.

Das was man in Museen zu sehen bekommt, ist nur ein schwacher Abglanz von solchen in Betrieb befindlichen Anlagen. Überall rauschen Lüfter, klackern Schütze, brummen Mototen und trafos und bei Laststößen, wenn die Walze den Block erfasst und die Stromanzeige des Ilgners bei 16kA an den Anschlag geht, erzittert das ganze Gebäude.

Nicht ganz so lange her, gerade mal ein dutzend Jahre, eine Galvanik Anlage am Niederrhein unweit der holländischen Grenze: An einigen Stellen sahen einige der Fertigungsstrassen aus wie eine Map in Doom.

Das sind doch eigentlich tolle Orte für Fantasy.

Zitat von: Azora am 30. September 2020, 18:11:56
Ich würde das total gerne mal lesen, und auch schreiben! Mir geht es genau so wie euch, ich bin total genervt von GB und Amerika als Schauplätzen. Deswegen lese ich gerade auch total gerne Africanfuturism, z.B. von Nnedi Okorafor - einfach mal was anderes!

Das hört sich an wie ein guter Tipp.

Zitat von: Azora am 30. September 2020, 18:11:56
Ich habe für den "Schwäbischen Literaturpreis" eine KG eingereicht, die in einer dystopischen Zukunft in meiner schwäbisch dörflichen Heimat spielt. Findet das Kommittee bestimmt total irre und bescheuert, aber ich hatte so Lust, das zu schreiben! Und ich würde irre gerne mal ein Buch daraus machen, aus dem Setting... naja, meine Wunsch-Schreib-Liste ist schon lang.

Aber über Empfehlungen aus dem Genre würde ich mich auch SEHR freuen :)

Einen Fantasytipp habe ich nicht, aber im Krimigenre ist das eigentlich verbreitet. Ich denke dabei jetzt mal an die Eifelkrimis oder die Niederrheinkrimis.
Tatsächlich habe ich mal einen Niederrheinhorrorroman gelesen. Der war aber eher zum Abgewöhnen. An den Titel kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es könnte sein, dass das Wort "Düffel" darin vorkam.

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Depression

Volker

#91
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Danke für die Erklärungen und Beschreibungen!

Was ich ausdrücken wollte: "Modern Fantasy" lebt IMHO vom Gegensatz zwischen aufgeklärter, wunderloser Moderne und dem unerklärlichen Phantastischen.
Ähnlich "Urban Fantasy" bei dem zwischen urbanem, kalten Moloch und dem unbezähmbar Ursprünglichen.
Aber das ist nur was wie ich diese Genres verkürzt definieren würde.

Externsteine - stimmt. Meines Wissens gibt es da keine Nachweise. Aber moderne Paganisten (und Festival-Veranstalter) sehen das anders. Ich habe sie gewählt, weil sie einer der bekannteren "magischen" Orte in Deutschland sind.
Mir geht es nicht darum, was "wirklich" sei - sondern, wo man anknüpfen kann. Alle meine Beispiele sind daher ein wenig sehr offensichtlich gewesen.

Aber: in Deutschland (wie ganz Europa) gibt es sooo viele bekannte und unbekanntere Sagen und Orte mit Geschichte(n).  In den USA habe ich dagegen mal "prehistoric sites" besucht, [Ersetzung: rassistische Fremdbezeichnung für indigene Völker]siedlungen aus prähistorischer Zeit - also 800-1200 n.Chr. (ja, NACHchristlicher Zeitrechnung). Da gibt es "hier" bei uns viel mehr Material, das man nutzen kann.

Dass das nicht gemacht wird, liegt IMHO daran, dass viele US- und UK-Autoren veröffentlicht werden. Was daran liegt, dass deutsche Verlage Übersetzung-Rechte zu bekannten Autoren nur im Bundle mit einem ganzen Stapel an anderen, nicht so bekannten Autoren erhalten. Und wenn man denn schon für das Material bezahlt hat ....

Danke für Deie Beschreibung der elementar.brutalen Maschinerie. Vielleicht ein Ansatz eines wörtlich zu nehmenden Deus Ex Machina, eines aus Maschinen geschaffenen Gottes? Steampunk nicht so sehr im Sinne von magisch angetriebener Technik, sondern im Sinne von durch Technik erzeugter Magie? Da kommen mir gerade so ein zwei echt coole Ideen...
Danke nochmal!

Azora

Zitat von: Sparks am 30. September 2020, 20:15:31
Ich habe in den 1980ern bei Thyssen in Hamborn an der Schienen- und Trägerstrasse gearbeitet. Das waren teils uralte Gebäude vom Anfang des 20 Jhd. Teile der ursprünglichen Installation existierten noch. Wie bei Käptn Nemo auf dem Schiff. ;O) Das ist später modernisiert, im Krieg teilweise zerstört, wieder aufgebaurt und modernisiert worden.

Alte mechanische Umformer riesigen Ausmaßes (Ilgnersätze) die eine Viertelstunde vom Stillstand bis Nenndrehzahl brauchen, und noch eine gute Stunde nachliefen, wenn sie abgeschaltet wurden. Mit zwei großen Schwungrädern und mehreren über Lederflachriemen angetriebene Schmierpumpen. Im Keller Wasserwiderstände mit Sodalösung gefüllt, um die Asynchronmotore in der
Drehzahl zu regulieren. In Nebenräumen Verstärkermachinen und Schaltanlagen in Etagenbauweise und Steigbügelschalter. Dazu ein riesiger Marmorblock mit Stromschienen auf beiden Seiten, wo federnde Bronzebolzen von gut 10cm Durchmesser mit einem Hammer ein- oder Ausgeschlagen werden konnten, um über diesen Kreuzschienenverteiler die Gleichstromerzeuger mit den verschiedenen Walzenantrieben zu verkuppeln.

