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Die Aussage der Geschichte? Die *Frage* der Geschichte!

Begonnen von Farean, 08. Oktober 2012, 19:24:43

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Farean

@Churke: Ich bin immer noch nicht überzeugt, daß sich das Threadthema einfach auf die Frage "plot driven vs. character driven" herunterbrechen läßt. Unabhängig von der Schreibmethode: ein Autor, der eine Aussage transportiert, muß zwangsläufig vorher eine Frage aufwerfen, die von dieser Aussage beantwortet wird.

Beispiel LeGuin: Der Aussage "Die Anarchie ist das einzig wahre Gesellschaftsmodell" geht die Frage voraus: "Kann eine anarchische Gesellschaft funktionieren?" Solange LeGuin diese Frage offen hält, hat sie mich als Leser bei der Stange. Sobald die Frage "eindeutig" beantwortet ist, kann ich das Buch im Grunde zuklappen. Ich lese keine Geschichte, um mich hunderte von Seiten durch die Bekräftigung einer längst geklärten Aussage zu wühlen.

Churke

Zitat von: Lomax am 27. Oktober 2012, 18:53:03
Für mich laufen Geschichten nun mal gerne auf solche Fragen hinaus, und sie aufzuwerfen, finde ich letztlich spannender, als nur eine Antwort darauf darzustellen.

Das kann ich so unterschreiben. Wenngleich ich  mir nicht sicher bin, wie man in einem Roman eine Frage (ich nenne es mal These) aufstellen kann, ohne sie zu beantworten. Sowohl bei Figuren, die die These vertrten, als auch bei Handlung und Geschehensabläufen, die für die Richtigkeit der These sprechen (sollen), greift der Autor selektiv und damit manipulativ in den Prozess ein. Er zeigt dem Leser Dinge und liefert ihm Argumente, die ihn zu den vom Autor beabsichtigten Schlüssen führen sollen. Und die muss er ihm ja auch auftischen, damit der Leser sich überhaupt mit den Fragen befasst.

Zitat von: Farean am 28. Oktober 2012, 09:19:49
Beispiel LeGuin: Der Aussage "Die Anarchie ist das einzig wahre Gesellschaftsmodell" geht die Frage voraus: "Kann eine anarchische Gesellschaft funktionieren?" Solange LeGuin diese Frage offen hält, hat sie mich als Leser bei der Stange.
Mangels Kenntnis des Buches hänge ich wie gesagt etwas in der Luft. Ich habe mal auf Wikipedia geschaut. Dort liest sich die Anarchie-Begeisterung etwas anders. Nebenbei bemerkt ist das Wesentliche einer Utopie, dass sie a) ideal ist, b) funktioniert und c) total unrealistisch ist. Man könte LeGuin also attestieren, dass sie sich an die Regeln des Genres gehalten hat. Analog Platon oder Thomas Moore.



Farean

Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03
Nebenbei bemerkt ist das Wesentliche einer Utopie, dass sie a) ideal ist, b) funktioniert und c) total unrealistisch ist. Man könte LeGuin also attestieren, dass sie sich an die Regeln des Genres gehalten hat. Analog Platon oder Thomas Moore.
Stimmt, aber diese Erkenntnis hat hier nichts mit dem Thema zu tun. Es geht mir in diesem Thread nicht primär darum, LeGuin zu kritisieren, sondern ich habe ihren "Planet der Habenichtse" lediglich als Beispiel für den Konflikt "offene Frage vs. feste Aussage" gewählt.

Tatsächlich würde ich LeGuins Buch in Bezug auf die Technik "den Leser mit einer offenen Frage bei der Stange halten" sogar (fast) als Positivbeispiel werten, denn sie hält die Kernfrage, die das ganze Buch durchzieht, bis zum Schlußplädoyer des Protagonisten im letzten Kapitel (scheinbar) offen. Erst dort macht sie klar, was seiner (und meinem starken Eindruck nach auch ihrer) Ansicht nach "die" Antwort darauf ist.

Streiche das "fast" und das "scheinbar" (LeGuin arbeitet zwischendurch für meinen Geschmack extrem manipulativ), und das Buch wäre - bei identischer Schlußaussage aus Sicht des Protagonisten - gemäß meiner Anforderung "Ich will eine Frage, keine feste Aussage" perfekt.

