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Wie fängt man an?

Begonnen von Zanoni, 07. Dezember 2011, 20:19:22

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Leo

Ich persönlich gucke bei Büchern nie nach dem Anfang; wenn mich der Klappentext nicht abgeschreckt hat, schlage ich das Buch irgendwo in der Mitte auf. Aber ich halte mich was das angeht für ein sehr untypisches Beispiel, und natürlich entscheiden Lektoren sehr wohl anhand des Anfangs - ich habe mal gelesen, dass das Urteil normalerweise bis zur dritten Normseite gefallen ist.
Das meiner Meinung nach Wichtigste ist, dass gleich zu Beginn Fragen aufgeworfen werden, die der Leser beantwortet wissen will. Es sollte zwar genug erklärt werden, dass er nicht auf dem Schlauch steht, aber es muss einen Grund geben, weiterzulesen. Konkret hängt dann vom Buch ab, in welcher Form die Fragen auftauchen und worum es sich dabei handelt, und entsprechend kann es sofort zur Sache gehen oder eben nicht.

Zitat von: Rynn am 07. Dezember 2011, 20:50:49[...] auch die absolut und total grausame Actionszene wirkt als Anfangsszene gar nicht, wenn der Leser dabei einfach nichts für den Prota empfindet
Das ist meines Erachtens ein springender Punkt bei der Sache: Noch ist der Leser nicht in der Geschichte, identifiziert sich kein Stück mit den Charakteren und hat keinerlei Vorwissen. Unter diesen Voraussetzungen Spannung aufzubauen ist eine Kunst, und ich finde es nicht schlimm, wenn das seine Zeit dauert.
Deshalb müssen es auch nicht die plotentscheidenden Fragen sein, ob der Prota überlebt oder ob es ihm gelingen wird, den bösen tyrannischen unsterblichen HerrscherTM zu stürzen, die im Vordergrund stehen. Es reichen relativ banale Dinge, um die Neugierde des Lesers zu wecken; was ist in dem Paket, das der Prota erhält, was hat es mit dieser Frau auf sich, über die er anscheinend nicht gerne spricht, was hat er um Mitternacht auf dem Friedhof zu suchen. Man muss es nur schmackhaft machen.

LG, Leo

Franziska

Als Leserin bin ich wohl auch eher untypisch. Ich versuche immer eine Leseprobe zu fnden, bevor ich ein Buch lese. Dabei ist aber allein der Stil ausschlaggebend. Wenn der mich abschreckt, kommt es nicht auf meine to read-Liste. Außerdem gebe ich Büchern nicht lange eine Chance. Wenn es mich nicht packt, höre ich auf zu lesen, und ich höre auch noch nach der Hälfte auf zu lesen. Ein guter Anfang erhöht die Chance enorm, dass ich weiterlese, weil man dann immer noch hofft, dass es wieder so gut wird.

Ich sehe verschiedene Möglichkeiten, anzufangen. Man kann direkt in die Handlung springen, was ich gerne mache, oder mit dem normalen Leben des Protas anfangen, bevor die Story beginnt. Es muss nicht immer etwas spannendes passieren, es kann ja allein der Charakter sein, der einen interessiert.
Und dann kann man eine Art Rahmen setzen, einen Prolog, oder eine Erzählsituation (Beispiel: Der Name des Windes).
Es kommt natürlich auch auf die Zielgruppe, das Genre und den Anspruch an, den man hat, aber ich persönlich mag es nicht, wenn am Anfang zu viel verraten wird, wenn es so beginnt, dass der Prota sich vorstellt, ich heiße soundo, komme von da und da, bin aus dem und dem Grund hier gelandet, und habe folgendes Quest zu bewältigen. Es gibt erstaunlich viele Bücher, die so anfangen, und scheint viele Leser auch nicht zu stören, weil sie vielleicht gerne wissen, was sie erwartet, aber ich frage mich dann immer, ob der Autor noch nie was von Show dont tell gehört hat. Wenn der Prota selbst über sich erzählt, vielleicht auch noch auf witzige Art geht es ja noch, aber wenn der Autor das tut, dann stört mich das. Aber zu wenig zu verraten ist wie andere auch nicht gut, weil man ja auch etwas von den Gedanken der Figuren erfahren möchte und mitfühlen, und wenn sie einem auf den ersten 30 Seiten gar nichts über sich verraten, dann weiß man auch nicht, warum man ihnen weiter folgen sollte.

Erdbeere

Zitat von: Franziska am 11. Dezember 2011, 00:19:56
Ich sehe verschiedene Möglichkeiten, anzufangen. Man kann direkt in die Handlung springen, was ich gerne mache, oder mit dem normalen Leben des Protas anfangen, bevor die Story beginnt. Es muss nicht immer etwas spannendes passieren, es kann ja allein der Charakter sein, der einen interessiert.