Aus einer Modernisierung aus den 50er 60er eine Gleichstromerzeugung mit großen Quecksilberdampfgleichrichtern. Große flachrotationselipsoidförmige Gebilde, wo oben große Isolatoren herausragten. Sah zusammen mit den adaequaten Schaltschränken aus wie ein Hangar mit sechs geparkten Ufos im Raumpatruille Orion Stil  Als neuestes eine Tyristorgleichrichtung im schlichten 70er Jahre Stil in orangerot.

Alles total eingestaubt und so funzelig beleuchtet, das man in der 380V und 500V Verteilung von einem Ende der Anlage nicht das andere sehen konnte.

Das was man in Museen zu sehen bekommt, ist nur ein schwacher Abglanz von solchen in Betrieb befindlichen Anlagen. Überall rauschen Lüfter, klackern Schütze, brummen Mototen und trafos und bei Laststößen, wenn die Walze den Block erfasst und die Stromanzeige des Ilgners bei 16kA an den Anschlag geht, erzittert das ganze Gebäude.

Nicht ganz so lange her, gerade mal ein dutzend Jahre, eine Galvanik Anlage am Niederrhein unweit der holländischen Grenze: An einigen Stellen sahen einige der Fertigungsstrassen aus wie eine Map in Doom.


Bitte schreib einen Fantasy-Roman in dem Setting!!! Das ist Kontext-Wissen, das niemand sonst so hat! Absolut genial!

Vielleicht leiten ein paar Bösewicht_innen dort Energie ab, um eine geheimnisvolle Maschine anzutreiben?
Oder es wird etwas zusammengebraut, was mit Strom eigentlich gar nicht so viel zu tun hat...?

...

FeeamPC

Ich nehme das mal als Anregung für mich selbst, meinem Verlag eine Seite zu verpassen für Fantasy, die in Deutschland und/oder den anderen EU-Staaten spielt. Ohne England, wegen Brexit. Könnte interessant sein. Ein paar Buchkandidaten habe ich ja schon dafür.

Nikki

ZitatOhne England, wegen Brexit.

Interessanter Ansatz für ein Verlagsprogramm. :hmmm:

AlpakaAlex

#95
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Zitat von: Volker am 01. Oktober 2020, 00:59:18
Was ich ausdrücken wollte: "Modern Fantasy" lebt IMHO vom Gegensatz zwischen aufgeklärter, wunderloser Moderne und dem unerklärlichen Phantastischen.
Ähnlich "Urban Fantasy" bei dem zwischen urbanem, kalten Moloch und dem unbezähmbar Ursprünglichen.
Aber das ist nur was wie ich diese Genres verkürzt definieren würde.
Urban Fantasy wird üblicherweise als Überbegriff verwendet für alles, was Contemporary, also gegenwartsspielend ist. Auch Sachen, die im Wald, auf dem Dorf oder einer Ölbohrinsel spielen.
Dabei kommt es mir hier deutlich so vor, als würdest du recht wenig Urban Fantasy lesen. Während bei Urban Fantasy definitiv ein großer Reiz darin liegt eine "versteckte" Welt zu erkunden, ist diese "versteckte" Welt oftmals weder unerklärbar, noch unbezähmbar, noch ursprünglich. Letzteres vielleicht, wenn es sich um Fae handelt. Viel eher ist die versteckte Welt einfach nur "anders". Sie läuft nach anderen Regeln ab, die oftmals natürlich zentral von der Geheimhaltung beherrscht werden - sofern es Urban Fantasy mit einer geheimen magischen Welt sind (gibt ja auch genug ohne Geheimhaltung).
Man sollte auch nicht vergessen, dass Urban Fantasy ein stark von Frauen beeinflusstes Genre ist, was sicher auch ein Grund für das Setting ist. Während man natürlich technisch gesehen bei einer eigenen Welt eine Welt schaffen kann, die progressiv ist, so war das lange Zeit verpöhnt. Der Ursprung der Urban Fantasy liegt letzten Endes darin, dass sich Autorinnen einen eigenen Platz geschaffen haben, wo weibliche Figuren als Heldinnen existieren dürfen.

Zitat von: Volker am 01. Oktober 2020, 00:59:18
In den USA habe ich dagegen mal "prehistoric sites" besucht, [Ersetzung: rassistische Fremdbezeichnung für indigene Völker]siedlungen aus prähistorischer Zeit - also 800-1200 n.Chr. (ja, NACHchristlicher Zeitrechnung). Da gibt es "hier" bei uns viel mehr Material, das man nutzen kann.
Es heißt First Nation Siedlungen oder indigene Siedlungen. Das andere I-Wort ist ein Slur. Und man sollte auch vielleicht dazu sagen, dass es durchaus einen recht umfassenden oralen und teilweise auch schriftlichen Geschichtsschatz in den indigenen Kulturen gibt, OBWOHL sich die Kolonialmächte wirklich drum bemüht haben, diesen zu vernichten. Allerdings haben weiße Leute davon auch die Finger zu lassen, weil alles andere kulturelle Aneignung ist (und zudem meistens sehr cringy - ich höre mir aktuell bei der Arbeit die Jane Yellowrock Reihe an und boah ist das cringe).
 

Volker

#96
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Zitat von: NelaNequin am 03. Oktober 2020, 00:06:35
Urban Fantasy wird üblicherweise als Überbegriff verwendet für alles, was Contemporary, also gegenwartsspielend ist. Auch Sachen, die im Wald, auf dem Dorf oder einer Ölbohrinsel spielen.

Hm... würde ich anders sehen, also eher "Modern Fantasy" oder "Contemporary Fantasy" - weniger "Urban". Weil eben nicht städtisch. Und damit passt das Label "Urban" nicht.
So spielt Seanan McGuire's "October Daye"-Serie in San Francisco und bildet auch den Kontrast zwischen der Stadt und dem vom Prota neu entdeckten Feenreich zumindest anfangs recht deutlich ab.
Oder Nancy A. Collins "Sonja-Blue"-Serie - vermutlich eher unter "Vampire" einsortiert passt das auch in Urban Fantasy, weil es gerade auch von der Kollision zwischen realer städtischer Welt und den Vampiren und anderen Wesen lebt.
Patricia Briggs "Mercedes Thompson"- oder "Alpha&Omega"-Serien würde ich eher in "Modern Fantasy" oder "Fantasy Romance" (bzw. "Paranormal Romance") einsortieren., oder vielleicht auch unte "Werwölfe". Nicht aber unter "Urban Fantasy", da eben der urbane Teil fehlt.


