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Substanzlose Charaktere - Der Bestseller-Geheimtipp?

Begonnen von Alana, 08. Februar 2012, 22:21:23

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Kisara

@ Michaela:
Ja, gewissermaßen ist das auch so. Ich denke, dass viele Autoren Charaktere entwerfen, die wenig Potential haben um abgelehnt zu werden, grade weil man sich mehr Chancen auf eine Veröffentlichung erhofft.
Und viele von denen, die zwar Ecken und Kanten zulassen, lassen sich von ihren Verlegern später zum Schmirgelpapier verleiten, statt sich einen neuen Verlag zu suchen und hinter ihrer Geschichte zu stehen.

Ich meine, wie sonst wäre es zu erklären, dass es Abschrift 731 von Eragon und 368 von Twilight gibt? Die Verlage sagen sich, dass das Original gut funktioniert hat, also fluten sie den Markt damit. Aber das können sie nur, weil es Autoren gibt, die sich nicht zu schade sind abzuschreiben.
Viele reproduzieren doch nur noch das, was schon mal jemand geschrieben hat und womit er erfolgreich war.

Die Autoren unserer Zeit haben oft eine schreckliche Angst davor, dass sie nicht verlegt werden oder das sie jemand kritisieren könnte. Deswegen nehmen sie von vorne herein alles weg, was zur Kritik gereichen könnte und puzzlen sich was aus dem zusammen, was schon da ist.

An dieser Stelle muss ich dann doch mal - oh mein Gott! - Stephanie Meyer gratulieren: Ich glaube kein einziges Buch, das so auf Misshandlung von Teenie-Psyche ausgelegt ist, ist jemals so berühmt geworden.  :wums:

Michaela

Was die Vampire angeht, gebe ich Dir recht Kisara. Ich kaufe mir schon gar keine Bücher mehr aus dieser Ecke, weil das Thema zu genüge ausgelutscht wurde.  :happs:

ZitatDa die meisten Geschichten, die wir so lesen und schreiben, ja möglichst ungewöhnlich sein sollen, finde ich persönlich es gar nicht so schlimm, wenn die Hauptfigur einigermaßen schlicht gezeichnet ist. Dann dient sie dazu, uns die Geschichte aus seiner Sicht erleben zu lassen, wir sehen sozusagen durch seine Augen, und können uns eben leichter mit ihm identifzieren und so tun, als würden wir die Geschichte selbst erleben, wenn sein Charakter nicht allzu komplex auserzählt wird.
Ich glaube Thaliope hat es ganz gut getroffen. Das ist vermutlich der Bestseller - Geheimtipp. Viele Menschen können sich mit dem etwas schlichteren Charakter identifizieren. Tiefgründige Figuren lesen sich nicht so leicht.

Jugendbücher leben von den weniger ausgefeilten Figuren, da steht die Geschichte und der Lesespaß im Vordergrund. Für erwachsene Leser sind ausgereiftere Figuren und komplexere Themen interessanter.


Nirathina

@Kisara:

ZitatBei einem Erwachsenen muss ich vermutlich tiefer in die Trickkiste greifen, als bei einem Jungspund, aber das macht doch grade den Reiz aus.  :vibes:

Genau darauf wollte ich auch hinaus  ;) Das Problem bei mir ist, dass ich dazu meistens zu faul bin  ;D

ZitatIch glaube, viele trauen sich einfach nicht, ihren Protas wirklich Gewalt an zu tun.

Dazu wiederum bin ich definitiv nicht zu faul  :psssst: Ich denke ja, dass die Konfrontation mit Gewalt aus einem gradlinigen Prota einen komplexen machen kann; aber ein hohler würde daran wahrscheinlich zu Grunde gehen, außer er wird von einem entsprechenden Nebenchara heldenhaft gerettet.


@ Thaliope:

ZitatIch glaube, dass komplexe Charaktere manchmal echt überschätzt werden.

Da gebe ich dir Recht, vor allem, wenn man den komplexen Charakter in einen komplexen Plot stellt.
Hohler Charakter plus hohler Plot, da kennen wir ja alle mehrere Beispiele; gradliniger Charakter plus komplexer Plot macht die Sache schon viel interessanter. Aber komplexer Charakter plus komplexer Plot ist schwierig, weil nicht jeder Leser Lust hat, sich beim Lesen ständig den Kopf zu zerbrechen; anders herum gibt es auch (Hobby-) Autoren, die sich mit einem gradlinigen Prota in einer komplexen Geschichte besser zurechtfinden, beziehungsweise kann man dadurch die schwierigen Sachverhalte besser darstellen.