Ich sehe das sehr ähnlich. Allerdings lässt sich die actionreiche Handlung mit dem gewöhnlichen Alltagsleben des Protagonisten verbinden. Vielleicht ist der Prota schusselig oder kommt immer zu spät, muss durch die halbe Stadt rennen und verpasst dann seinen Zug doch noch. Oder so etwas in der Art eben. Der Leser erfährt dabei viel über die Figur, ohne es zu merken. So steige ich meistens ein und mag es auch sonst als Leserin sehr gerne.

Zu den Prologen muss ich sagen, dass ich seit Jahren kaum noch wirklich gute finde. Einmal hatte ich ein Buch in der Hand, das von der Thematik her ähnlich war die die TV-Serie Supernatural (von der ich grosser Fan bin), der Klapptext sprach mich direkt an, doch als ich die ersten paar Seiten gelesen habe, kapierte ich gar nichts. Der Stil war verwirrend, ich wusste nicht, welche der beiden Hauptfiguren nun da zu mir sprach (oder vielleicht war es doch jemand ganz anderes?) und das Schlimme daran war, dass die Handlung kurz nach dem Showdown war. So etwas will ich im Prolog nicht erfahren, schon gar nicht in solch schlechtem Geschreibsel. Ich hab das Buch dann enttäuscht beiseite gelegt.
Oder wenn am Anfang so ein Satz steht wie: "Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch lebe." Offensichtlich lebt die Hauptfigur noch, erzählt uns ihre Geschichte und mir als Leser wird vorneweg schon die grösste Spannung weggenommen, nämlich die, ob der Prota überlebt.
Prologe schrecken mich also meist ab. Es sei denn, der Prolog handelt von Ereignissen, die kurz (wirklich kurz) vor der eigentlichen Handlung stattfinden oder der Auslöser dafür sind.

Der erste Abschnitt, die ersten paar Seiten, meinetwegen auch das ganze erste Kapitel sind entscheidend für das ganze Buch. Meist gebe ich einem Buch auch ca. 30-50 Seiten lang eine Chance, wenn ich nicht gleich nach den ersten Seiten gepackt werde. Das Dilemma dabei ist, dass ein Anfang noch so toll sein kann - aber wenn das Buch dann weiter hinten einfach nachlässt und ich nur noch zu kämpfen habe, dann ist das bei mir vergebene Liebesmüh und ich ärgere mich, wieder auf einen tollen Anfang "reingefallen" zu sein und mein Geld zum Fenster rausgeschmissen zu haben. Gerade passiert bei "Die Magier von Montparnasse". Thematik top, Setting top, Klapptext und Anfang top, doch nach einem Drittel des Buches schüttelte ich nur noch den Kopf, weil ich nichts kapierte, die Figuren oberflächlich und fremd blieben und der Autor das Potenzial seines eigenen Stoffes nicht einmal annähernd ausschöpfte.
Deswegen finde ich es enorm wichtig, die Kraft eines Anfangs durch das ganze Buch zu ziehen. Es kann doch nicht sein, dass ein Autor sich nur über die ersten 50 Seiten bemüht, eine gute Geschichte abzuliefern, und es dann schleifen lässt, nur weil er sich sicher sein kann, seine Leser nun bei der Stange zu haben.

Etwas schwieriger ist es, wenn der Leser gleich am Anfang mitten in die potenziell handlungsreichste Szene geworfen wird. Ich las einmal ein Buch aus einer Krimi-Reihe, in dessen ersten kurzen Kapitel die Protagonistin an einen sehr, sehr blutigen Tatort gerufen wurde, was schreckliche Bilder aus ihrer Kindheit heraufbeschwörte. Ich fand den Anfang wirklich toll, allerdings auch nur, weil es der wohl fünfte Band war und ich die Protagonistin, das Setting, die Hintergründe bereits kannte. Band eins war da völlig anders aufgebaut, der Anfang ruhiger und als Leserin hatte ich Zeit, die Protagonistin, das Setting (spielt ca. 2032 in New York) usw. kennenzulernen und trotzdem über 350 Seiten lang am Haken zu bleiben.

Zanoni

Vielen Dank Euch allen für die Schilderung der vielen guten, anregenden Hinweise, Meinungen und persönlichen Lesevorlieben. Das war sehr interessant ... und auch lehrreich für mich.

Gut, eine einheitliche - DIE einzige ideale - Vorgehensweise haben wir zwar nicht gefunden (erfreulicherweise), aber dafür viele verschiedene Wege, wie man es machen kann, und welche Aspekte für den Leser besonders wichtig sind (auch wenn sich die meisten "normalen Leser" dessen vielleicht überhaupt nicht bewusst sind).

Und wie man welche Vorgehensweise wählt, hängt offensichtlich sehr stark von dem dramatischen Aufbau des jeweiligen Romans ab, was ja eigentlich auch logisch ist.

Ansonsten:
Es lebe die Vielfalt!  8)

Viele Grüße