Zitat von: NelaNequin am 03. Oktober 2020, 00:06:35
Dabei kommt es mir hier deutlich so vor, als würdest du recht wenig Urban Fantasy lesen.

Nope. Leicht daneben ist auch vorbei.   ;-P


Zitat von: NelaNequin am 03. Oktober 2020, 00:06:35
Man sollte auch nicht vergessen, dass Urban Fantasy ein stark von Frauen beeinflusstes Genre ist  [...] Der Ursprung der Urban Fantasy liegt letzten Endes darin, dass sich Autorinnen einen eigenen Platz geschaffen haben, wo weibliche Figuren als Heldinnen existieren dürfen.

Das gilt eigentlich für alle Fantasy-Genres? Auch ganz klassische Fantasy und Phantastik? Oder "gar" Science Fiction?
Spätestens seit den 70ern/80ern: C.J.Cherry, Andre Norton, Ursula K. Le Guin, Mercedes Lackey, Anne McCaffrey, Marion Zimmer-Bradley, ...


Zitat von: NelaNequin am 03. Oktober 2020, 00:06:35
Es heißt First Nation Siedlungen oder indigene Siedlungen.
Ok, sorry. Genauer waren es Siedlungen der Dene'. Also wörtlich: Siedlungen der Menschen. Nur können das in Deutschland nur wenige wirklich zuordnen. Und "indigen" verortet ja nicht einmal den Kontinent. Oder ich hätte Navajo statt "[Ersetzung: rassistische Fremdbezeichnung für indigene Völker]" verwenden können. Wobei: da waren es ja noch nicht die Navajo, sondern die Vorgänger-Völker, die sich erst zu diesen (ode Ute, oder anderen) entwickelten.

Mir ging es darum zu zeigen, dass es auch in Deutschland mindestens so viele Anknüpfungs- und Geschichtspunkte gibt, die man nutzen kann. Dazu muss man nicht mit dem Finger auf der Landkarte in fremde Länder wandern.
Der typische, dazu passende Spruch: "In Europa sind 200km eine weite Strecke, den USA 200 Jahre eine lange Zeit." 

Zurück zum Thema: wenn man sich einen spezifischen Ort für die Handlungen aussucht, dann ist es gut, wenn es dazu einen "realen" Bezug gibt. Geschichten, Sagen, seltsame oder eindrucksvolle Stellen, Artefakte oder Naturdenkmäler. Und davon gibt es viele in Deutschland.
Und auch wer Urban-Fantasy (as in: Urban=städtisch) schreiben will, der ist (IMHO) in fast jeder deutschen oder europäischen Großstadt besser aufgehoben als in den USA, wo die Urbanität außerhalb von Center Downtown ganzganz schnell ins vorörtliche, kaffige abrutscht.

AlpakaAlex

Zitat von: Volker am 03. Oktober 2020, 02:45:42
Hm... würde ich anders sehen, also eher "Modern Fantasy" oder "Contemporary Fantasy" - weniger "Urban". Weil eben nicht städtisch. Und damit passt das Label "Urban" nicht.
So spielt Seanan McGuire's "October Daye"-Serie in San Francisco und bildet auch den Kontrast zwischen der Stadt und dem vom Prota neu entdeckten Feenreich zumindest anfangs recht deutlich ab.
Oder Nancy A. Collins "Sonja-Blue"-Serie - vermutlich eher unter "Vampire" einsortiert passt das auch in Urban Fantasy, weil es gerade auch von der Kollision zwischen realer städtischer Welt und den Vampiren und anderen Wesen lebt.
Patricia Briggs "Mercedes Thompson"- oder "Alpha&Omega"-Serien würde ich eher in "Modern Fantasy" oder "Fantasy Romance" (bzw. "Paranormal Romance") einsortieren., oder vielleicht auch unte "Werwölfe". Nicht aber unter "Urban Fantasy", da eben der urbane Teil fehlt.
Die "Vampir"-Geschichten sind Urban Fantasy. Das allererste Buch, das den Genrenamen bekommen hat, war Guilty Pleasures, der erste Band der Anita Blake Reihe von Laura K Hamilton - ein Vampirroman.
Genau so sind Mercy Thompson oder die Alpha&Omega Serie Klassiker der Urban Fantasy, die standardmäßig genannt werden, wenn es um das Genre geht.

Ganz ehrlich: Niemand tut irgendwem einen gefallen damit, zig mehr Subgenre zu erfinden. Das macht das ganze unübersichtlicher, statt übersichtlicher. Zumal ich halt auch ganz deutlich sagen muss: Die Neigung neuerdings gerade Vampir- und Werwolfsromanzen als Romantasy, statt als Urban Fantasy zu bezeichnen, hat den sehr üblichen Beigeschmack davon, Frauen aus dem Genre verbannen zu wollen. Weil die ganzen ursprünglichen Urban Fantasy Reihen, die das Genre und seine Konventionen eigentlich begründet haben, waren Vampir- oder Werwolfsromanzen mit ein wenig Detektiv-Flavor (oder etwas vergleichbarem) enthalten. Das aus Urban Fantasy rauszunehmen, ist, wie ein Elves-Fantasy von High Fantasy abzugrenzen.

Das heißt nicht, dass Urban Fantasy zwangsläufig Vampire haben muss, wie halt auch High Fantasy nicht zwangsweise Elfen/Elben braucht, um High Fantasy zu sein, aber dass Vampire und Werwölfe halt Klassiker im Genre sind.