Edit: Michaela war fixer ^^

Wenn man mal den Aspekt der Klischees und ausgelutschten Beweggründe/Vergangenheiten dazu nimmt, ist eigentlich jeder Charakter gradlinig oder schlimmstenfalls hohl. Man kann "traumatische Ereignisse" als Tatbestand nicht neu empfinden, man kann sich immer nur neue Ereignisse ausdenken. Daran hängt auch viel, was den Charakter ausmacht.

Zit

Ich denke, die Aussage aus 20MasterPlots kann man nicht so ohne Weiteres hernehmen und zerlegen. Wenn ich mich recht entsinne, sagt Tobias auch irgendwo, dass eine Geschichte eben nur eins sein kann: plot- oder character-driven. Nun, und wenn der Fokus auf dem Plot liegt (worum sollte es sonst in 20MasterPlots gehen, hehe), dann haben die Charaktere das Nachsehen. Und ich wage die Behauptung, dass die meisten Leser einfach eine tolle Geschichte, also einen tollen Plot, wollen.

(Es ist auch gar nicht so einfach, Plot und Charakteren zugleich gerecht zu werden. Jin&Lis waren die ersten, bei denen ich das versucht habe und es noch nicht so wirklich umgesetzt ist, imho. Aber da ich bei denen eh vor mich hinschnecke, weil das Geschriebene muss ja auch erste Sahne sein ... :d'oh: Es ist sauschwer, einer Geschichte auf allen Ebenen gerecht zu werden. Einfacher ist es eben, irgendwo Abstriche zu machen. Am Ende darf es ja auch irgendwo widerum nicht zu schwer sein, um so viele Menschen wie möglich anzusprechen, auch die, die wenig bis gar nicht lesen.)
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

chaosqueen

Das ist ja mal eine spannende Sache, über die ich noch nie bewusst nachgedacht habe! Aber so sehr ich die Twilight-Reihe mag, Bella macht mich halb wahnsinnig mit ihrer "Edward-Anschmachterei"! :brüll: Ich hab da neulich so eine nette zusammenstwllung gesehen. Drei Frauen aus berühmten Büchern /Filmen: Ganz oben Eowyn mit einem Schwert und in Kampfhaltung: "I'll save the world!", danach Hermine mit einem Zauberstab: "I will help to save the sorcerer's world." Und unten Bella, liegend auf einer Wiese: "I will lay around and make my glittering boyfriend do all the work." ;D

Ähm, zurück zum Thema: Ich denke, Thali hat es gut auf den Punkt gebracht. Ein kauziger Held voller Ecken und Kanten, der dann auch noch in extrem außergewöhnliche Situationen gerät, wird schnell in die "unglaubwürdig"-Ecke abgeschoben. Ich hatte da mal so ein ChickLit-Buch am Wickel, in dem es um eine extrem skurrile Mädelsclique in Hamburg ging, die extrem seltsame Dinge erlebt haben (es gab einen Nachbarn, der seine Wohnung nur durch die Wohnung eines der Mädels erreichen konnte, ein Krokodil als Haustier und jede Menge weiteren seltsamen Kram). Jedes Element für sich genommen konnte ich unter "was für eine geniale, abgefahrene Idee!" verbuchen, aber die Häufung hat mich irgendwann nur noch genervt.

Ich fürchte, meine Mara ist teilweise auch sehr glatt, aber sie entwickelt sich immerhin im Laufe der Geschichte. Und selbst ihre Gegenspielerin, die bisher nur von der Sorte "eifersüchtige, nervige Zicke" war, bekommt gerade ihre große Chance, über sich hinauszuwachsen. Dafür ist Tom eher der geradlinige Held, der wenig Kanten, aber zumindest eine fiese Vergangenheit hat, die seine Motivation begründet. - Ja, wenn ich meine aktuellen Figuren analysiere, dann stelle ich fest, dass es auch hier jemanden gibt, der unbedingt ans Ziel will und das mit aller Macht zu erreichen versucht, dafür aber wenig weitere Eigenschaften hat, und zwei Personen in seinem Umfeld, die aus unterschiedlichen Gründen ihre eigene Persönlichkeit doch recht weit entwickeln müssen, um Schritt zu halten.

HauntingWitch

Das Meiste wurde schon gesagt. Ich mag selber auch lieber Charaktere mit Macken, das können ja ein paar wenige sein. Aber dieses "nett & herzig"-Ding schreckt mich ab.