Zitat von: Volker am 03. Oktober 2020, 02:45:42
Das gilt eigentlich für alle Fantasy-Genres? Auch ganz klassische Fantasy und Phantastik? Oder "gar" Science Fiction?
Spätestens seit den 70ern/80ern: C.J.Cherry, Andre Norton, Ursula K. Le Guin, Mercedes Lackey, Anne McCaffrey, Marion Zimmer-Bradley, ...
Natürlich waren Frauen schon immer ein Teil des Genres, aber gleichzeitig wurden gerade SciFi und Fantasy auch immer gegen Frauen gegatekeeped. Lange Zeit (und eigentlich auch noch heute) haben Frauen einen vergleichsweise geringen Anteil von dem gestellt, was im Bereich der Fantasy veröffentlicht wurde und Ansprüche, die an Frauen gestellt wurden, waren häufig deutlich höher, als an männliche Kollegen. Selbst jetzt ist es so, dass zumindest in Deutschland der Schnitt je nach Verlag zwischen 60/40 und 70/30 liegt, was Veröffentlichungen angehen - jedenfalls bei den großen Publikumsverlägen. Und das ist ohne rauszurechnen, wie viel von den Frauenveröffentlichungen rein in der Romantasy sind.

Und das war halt in den 90ern in den US auch so, weshalb Urban Fantasy dort zu einem Ausweich-Subgenre wurde. Ja, auch oftmals mit Romantasy-Elementen drin, aber auch etwas, wo frau epische Schlachten und dergleichen schreiben konnte und ein Publikum hatte.

In den USA hat es sich mittlerweile etwas ausgeglichen, was Veröffentlichungen selbst angeht. Gleichzeitig wird aber in der Fantasy-Szene noch immer massives Gatekeeping betrieben, wie man Beispiel im r/fantasy immer wieder sieht, wo mindestens auch drei Mal im Jahr darüber diskutiert wird. Was leider sehr schade ist.

Zitat von: Volker am 03. Oktober 2020, 02:45:42
Mir ging es darum zu zeigen, dass es auch in Deutschland mindestens so viele Anknüpfungs- und Geschichtspunkte gibt, die man nutzen kann. Dazu muss man nicht mit dem Finger auf der Landkarte in fremde Länder wandern.
Ich denke, dass es den wenigsten bei der Städtewahl um die Anknüpfungs- und Geschichtspunkte geht. Wenn ich mir so anschaue, was ich an Urban Fantasy im Regal stehen habe, ist die eine Reihe, die wirklich mit der Geschichte ihrer Stadt arbeitet, die Rivers of London Reihe von Aaronovich. Gerade die amerikanischen Geschichten sind oftmals recht austauschbar. Und Vampirgeschichten spielen in New Orleans nicht etwa, wegen der spannenden Geschichte von New Orleans, sondern weil Anne Rice ihre Bücher dort einst angesiedelt hatte.

Ich denke auch, dass viele deutsche Autor*innen sich amerikanische Städte, wie New York, als Grundlage nehmen, weil diese ein anderes Flair haben, als viele deutsche Städte. Und es ist dieses Flair, dass sie mit Urban Fantasy verbinden. Finde ich auch schade, aber ich kann in etwa nachvollziehen, woher es kommt.

Ich meine, meine eigenen Geschichten wurden vom Handlungsort her so ausgewählt: Edinburgh, weil es einfach eine verdammt coole Stadt ist und ich die vielen Geistergeschichten dort liebe. Da spielt wirklich die Geschichte eine Rolle. Mosaik dagegen spielt in Kapstadt nicht etwa wegen der Geschichte von Kapstadt, sondern weil es um Söldner*innen geht und Joburg und Kapstadt halt eine höhere Söldner-Population haben, als die meisten anderen Städte der Welt. Plus: Es gibt da genügend Ecken, wo jemand eine Schießerei starten kann und die Polizei nicht reagiert. Und mein neues Projekt spielt in Bielefeld ... nun, weil ich Bielefeld gut kenne und weil es um Werwölfe geht und diese bei Bielefeld in der Senne weniger auffallen werden, als an anderen Orten in NRW.
 

Nikki

ZitatIch denke auch, dass viele deutsche Autor*innen sich amerikanische Städte, wie New York, als Grundlage nehmen, weil diese ein anderes Flair haben, als viele deutsche Städte.

Ich wollte hier schon länger ein Gedankenstück anbringen und nehme diese Aussage zum Anlass (ich hätte es aber auch schon viel früher weiter oben da lassen können). Flair ist etwas extrem Subjektives und am Beispiel von Handlungsorten eine Art von Stereotyp, der immer wieder reproduziert wird. Wie im deutschsprachigen Bereich Ö, D und CH womöglich als "unsexy" gelten und bspw. Rom als Stadt der Erotik mit flirthungrigen Italiener*innen inszeniert wird, bestehen diese Stereotype andernorts genau andersrum. Ich weiß nicht mehr, wo und wann ich an diese Info gekommen bin, doch sie ist für mich sehr logisch: Es heißt Italiener*innen wollen in "sexy"/"spannenden"/(ergänze plakatives Adjektiv) (Liebes-)Romanen nichts von Pasta, Pizza oder sonst etwas typisch Italienisches lesen; was sie reizt, ist (auf deutschen Lesestoff umgemünzt) Sauerkraut und Bier vom Fass, das macht Lust, sprich, ist atmosphärisch. Was im deutschsprachigen Bereich als "italienisch-sexy" inszeniert wird, ist in Italien das genaue Gegenteil von "geil".

Ich würde das als eine positive Form von Othering bezeichnen. Othering basiert ja darauf, die "eigene Gruppe" von einer andersartigen abzugrenzen, indem man die andere Gruppe auf unterschiedliche Art und Weise erniedrigt. Was hier aber passiert, ist, dass die Prämisse eingesetzt wird, die besagt, gerade weil etwas (Schauplatz) anders/fremd ist, ist es besser (ergänze durch sexy, spannend, etc.). Das, was man selbst kennt, wird als fad (langweilig) abgestempelt. Wenn ich zum Beispiel aus dem Haus gehe, ist Wien eine Stadt, die vor allem durch Beton und Plakatwände auffällt, voll von Tauben und grantigen Autofahrer*innen ist. Wenn jemand aber, der nie in Wien war, von Wien liest, hat die Person wohl eher eine Kaiserstadt mit vielen Renaissancebauten mit namhaften Museen und Musiker*innen im Kopf.

Dieses sogenannte Flair, das einzelne Städte versprühen sollen, ist in meinen Augen ein effektives Werbemittel der Tourismusmachinerie oder auch nationalistischer Ideologie (denn natürlich profitiert der jeweilige Standort davon, wenn er als besonders XXX inszeniert wird), das durch verschiedene Medien (Bücher, Filme etc.) sooft reproduziert wird, bis er zum Stereotyp wird.

AlpakaAlex

Zitat von: Nikki am 03. Oktober 2020, 19:14:44
Dieses sogenannte Flair, das einzelne Städte versprühen sollen, ist in meinen Augen ein effektives Werbemittel der Tourismusmachinerie oder auch nationalistischer Ideologie (denn natürlich profitiert der jeweilige Standort davon, wenn er als besonders XXX inszeniert wird), das durch verschiedene Medien (Bücher, Filme etc.) sooft reproduziert wird, bis er zum Stereotyp wird.
Da muss ich einfach massiv widersprechen. Verschiedene Städte haben einfach auch unterschiedliche Atmosphären. Selbst innerhalb Deutschlands. Berlin und Frankfurt sind bspw. ganz andere Städte als München und Nürnberg. Düsseldorf und Köln sind anders als Dortmund oder Essen. Selbst bei den kleineren Großstädten in meiner Gegend: Münster hat einen sehr anderen Flair als Bielefeld und das wiederum einen anderen als Paderborn.

Das fängt bei Sachen wie Baustil an und wie viele moderne Gebäude es im Vergleich zu alten gibt. Man merkt auch einfach was für Leute in einer Stadt wohnen. Münster hat bspw. eine sehr posch Atmosphäre, weil hier gefühlt nur Student*innen und ansonsten einfach die superreichen leben, lol. Auch so etwas wie Diversität und durchschnittliches Alter einer Stadt hat Einfluss auf dieses Flair. Genau so, wie die Industrien, die von einer Stadt vornehmlich abgedeckt werden oder aber die Religiösität einer Stadt.

Deutsche Städte haben bspw. ein sehr anderes Flair als amerikanische Städte, weil sie einfach viel, viel älter sind. Hier haben wir regelmäßig tausend Jahre Stadtgeschichte, während die Amis sehr stolz sind, in einer Stadt, die 200 Jahre alt ist, zu leben. Aber auch in den USA gibt es halt unterschiedliches Flair. Baltimore ist nicht Washington. Washington ist nicht New York. New York ist nicht Boston.

Zugegebermaßen ist letzteres auch das, was mir häufiger mal Urban Fantasy verdirbt. Sachen wie die Anita Blake oder Harry Dresden Reihen haben kaum Bezug zu ihrer Stadt und haben einfach ein generisches Großstadtsetting. Ich musste bei Anita Blake gerade erst einmal nachschauen, wo zur Hölle es überhaupt spielt, weil einfach so wenig Bezug zur Stadt da ist. Bei Harry Dresden genau dasselbe. Da merkt man auch richtig heftig, dass Butcher null Ahnung von Chicago hat.

Ich muss allerdings auch sagen, dass ich glaube viele, wenn sie sich für ein amerikanisches Setting entscheiden an dem sie nie waren, die Atmosphäre von New York vorstellen, weil es halt dieses Stereotype "amerikanische Stadt" Feel ist, was wir vor allem durch Filme und so vermittelt bekommen haben. Ich mein, würd ich mal etwas in den US ansetzen, würde ich mich wohl für Baltimore oder Washington entscheiden, einfach weil ich die beiden Städte am besten kenne. In Washington könnte man sicher gut mit der Geschichte arbeiten oder auch was mit den vielen Museen einbringen. In Baltimore kann man dagegen sicher sehr gut eine schöne Noir Geschichte erzählen.
 

Nikki

Ich finde, Atmosphäre und Flair sind so subjektiv geprägte Begriffe, dass es unmöglich ist, eine allgemeingültige Aussage zu treffen, Stadt XY versprüht dieses oder jenes Flair, ohne auf Stereotype zurückzugreifen. Vor allem, wenn es darum geht, eine Stadt bzw. einen Ort zu beschreiben, der für das Lesepublikum größtenteils fremd ist.

Ich nehme jetzt einfach mal Wien als Beispiel, weil ich mich da am besten auskenne. Ich schätze mal, dass die meisten ausländischen Tourist*innen sofort an den Stephansdom denken werden und somit automatisch altehrwürdige Bauten vor Augen haben.
Je nach dem, wie mein Tag war und ich mich aus einer - wieder mal - überfüllten Straßenbahn zwängen muss, werde ich auf die Frage, woran muss ich bei Wien als Erstes denken, antworten: Die Öffis (Wiener Verkersmittel) können auch nie pünktlich sein, typisch! Jemand, der eben erst nach Wien (aus einer anderen österreichischen Stadt) gezogen ist, wird Wien dagegen für die super öffentliche Verkehrsinfrastruktur loben, da deren 4-Minuten-Intervalle mit 450 Bussen, 500 Straßenbahnzügen und über 150 U-Bahn-Zügen (ich zitiere von der offiziellen Website) alles bis dahin Gekannte in den Schatten stellen. Für diese Person wird Wien womöglich der Inbegriff von "Modernität" sein, für mich dagegen, als gebürtige Wienerin, ist das gewohnte Alltäglichkeit und ich bin dazu verleitet, eher die Fehler zu sehen und mich darüber aufzuregen.