Zur Anfangsfrage von Alana, warum so viele substanzlose Charaktere zu Bestsellern werden, denke ich, dass es auf den Leser ankommt. Ein passionierter Leser, der sich mit dem Inhalt seines Buch auseinandersetzen und darin versinken möchte, wird so einen flachen Charakter als unrealistisch empfinden. Ein Leser hingegen, der nur aus Langeweile liest oder "weil man das eben einmal gelesen haben muss" oder weil es der Lehrer sagt oder aus anderen Gründen; Der wird seine Freude an einem möglichst einfachen Charakter haben, über den er nicht so viel nachdenken muss. Nur so eine These.  ;)

Darüber hinaus hat es vermutlich auch mit unseren Vorstellungen zu tun. Sind wir ehrlich, flach oder nicht: Jeder mag doch Helden, die noch die Welt retten und all die Fehler derselbigen nicht haben.  ;D Schaut euch z.B. die Legende von König Artus an: Der Typ ist absolut perfekt, hat keine Fehler, keine Makel, alles, was er tut, ist richtig. Trotzdem oder gerade deswegen fasziniert das so viele, weil das einfach ein Held ist, etwas, woran man glauben kann und das Hoffnung gibt. So unrealistisch das Drumherum dann sein mag, wünschen wir uns nicht alle solche Leute in unsere Zeit? Wahrscheinlich würden wir sie furchtbar langweilig finden, wenn wir ihnen begegneten, aber wenn wir von ihnen lesen, finden wir sie toll, weil sie eben Helden sind.

Was mir auch auffällt ist, dass die Masse eher auf Happy Ends steht als auf schockierende oder gar offene Enden. Ich denke, das geht ins Gleiche hinein. Das Happy End hat etwas Märchenhaftes (warum mögen wir Märchen? Dornröschen, die perfekte Schönheit? Gretel, die Rechtschaffene?), das wir so in der Realität nicht bekommen. Also flüchten wir uns in diese irrationale Idee von Hoffnung. Hingegen ein schockierendes Ende entspricht wahrscheinlich eher den realen Möglichkeiten, also lehnen wir es ab. Bekämen wir allerdings in unserem Leben immer Happy Ends, wie lange würde es dauern, bis wir uns über zu wenig Action beklagen? Diese letzte Frage stellen sich aber, denke ich, nur Menschen, die sie sich stellen wollen. Alle anderen nehmen lieber das ungetrübte Heldentum.

Ja, meine 2 Cents.  ;)

Runaway

Zitat von: Thaliope am 09. Februar 2012, 09:56:59
Auch wenn ich jetzt Gefahr laufe, mich hier verprügeln zu lassen ...  ;D
Ich glaube, dass komplexe Charaktere manchmal echt überschätzt werden. Ich hab mal - weiß nur gerade leider nicht mehr wo - die Faustregel gelesen, dass entweder ein gewöhnlicher Charakter in eine ungewöhnliche Situation kommt, oder eben ein ungewöhnlicher Charakter mit einer gewöhnlichen Sitation klarkommen muss.

Da die meisten Geschichten, die wir so lesen und schreiben, ja möglichst ungewöhnlich sein sollen, finde ich persönlich es gar nicht so schlimm, wenn die Hauptfigur einigermaßen schlicht gezeichnet ist.
Jaaaa auf sie mit Gebrüll!! (Scherz ;D )
Nee, aber im Ernst, es gibt einen Unterschied zwischen relativ schlicht und relativ dämlich ;)

Ich find ja die Unterscheidung von plot- und character-driven gut. Da ist für mich einiges dran. Wobei ich mich da jetzt frage: Hab ich ein Problem? Bei mir beeinflußt sich beides immer wechselseitig... ;D

Ich find's interessant, daß Frodo und Sam in der Diskussion aufgetaucht sind. Mir war Sam auch immer deutlich lieber. Ich hab ja jahrelang Herr der Ringe-Fanfiction mit Fokus auf die Hobbits geschrieben - und Sam war immer mein Liebling und mein großer Held. Mehr als Frodo.
Und auch Eowyn kam eben kurz vor - lustig ist, daß ich jetzt am Wochenende HdR nochmal auf DVD gesehen hab und mich dabei die gaaaanze Zeit über Arwen aufregen mußte. Ich warf imaginär immer mit Popcorn vom Sofa, wenn wieder Arwen und Aragorn dran waren und kaum daß Eowyn aufgetaucht war, hab ich mich drüber aufgeregt, daß ich an Aragorns Stelle ja Eowyn genommen hätte, weil die Frau wenigstens Feuer hat. Arwen liegt immer nur rum und sieht gut aus ;)

Zit

ZitatIch find ja die Unterscheidung von plot- und character-driven gut. Da ist für mich einiges dran. Wobei ich mich da jetzt frage: Hab ich ein Problem? Bei mir beeinflußt sich beides immer wechselseitig... ;D

Das sollte es wohl auch im Idealfall. :D Aber es ist nun mal so, dass der Fokus bei vielen Schreibern nur auf einem von beidem liegt und entweder sind es ausgefeilte Plots oder vielschichtige Charaktere.
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getting a headache."
Unbekannt

Tanrien

Zitat von: Thaliope am 09. Februar 2012, 09:56:59
Ich glaube, dass komplexe Charaktere manchmal echt überschätzt werden. Ich hab mal - weiß nur gerade leider nicht mehr wo - die Faustregel gelesen, dass entweder ein gewöhnlicher Charakter in eine ungewöhnliche Situation kommt, oder eben ein ungewöhnlicher Charakter mit einer gewöhnlichen Sitation klarkommen muss.
Sehr schön gesagt! Da kann ich zustimmen. Ich kenne zwar auch Bücher, die eine wirklich komplexe Story mit einem wirklich komplexen Charakter verbinden und das bewundere ich wirklich, aber die Kombinationen aus dem einen komplex und dem anderen simpel habe ich bisher eigentlich immer als genauso, wenn nicht sogar als stärker mitreißend erlebt. Wobei, das waren dann eben teilweise auch Bestseller. ;)

Ich glaube aber auch gerade bei jugendlichen Charakteren, dass man irgendwo an seine Grenzen stößt. Ein bestimmter Charakter als Mixtur aus Charakterzügen muss ja auch durch einen entsprechenden Lebenweg/Hintergrund erklärt werden. Und da haben jugendliche Charaktere meistens nicht viel zu bieten - wobei das sicher auch auf die eigene Weltsicht ankommt, wenn man sagt, dass die meisten Menschen gar nicht so verschieden sind. In der Situation dass der Drache feuerspeiend auf einen zufliegt gibt es schlicht nur zwei Möglichkeiten, "Charakter" zu zeigen: Wegrennen oder Kämpfen. Das beschränkt ja die Ausdrucksmöglichkeit für Charaktereigenschaften. In der Realität unterscheiden sich Menschen an Kleinigkeiten, die aber in einer fight-or-flight-Situation schwer bis gar nicht darzustellen sind. Und wenn man sie in den Ruhephasen darstellt, wirken sie oft abgemildert.

Die wenigsten Menschen sehen sich selbst ja als extrem an, sondern leben halt irgendwie vor sich hin und wer jeden Tag immer wieder alles nach dem gleichen Muster tut, der sieht das als abgeschwächt/normal an - warum sollte es bei einem Charakter anders sein? Wenn wir Harry Potter aus der Perspektive von Hermine hätten, würde ja auch Harrys Charakter das total exotische Tier sein, während es für uns Leser schlicht normal-0815 wäre, dass wir da ein fleißiges Mädchen hätten.

Sobald ich viel Zeit (= Seiten im Roman) damit verbringe, zu erklären, dass Charakter Anna gerne strickt, weil sie das von ihrer Großmutter gelernt hat, aber ungern kocht, weil ihre Mutter sie früher dazu gezwungen hat, aber ihr Vater sie gerne kochen sieht, weil er sich dadurch an seine Geliebte erinnert fühlt, Anna das aber weiß, weil sie die Geliebte mal kennengelernt hat und ebenfalls in die verknallt war, bis ihre Großmutter das herausgefunden hat und Anna auf den Landsitz gebracht hat, und Anna aber einen Hund hat, der... etc. pp. All die Zeit, die ich brauche, um Annas ganze Charaktereigenschaften so darzulegen, dass sie wie ein "runder" durchschnittlicher Mensch wirkt, ist Zeit, die ich nicht habe, um Anna durch die Goblinhöhlen fliehen zu lassen.

Alternativ könnte man Anna dann edgy machen, also einen Charakterzug besonders herausstellen, was sicher auch interessant sein kann - aber Platz braucht. Von daher kommt man so zurück zu Thalis Aussage.