Schlussendlich sind alle Schauplätze auf Erden auch nur Orte, die man in Kategorien urban/ländlich, hohe/niedrige Bevölkerungsdichte, historisch gewachsen/künstlich geschaffen (Wien bspw. ist eine historische Stadt hat aber einige "Grätzel", also, Bezirksteile, die in den letzten Jahren quasi über Nacht aus dem Boden gestampft wurden und rein gar nichts mit dem restlichen Wien [das auch nicht so homogen ist] zu tun hat) etc. Mit einer solchen Matrix ähneln plötzlich kleine ländliche Ortschaften in Österreich anderen kleinen ähnlichen ländlichen Ortschaften in Japan. Natürlich darf man die kulturellen Aspekte nicht vernachlässigen, aber es würde verwundern, wie viele Ähnlichkeiten es neben den vermeintlich überwiegenden Unterschieden gibt.

Eine Stadt (ein Ort) ist größer als nur ein Quadratmeter, dementsprechend vielfältig gestaltet sie sich. Selbst Leute, die allesamt in ein und derselben Stadt aufgewachsen sind, würden wohl, je nach dem, wie alt sie sind, was für eine Biographie sie haben und aus welchem Stadtteil sie kommen, der besagten Stadt eine andere Atmosphäre attestieren.

Dass Paris als Stadt der Liebe gilt, liegt daran, dass in den Medien wiederholt gewisse Sprach- und Denkmuster reproduziert wurden, die diesen Stereotypen manifestiert haben. Wenn in 9 von 10 Filmen/Büchern/Liedern das romantische Happy End vorm Eiffelturm zelebriert wird, dann nicht, weil Paris so romantisch ist, sondern weil sich die Meinung durchgesetzt hat, der Eiffelturm gäbe die perfekte Kulisse für Flitterwochen/Heiratsantrag/einen anderen romantischen Allgemeinplatz ab. Die Slums, die wohl alles andere als romantisch sind, werden dabei geflissentlich ignoriert, weil sie nicht zum Narrativ passen.

Ich vertrete die Meinung, dass von Haus aus jeder Ort, jedes Dorf, jede Stadt dasselbe Potential hat, romantisch/spannend/fantastisch/etc. zu sein. Manche Orte haben es einfach nur leichter, weil sie durch den gängigen Diskurs als Paradebeispiel einer Kulisse für gewisse Genres etabliert wurden.

Amanita

Ich bin nicht sonderlich weit gereist und kann mich deswegen nur zu den Städten in meiner unmittelbaren Umgebung äußern, aber da finde ich durchaus, dass es jeweils ein eigenes Flair gibt. Manches davon hängt natürlich auch mit persönlichen Erinnerungen und der Bedeutung des jeweiligen Orts in der eigenen Lebensgeschichte zusammen, aber ich wage doch mal zu behaupten, dass das nicht alles ist.
Esslingen fände ich beispielsweise super gut für Urban Fantasy geeignet. Das ist einerseits eine der wenigen Städte, wo der ganze historische Stadtkern mit Mauer und Gässchen noch erhalten ist, andererseits gibt es einfach so viele Kleinigkeiten, um die man Geschichten aufbauen könnte. Unterirdische Gänge, die für die Sektherstellung genutzt wurden, eine Burgruine, Weinberge mitten in der Stadt, daneben dann aber auch moderne Industrie.
Heidelberg wäre natürlich auch super und würde vielleicht auch am ehesten ein internationales Publikum ansprechen, weil die Stadt ja auch im Ausland bekannt und ein beliebtes Reiseziel ist.
Ludwigshafen wäre aber irgendwie auch cool, weil es einfach so ein krasser Kontrast wäre, dort irgendwelche magischen Aktivitäten anzusetzen. Und ich glaube, das Buch würde schon allein wegen des Rufs der Stadt irgendwie Aufmerksamkeit erledigen.

Also: An spannenden Möglichkeiten mangelt es meiner Meinung nach nicht und das jetzt nur innerhalb meines beschränkten Radius.
Allgemein finde ich schon, dass man gerade bei Urban Fantasy die Stadt auch kennen sollte, statt nur New York oder London zu nehmen, weil das alle machen und die halt irgendwie cool sind.
Ich stimme @Nikki aber in soweit zu, dass ich auch davon ausgehe, dass es durchaus typische Strukturen und Phänomene in Dörfern und Städten gibt, die sich international trotz aller Unterschiede wiederholen. Das bedeutet aber nicht, dass es die Unterschiede nicht gibt.

AlpakaAlex

Zitat von: Nikki am 10. Oktober 2020, 18:25:24
Ich nehme jetzt einfach mal Wien als Beispiel, weil ich mich da am besten auskenne. Ich schätze mal, dass die meisten ausländischen Tourist*innen sofort an den Stephansdom denken werden und somit automatisch altehrwürdige Bauten vor Augen haben.

[...]

Dass Paris als Stadt der Liebe gilt, liegt daran, dass in den Medien wiederholt gewisse Sprach- und Denkmuster reproduziert wurden, die diesen Stereotypen manifestiert haben. Wenn in 9 von 10 Filmen/Büchern/Liedern das romantische Happy End vorm Eiffelturm zelebriert wird, dann nicht, weil Paris so romantisch ist, sondern weil sich die Meinung durchgesetzt hat, der Eiffelturm gäbe die perfekte Kulisse für Flitterwochen/Heiratsantrag/einen anderen romantischen Allgemeinplatz ab. Die Slums, die wohl alles andere als romantisch sind, werden dabei geflissentlich ignoriert, weil sie nicht zum Narrativ passen.
Siehst du, da liegst du bei mir falsch. Denke ich an Wien, denke ich als allererstes daran, dass ich abgesehen von New York noch nie irgendwo war, wo diverse U-Bahn-Stationen so furchtbar nach Pisse gestunken haben. Dann denke ich daran, wie furchtbar schlecht, die Stadt ausgeschildert ist und wie schwer es, wenn man sich nicht auskennt, ist, sich da zu orientieren. Dann denke ich auch daran, dass ich, als ich da war, mich schwer getan habe, einen ordentlichen Buchladen zu finden - auch wenn das zugegebenermaßen vor den Zeiten eines Smartphones war, mit dem das sicher einfacher gewesen wäre. Und ich denke daran, wie verwinkelt die Stadt ist und wie viele Versteckte Ecken es gibt.