Debbie

#24
Mmmh... Ich überlege jetzt gerade welche Definition für "flach" ihr hier zugrunde legt  :hmmm:

Ein "guter" Charakter sollte für mich als Leser folgende Eigenschaften besitzen:

- glaubwürdig sein; und die große Mehrheit der Bevölkerung ist eben einfach nicht schwul und misshandelt und geisteskrank, etc. - also ist es schwierig für den Durchschnittsbürger sich damit zu identifizieren. Die meisten Leben sind eben nicht voll von Leid und Melodrama. Nicht, dass es nicht ehrenvoll und wünschenswert ist, mit Büchern die diese Dinge behandeln zumindest für einen Augenblick an der Oberflächlichkeit des "Alltagslebens" zu kratzen  :wums: Aber die meisten Menschen wollen über sowas garnicht nachdenken - genauso wenig wie sie bei jedem Bissen an die hungernden Kinder in Somalia denken wollen. Ich würde da auch nicht unbedingt Gleichgültigkeit unterstellen. Evolutionstechnisch schließt das Funktionieren in einer Industriegesellschaft die ständige Vergegenwärtigung von Elend wohl einfach notgedrungen aus.

- eine Vergangenheit haben; und zwar am Besten eine unschöne...  >:( Es ist zwar traurig, aber wahr - Tiefgründigkeit und Durchhaltevermögen entstehen in den meisten Menschen erst, wenn sie selbst gelitten haben. Solche Charaktere sind gewünscht (Harry, der von seinen Verwandten körperlich und seelisch misshandelt wurde; Bella, die der typische scheidungsgeschädigte Teenager ist und früh erwachsen werden musste, weil sie eine hilflos chaotische Mutter hat) und werden ihrer Zielgruppe entsprechend entwickelt. Was auch wiederum gut ist, denn die Identifikation mit den Charakteren ermöglicht die Identifikation mit der Geschichte; ein Garant dafür, dass die Leser über die "Message" zumindest gewillt sind nachzudenken. Das "Was-würde-ich-tun" wird greif- und erfahrbarer.
Aber: Auch wenn solche Vergangenheiten gewünscht sind, will der Leser das nur in geringen Dosen "erleiden" müssen. Charaktere die sich in ihrem Leid suhlen und nicht fähig sind, darüber hinaus zu wachsen, eignen sich eben nicht für eine plot-driven Story. Es lenkt zu sehr vom eigentlichen Plot ab, sofern es eben nicht selbt der eigentliche Plot ist. Da wird dann die Grenze überschritten, meist die zwischen Unterhaltungsliteratur und literarischer Belletristik. Harry Potter konnte nur ein Erfolg werden, weil die Autorin Harry's Leid ins Lächerliche gezogen hat - ansonsten wäre es für den Leser kaum auszuhalten gewesen, und Harry, wenn er sein eigenes Leid nicht einfach als gegeben hingenommen hätte, wäre nie der Charakter gewesen, der auch durch all die anderen Dinge "leben" kann, welche ihm die Autorin noch vor die Füße geworfen hat.

- wie schon mehrfach erwähnt, ein enormes Potential an Durchhaltevermögen haben; was oftmals wiederum aus einer schmerzhaften Vergangenheit resultiert. Ein gewisses Maß an erprobter Leidensfähigkeit ist eben erforderlich, und der Charakter wird wiederum glaubwürdiger, wenn diese durch seine Vergangenheit  begründet wird.

Nochmal zur Definition von flach: Wenn ihr euer eigenes Leben mit der Ausgangsposition von Harry und Bella vegleicht, ist es denn dann viel aufregender, leidgeplagter?? Wenn ihr euch in deren Alter seht, ward ihr "tiefgründiger" und interessanter? Würdet ihr euch deswegen selbst als "flach" bezeichnen?

Zudem darf man nicht vergessen, um wen es in den Geschichten eigentlich geht: Gut, Harry Potter behandelt Harry's Leben - aber er ist auch ein außergewöhnlicher Elfjähriger (charakterlich). Der eigentliche Protagonist von Twilight ist eigentlich Edward; Bella wurde v. a. "designt" das, für den kaum vorhandenen Plot, passende Gegenstück zu sein. Clary (Die Chroniken der Unterwelt) ist bei Weitem nicht so interessant wie Jace - sie wächst mit der Geschichte, aber im Grunde gäbe es den Bestseller nicht ohne einen "Jace"...

Ich habe in letzter Zeit einige sehr gute Bücher gelesen, auch welche, die nicht zum "wahren" Bestseller geworden sind - und das wohl tatsächlich, weil sie sich an die oben genannten Regeln z. T. nicht gehalten haben  :(  Ich finde sie hätten mehr Aufmerksamkeit verdient, aber das eigene Maß an Leidensfähigkeit muss eben jeder Leser für sich entscheiden...

Und ja, ich gebe zu, meine Charaktere "publikumsfreundlich" zu entwickeln - das bedeutet nicht, dass sie nicht gequält und kaputt sind, sondern lediglich, dass sie entweder a) sich selbst deswegen nicht leid tun, b) nicht zuviel über ihre Vergangenheit nachdenken, oder c) der Leser diese Vergangenheit nur häppchenweise und keinesfalls sofort serviert bekommt. Für mich ist das eine gute Lösung für einen "Mittelweg".


@Tanrien:
ZitatEin bestimmter Charakter als Mixtur aus Charakterzügen muss ja auch durch einen entsprechenden Lebenweg/Hintergrund erklärt werden. Und da haben jugendliche Charaktere meistens nicht viel zu bieten -

:pompom: Meine Worte!


Dogtales

Zitat von: Tanrien am 09. Februar 2012, 12:59:27

Die wenigsten Menschen sehen sich selbst ja als extrem an, sondern leben halt irgendwie vor sich hin und wer jeden Tag immer wieder alles nach dem gleichen Muster tut, der sieht das als abgeschwächt/normal an - warum sollte es bei einem Charakter anders sein? Wenn wir Harry Potter aus der Perspektive von Hermine hätten, würde ja auch Harrys Charakter das total exotische Tier sein, während es für uns Leser schlicht normal-0815 wäre, dass wir da ein fleißiges Mädchen hätten.

Ich stimme da vollkommen Tanrien zu (und einigen anderen, denn das Wichtigste wurde ja schon gesagt). Wenn wir ein Buch oder andere ein Buch oder sogar andere unser Buch lesen, dann wollen sie in der Regel eins, sich mit dem Hauptcharakter identifizieren. Jetzt hat man also Autor meiner Meinung nach – und recht vereinfacht dargestellt – zwei Möglichkeiten: Man schafft einen Charakter, der rundum stimmig ist, mit Ecken und Kanten und Narben und Beulen. Dieser Charakter wird lebendig und interessant sein, aber für das Gefühl, etwas mit dem Charakter gemein zu haben, werden wahrscheinlich nur wenige Leser angesprochen sein, die nämlich, die dem Charakter am ähnlichsten sind, oder Leute, die allgemein über ein sehr gutes Einfühlungsvermögen verfügen. Es gibt vielleicht noch ein paar, die den Charakter interessant finden, aber sich nicht direkt emotional mit ihm verbunden fühlen, weil er einfach zu anders ist. Dann bliebe noch die Möglichkeit, einen einfachen Charakter zu machen, ich will jetzt mal ausnahmsweise nicht zwischen hohl und geradlinig unterscheiden, und damit einen Charakter zu erschaffen, in dem sich viele Leser wiederfinden. Warum? Weil er nicht zu speziell ist. Weil er nicht vollständig ausgestaltet ist und somit für den Leser viel Interpretationsfreiheit lässt, inwieweit sich der Leser auf den Charakter einlässt und die Möglichkeit hat, seine eigenen Charakterzüge auf den Charakter zu projizieren. Ich glaube, dieses ,,Potential" macht diese flachen Charaktere erfolgreicher.
Außerdem – wurde auch schon erwähnt – ist die einzige Rolle des Protagonisten vereinfacht gesagt, die Romanhandlung voranzutreiben und das Ziel, das der Autor/die Autorin ihm stellt zu erreichen. Nicht sehr viel mehr.

Ich persönlich mag allerdings auch lieber vielschichtige Charaktere und weil es, wie schon gesagt, in den meisten erfolgreichen Büchern eher flache Protagonisten gibt, bin ich auch ein bekennender Nebencharakter-Liebhaber.
Und ich möchte eben auch schreiben, wozu ich Lust habe und was für mich selbst am nachvollziehbarsten ist, weshalb ich mir die größte Mühe gebe, meine Charaktere allesamt, vom Nebencharakter zum Protagonisten, nicht flach sondern interessant und lebendig darzustellen - mit Ecken und Kanten.  :)

Moni

Zitat von: HauntingWitch am 09. Februar 2012, 11:23:53
Schaut euch z.B. die Legende von König Artus an: Der Typ ist absolut perfekt, hat keine Fehler, keine Makel, alles, was er tut, ist richtig. Trotzdem oder gerade deswegen fasziniert das so viele, weil das einfach ein Held ist, etwas, woran man glauben kann und das Hoffnung gibt.