Bei Paris denke ich als erstes daran, wie verstopft die verdammten Straßen sind. Dann denke ich daran, dass ich nie in einer Stadt mit so endlos vielen Bäckereien war. Ich denke außerdem an viele gebrauchte Buchhandlungen, teilweise auch Händler, die einfach so auf der Straße mit ein paar Büchern standen.

Genau sowas ist es auch, was ich mit Flair einer Stadt meine. Deswegen finde ich es auch immer von Vorteil, wenn man einmal da war, oder sich ansonsten wirklich tiefergehend mit einer Stadt auseinandersetzt.

Weil genau das ist es, was ich meine, wenn ich die Anita Blake oder Harry Dresden Bücher kritisiere. Gerade bei Harry Dresden merkt man es. Klar, er hat so Sachen, die man im Lexikon findet, wie verschiedene Bauwerke und sowas ... Aber was ist damit, dass in Chicago unglaublich viele slawisch-stämmige Juden leben? Was ist damit, dass es eine Stadt ist, die nicht nur eine große BI_PoC Bevölkerung hat, sondern auch ein ganzes Stadtgebiet, wo vornehmlich reichere schwarze Menschen leben? Was ist damit, dass es daher, dass es eine der ersten Städte war, wo die Anti-Homo Gesetze aufgehoben wurden, eine recht alte und recht große LGBTQ Bevölkerung hat? Zur Hölle, was ist mit den Bezügen zur irischen Kultur, die sogar die meisten deutschen kennen?! Das Chicago das Butcher beschreibt, fühlt sich wie eine sehr generische amerikanische Stadt und vor allem eher eine Stadt in den eher zentralen Gegenden der USA, wo alles ein wenig weißer und konservativer ist. Ich will ja nicht sagen, dass es sich beinahe eher wie ein Independence, Missouri, anfühlt, aber ...

Zitat von: Nikki am 10. Oktober 2020, 18:25:24
Mit einer solchen Matrix ähneln plötzlich kleine ländliche Ortschaften in Österreich anderen kleinen ähnlichen ländlichen Ortschaften in Japan. Natürlich darf man die kulturellen Aspekte nicht vernachlässigen, aber es würde verwundern, wie viele Ähnlichkeiten es neben den vermeintlich überwiegenden Unterschieden gibt.
Aber genau die Kultur ist nun einmal das wichtige, gerade wenn es um das Flair geht. Und Kultur ist durchaus gerade nun einmal auch zwischen Städten sehr unterschiedlich, weil es halt so viele Faktoren dafür gibt.
 

Nikki

ZitatManches davon hängt natürlich auch mit persönlichen Erinnerungen und der Bedeutung des jeweiligen Orts in der eigenen Lebensgeschichte zusammen, aber ich wage doch mal zu behaupten, dass das nicht alles ist.

Das ist meiner Meinung ein ganz wichtiger Punkt. Es geht ja nicht in erster Linie darum, Erfahrungen und Erinnerungen der Wiener*innen, Esslinger*innen etc. zu reaktivieren, sondern den Schauplatz auf eine Weise zu inszenieren, sodass er auch für Leute greifbar wird, die ihn bestenfalls vom Namen her kennen. Diese Leute haben dann keine Anhaltspunkte und es reicht nicht, einfach zu schreiben "das Flair von XY", man muss es beschreiben, um es fühlbar zu machen. Dh. die eigene Interpretation dieses Flairs verschriftlichen, sodass es für Leute, die noch nie live vor Ort waren, nachvollziehbar ist. Sobald ich aber zu interpretieren beginne, schreibe ich automatisch einen Teil meiner eigenen Person hinein und biete meine eigene Version eines Ortes, den es so vielleicht gar nicht gibt, weil ich mich bspw. anderen Details widme als die, die in der Regel in Zusammenhang mit dem Ort gebracht werden.

Ich könnte Wien als die Mörder*innenstadt, als die Stadt der Morbidität, aber auch der Liebe oder der Hoffnung inszenieren. Je nach dem, wohin ich mein Augenmerk richte. Und damit geht dann auch automatisch ein anderes Flair einher.

ZitatDas bedeutet aber nicht, dass es die Unterschiede nicht gibt.

Nein, keinesfalls. Es gibt Unterschiede, wie es Gemeinsamkeiten gibt. Jeder Ort hat seine ganz spezifischen Merkmale (die sich auf nationaler wie internationaler Ebene sicher in einer anderen oder ähnlichen Disposition wiederfinden) und in meinen Augen schließen jene Merkmale einen Ort als Schauplatz nicht per se für Genre X aus. Einige Orte haben einfach nur ein Setting, das sich für gewisse Autor*innen für Genre X eher anbietet als andere. Ein Setting wie @Sparks es bspw. beschrieben hat, wäre mir persönlich aufgrund meiner fehlenden technischen Affinität zu unattraktiv, um es selbst zu verwenden, Sparks dagegen erscheint mir nicht abgeneigt und sehr qualifiziert dafür, eine Urban Fantasy Geschichte dort zu verorten.

Wenn dieselben Orte von Autor*innen immer wieder als Setting für Genre X präferiert bzw. ausgeschlossen werden, entsteht natürlich der Eindruck, dass Genre X gewisse Ort kategorisch verlangt/ablehnt. Dieses Verhältnis ist aber nicht gottgegeben, sondern einfach Resultat bestimmter Diskurse, die wiederum von vielen (darunter auch ein paar vorherrschende) Teilnehmer*innen geführt werden.