Gerade Artus hat sich aber auch ein paar grobe Schnitzer geleistet, was ihn dann vielleicht wieder sympathisch machte... Ich sag nur: Inzest, Kind mit Schwester und ein paar andere Dinge, die dann letztlich zum Krieg geführt haben.

Ich habe Frodo nie als hohl empfunden, im Gegenteil, er hat sehr viel Substanz. Aber er ist, zumindest zu Beginn, noch sehr geradlinig. Außerdem liegt die meiste Zeit die Perspektive auf Sam, so dass wir mehr über seine Ängste und Wünsche erfahren, als über Frodos.

Bella, ok, abgehakt.

Aber was mir in dieser ganzen Diskussion aufgefallen ist: ihr nennt (Frodo mal ausgenommen) nur Charaktere, die in den letzten 10 -15 Jahren die Bühne betreten haben. Habt ihr das Gefühl, dass man wirklich davon ausgehen kann, dies wäre ein Phänomen, dass erst in den letzten Jahren aufgetreten ist? Denn Bücher mit flachen und hohlen Charakteren gab es schon immer, auch gerne als Verkaufsschlager (Stichwort Hohlbein und Marion Zimmer Bradley - auch wenn mich dafür einige schlagen möchten, es ist so, ihre Frauenfiguren sind beinahe alle durch die Romane hinweg austauschbar!)
Ich denke auch, wir müssen hier differenzieren zwischen unserer wesentlich kritischeren Wahrnehmung als Leser und Autoren und der "reiner" Leser, die lediglich Konsumenten sind. Sobald man beginnt, sich mit Charakteren auf einer anderen Ebene - nämlich der Erschafferebene - auseinanderzusetzen, empfindet man plötzlich Protas in Romanen ganz anders. Genauso geht es mit dem Plot, den Recherchen... Ich habe immer den guten Vergleich mit einer Freundin, die ebenfalls Buchhändlerin ist und sicherlich auch schon eine kritische Leserin, aber oft bemängele ich in Romanen Dinge, die ihr nicht einmal aufgefallen sind.
Persönliches Empfinden ist also ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Deutsch ist die Sprache von Goethe, von Schiller...
und im weitesten Sinne auch von Dieter Bohlen[/i]
Stefan Quoos, WDR2-Moderator

»Gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen,
ist alles andere im Leben ein Kinderspiel.«[/i]
Johann Wol

Runaway

#27
Zitat von: Debbie am 09. Februar 2012, 13:37:13
Nochmal zur Definition von flach: Wenn ihr euer eigenes Leben mit der Ausgangsposition von Harry und Bella vegleicht, ist es denn dann viel aufregender, leidgeplagter?? Wenn ihr euch in deren Alter seht, ward ihr "tiefgründiger" und interessanter? Würdet ihr euch deswegen selbst als "flach" bezeichnen?
Nein, überhaupt nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht doch darum, daß Protagonisten, die hilflos von der Story dahingetrieben werden, nicht viel taugen. Das beste Beispiel, das mir dafür einfällt, ist Eragon - der Junge ist bloß ein Spielball der anderen Figuren. Im zweiten Band hat "sein" Handlungsstrang mich null interessiert, dafür aber sehr wohl der seines Cousins, denn der Junge hat was drauf.

Oder eben Bella. Du sagst es hier selbst:
Zitat von: Debbie am 09. Februar 2012, 13:37:13
Der eigentliche Protagonist von Twilight ist eigentlich Edward; Bella wurde v. a. "designt" das, für den kaum vorhandenen Plot, passende Gegenstück zu sein.
Das kann es doch nicht sein?! Ich für meinen Teil lese doch keine Bücher, weil die Person, die eigentlich im Zentrum steht, nix drauf hat.
Wenn der eigentlich Protagonist in Twilight doch Edward ist, warum hat Frau Meyer dann nicht ihn ins Zentrum gerückt? (rein rhetorische Frage übrigens)

Nee, also da bin ich unverrückbar der Meinung: Gut ausgearbeitete Charaktere sind wichtig. Die müssen nicht so kantenreich sein wie Katniss in Panem, aber sie müssen stimmig sein. Glaubhaft. Sie müssen Tiefe haben. Sie müssen keine Übermenschen sein, aber ich mag diese Spielball-Protas nicht. Mir fällt auch absolut kein einziger plausibler Grund ein, warum ein Autor so einen erfinden würde - außer daß er es nicht besser konnte...