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Ui, @NelaNequin war schnell, während ich geschrieben habe ;D

ZitatSiehst du, da liegst du bei mir falsch. Denke ich an Wien, denke ich als allererstes daran, dass ich abgesehen von New York noch nie irgendwo war, wo diverse U-Bahn-Stationen so furchtbar nach Pisse gestunken haben. Dann denke ich daran, wie furchtbar schlecht, die Stadt ausgeschildert ist und wie schwer es, wenn man sich nicht auskennt, ist, sich da zu orientieren. Dann denke ich auch daran, dass ich, als ich da war, mich schwer getan habe, einen ordentlichen Buchladen zu finden - auch wenn das zugegebenermaßen vor den Zeiten eines Smartphones war, mit dem das sicher einfacher gewesen wäre. Und ich denke daran, wie verwinkelt die Stadt ist und wie viele Versteckte Ecken es gibt.

Das zeigt doch nur, dass es nicht nur das eine Wien gibt, das sich kategorisch besser oder schlechter als ein Genre X Setting eignet als andere Orte. Genau das meine ich: Abhängig von der Geschichte, die ich erzählen möchte, kann ich jeden x-beliebigen Ort als Setting wählen, wenn ich mich auf die entsprechenden Merkmale eines Ortes konzentriere, die sich für die Geschichte in meinem Kopf anbieten.

ZitatAber genau die Kultur ist nun einmal das wichtige, gerade wenn es um das Flair geht. Und Kultur ist durchaus gerade nun einmal auch zwischen Städten sehr unterschiedlich, weil es halt so viele Faktoren dafür gibt.

Nur ist es nicht nur wichtig, welcher Kultur di*er Autor*in angehört, sondern eben auch di*er Leser*in. Auf eine deutsch sozialisierte Person wirkt eine deutsche Stadt nun mal anders als auf eine anderswo sozialisierte Person. Das sind so viele Faktoren, die einander bedingen, dass ich mich dagegen ausspreche, dass ein einziger Ort nur eine einzige Art des Flairs ausstrahlt.

Sparks

Zitat von: Nikki am 10. Oktober 2020, 19:59:31
Nur ist es nicht nur wichtig, welcher Kultur di*er Autor*in angehört, sondern eben auch di*er Leser*in. Auf eine deutsch sozialisierte Person wirkt eine deutsche Stadt nun mal anders als auf eine anderswo sozialisierte Person. Das sind so viele Faktoren, die einander bedingen, dass ich mich dagegen ausspreche, dass ein einziger Ort nur eine einzige Art des Flairs ausstrahlt.

Da liegst Du sehr richtig. Und das ist natürlich vom Betrachter abhängig. Wenn ich jetzt die Stichworte "italienschische Stadt am Meer" in den Raum werfe, erzeuge ich damit Assoziationen. Diese Assoziationen werden in erster Linie Klischhes entsprechen, z.B. die Lagune von Venedig, ein Sandstrand mit vielen Sonnenschirmen oder einen malerischen Fischerhafen. Aber das wird nicht bei allen Leuten so sein. Ich stelle mir z.B. unter einer "italienschische Stadt am Meer" Piombino mit dem Stahlwerk vor, ein Bekannter, Geophysiker, wird wohl eher an die Bucht von Neapel, den Vesuv, den Monte Nuevo und die phlegräischen Felder denken. Oder ein Zollinspektor an irgend ein Containerterminal, mit dem er öfter zu tun hat.....

Das Spielen mit Klischees kann das Schreiben sehr vereinfachen, wenn ich für ein allgemeines Publikum schreibe und selber auch diesem allgemeinen Publikum entspreche und demzufolge eine asoziative Bildersprache benutze, die bei meinem Publikum und mir gleich ist. Es können zwei Probleme auftreten: A) Ich spreche eine andere Bildersprache als mein Publikum und B) ich will von etwas schreiben, wovon es (noch) kein gut verbreitetes Klischee gibt.

In beiden Fällen kann ein Lösungsansatz sein, diese Ebene des Klischees zu wechseln und eine detailiertere Beschreibung des Objektes zu machen. Das ist natürlich mühevoller und auch nicht Narrensicher, führt aber oft nahe genug an das Ziel, um eine gewisse Grundkompatibilität herzustellen. Als ein Beispiel jetzt Lovecrafts Beschreibung von Insmouth. Das funktionierte bei mir als Klischee "neuenglische Hafenstadt" nicht, weil ich selber davon kein Klischee im Kopf habe. Lovecraft beschreibt aber mit allgemeinen anerkannten Begriffen
die Stadt in speziellen Punkten detailierter. Das wesentliche an Insmouth ist aber, das es heruntergekommen ist, das dort merkwürdige Leute und merkwürdige Vorgänge sind. Jetzt muss ich mir nicht unbedingt eine Hafenstadt an der amerikanischen Ostküste vorstellen. Vor meinem inneren Auge erscheint nun z.b. Neuharlingersiel. Vieleicht etwas vergößert, aber total abgeranzt mit merkwürdigen Bewohnern. In Harlingersiel war ich schon einmal, an der amerikanischen Ostküste noch nie. Aber für die Geschichte ist es egal, ob Insmouth wie eine neuengliche Hafenstadt oder wie Neuharlingersiel oder wie ein italienisches Fischerdorf aussieht. Hauptsache es ist heruntergekommen und von zwielichtigen Gestalten besiedelt.

Natürlich bist Du jetzt auf einer anderen Ebene, und ohne Klischees wird es auch hier nicht abgehen, weil wir uns alle unter "heruntergekommen" und "zwielichtigen Gestalten" etwas anderes vorstellen können. Aber es ist wahrscheinlicher, auf einer eher grundlegenderen Ebene kompatible Klischees zu finden als auf einer komplexeren.

Ich kann also Klischees ähnlich verwenden wie Objekte beim objektorientierten Programmieren. Und auch hier funktioniert das nur dann, wenn andere die gleichen Librarys verwenden wie ich und von einem Objekt eine ähnliche Vorstellung haben wie ich. Und auch hier wird das bei einfachen Objekten leichter fuinktionieren als bei sehr komplexen.

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Depression