Maran

Meiner Meinung nach gibt es keine wirklich substanzlosen Charaktere. Im schlimmsten Falle sind sie einfach nur oberflächlich - und das ist eine Charaktereigenschaft.  ;)

Wenn ein Charakter in einem Werk nicht besonders "ausgeformt" herüberkommt, heißt das noch lange nicht, daß der Autor sich nicht mit ihm auseinandergesetzt hat. (Ich denke dabei gerade an Rowlings Aussage über Dumbledore.)

Die meisten Menschen lesen doch eigentlich, um unterhalten zu werden, um den Alltag zu vergessen etc., und ich vermute, daß sie sich dann nicht unbedingt mit den Ecken und Kanten des Protas auseinandersetzen, sondern einfach eine gute Geschichte lesen wollen. Je einfacher der Hauptchara ausgearbeitet ist, desto leichter fällt das Lesen, und umso besser wird der Leser von der Geschichte, so sie denn interessant ist, auch gefangen. Dieses Gros der Leser füllt die Bestsellerlisten. So einfach ist das. Die Bestsellerliste sagt nichts, absolut gar nichts, über die Qualität eines Buches aus. Sie zeigt einfach nur auf, daß viele Menschen dieses Buch gekauft haben. (Ob sie es dann auch lesen, läßt sich daraus allerdings nicht ableiten.  ;) ) Mir persönlich wäre HP entgangen, wenn es nicht in aller Munde gewesen wäre. Seltsamerweise war es meine Mutter, die das erste Buch kaufte, und mir davon vorschwärmte.  :hmmm: Harry hat mich lange Zeit nur angenervt, ich hätte ihn am liebsten aus dem Buch gezogen und ihm links und rechts was hinter die Ohren gegeben, damit er endlich mal erwachsen wird. Aber Snape fand ich einfach nur faszinierend.

An Harry Potter (und auch Frodo) erkennt man aber auch, daß die erfolgreichen Protas eben nicht "aktiv" sind, sondern einfach in die Geschichte hineingestoßen werden. Ich wage zu behaupten, daß die wenigsten "Helden" sich freiwillig und in vollem Bewußtsein dafür entscheiden. Sie sind von Natur aus eher passiv. Der Vergleich mit Frodo hinkt meiner Meinung nach auch ein wenig, da er (und jetzt pfannt mich, wenn ihr wollt, es wird nichts nützen  :P) nicht die wichtigste Person im Handlungsstrang ist.

Silvia

Interessanter Thread. Mir ist beim Lesen auch so ein Gedanke gekommen:
Können diese schablonenhaften, "unbeschriebenen" Charaktere auch daher kommten, dass vor allem im Bereich Jugendbuch und Fantasy gern nach dem Plotmuster der "Heldenreise" gearbeitet wird?
Unbedarfter Jüngling vom Lande (Eragon ... irgs) stolpert in eine Situation, die für ihn noch zu groß ist, an der er wachsen und über sich hinauswachsen muss, um sie zu bezwingen. Dass dabei am Anfang leider immer so ein unbedarftes Kerlchen stehen muss, finde ich selber ziemlich grausig, aber es ist mir oft genug untergekommen beim Lesen. (Ob das vom Erfinder des Musters so gewollt ist, weiss ich nicht.) Neben diesem steht der Held dann natürlich als Identifikations- und Projektionsfigur für seine jugendliche Leserschaft ... wo soll man da also noch Ecken und Kanten unterbringen? Also macht man ihn massenkonform, gibt ihm höchstens die typischen, üblichen kleinen Schwächen (ein bißchen hitzköpfig, ein bißchen verfressen, ein bißchen naiv ... oder auch dämlich halt  ;D).
Leider verharren viele Charaktere trotz "Heldenreise" oft in dieser Position. Sie bewältigen dann zwar ihr persönliches Schicksal, aber irgendwie sind sie am Ende immer noch substanzlos. Nicht alle, aber viele.
Das wäre so meine Theorie.
Warum sonst bleibe ich denn auch ständig beim Freund/Gegenspieler des Helden hängen, wenn ich mir meine Sympathiefigur des Buches aussuche? Richtig - die Typen sind nicht der Identifikationspool, haben mehr Background und sind einfach interessanter.