Lomax

Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03Wenngleich ich  mir nicht sicher bin, wie man in einem Roman eine Frage (ich nenne es mal These) aufstellen kann, ohne sie zu beantworten.
Nun ja, da kann ich zumindest ein paar Beispiele liefern, auf die ich selbst gern zurückgreife ;). Eine meiner Lieblingstechniken ist dabei sicher
(1) "Der Erzähler lügt" - man stellt Geschehnisse und deren Interpretation aus der Sicht einer Figur dar, die naturgemäß von der "objektiven" Sicht oder der Sicht anderer Figuren abweichen kann. Dazu nimmt man als Autor nie "objektiv" Stellung, aber aus Inkonsistenzen in der Darstellung kann der Leser durchaus entnehmen, dass das, was da in der Geschichte aufgetischt wird, nicht unbedingt so stimmen kann. Und dann mag er darüber spekulieren, was denn "objektiv richtig" ist, oder auch nicht ... Selbst wenn ich als Autor dazu eine klare Vorstellung hatte, kommt die nicht unbedingt explizit in der Geschichte vor.
(So was habe ich beispielsweise mit der Figur des "Baskon" in den Gefährten des Zwielichts gemacht, der auf den ersten Blick für die Idee des Bösewichts steht, der durch seine "schwere Jugend" und die "Umwelt"/"Gesellschaft"/wie auch immer man es nennen will zum Bösen getrieben wurde. Baskon selbst jedenfalls lamentiert oft genug darüber. Wenn man allerdings seine Rückblicke mal genauer liest und seine eigenen "Kommentare" dabei herausfiltert, kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass er letztlich für all dieses "Unglück", dass ihm von anderen Leuten in seiner Jugend zuteil wurde, selbst verantwortlich ist, weil er damals schon dieselben Fehler gemacht hat, die ihn jetzt zu einem unausstehlichen und nervigen Bösewicht machen. Gesagt wird das explizit im Roman nicht, weil man Baskons Vergangenheit halt nur durch seine eigene Brille sieht - es wird halt nur das Konzept des "Bösewichts, der von der Gesellschaft dazu gemacht wurde" vorgestellt und in Frage gestellt, so dass der Leser darüber spekulieren kann, ohne dass das Buch eine Antwort gibt)
(2) Sympathie: Ich gehe davon aus, dass Leser Gedanken, die ihnen sympathisch sind, nicht gerne loslassen. Also setze ich Sympathien und explizite Aussagen konträr. Sprich, der Typ, der in der Handlung gegen die "These" steht, wird sympathisch gezeichnet; der Unsympath ist derjenige, der die vordergründige "Aussage" der Geschichte trägt; oder man fängt mit einer These an, der der Leser gerne folgt, und lässt sie durch eine Hölle gehen, die sie in Frage stellt ... Allein schon, weil der Leser an dem, was ihm sympathisch ist, festhalten will, sorgt man dafür, dass nicht einfach eine anderslautende Aussage in der Geschichte unhinterfragt akzeptiert wird, sondern dass der Leser die ganze Zeit nach einer anderen Antwort sucht, die Sympathie und Aussage zusammenbringt ... und wenn man die in der Geschichte nicht gibt, hat man eine offene Frage darin.
(3) Man führt die These über einen Protagonisten und seine Ziele ein, die im Laufe des Romans bestätigt werden ... wobei der Protagonist selbst aber diese Ziele im Laufe des Buches verliert bzw. einen so hohen Preis für den Erfolg zahlt, dass die Ziele und die These damit in Frage gestellt werden - obwohl der Erfolg sie ja bestätigt hat. Damit stellt sich dann auch die Frage, "ob es das wert war", und diese Frage bleibt durchaus offen, je nachdem, welche der Aussagen der Leser höher wertet - was er als Aussage zur Grundthese wertet, und was letztendlich nur als individuelles Problem des Protagonisten.

Das (und natürlich Mischformen davon), wären erst mal drei Varianten, die mir aus eigener Anwendung als erstes einfallen, um Aussagen in einem Roman aufzustellen unf sie zugleich in Frage zu stellen.
Zitat von: Churke am 29. Oktober 2012, 13:21:03Sowohl bei Figuren, die die These vertrten, als auch bei Handlung und Geschehensabläufen, die für die Richtigkeit der These sprechen (sollen), greift der Autor selektiv und damit manipulativ in den Prozess ein. Er zeigt dem Leser Dinge und liefert ihm Argumente, die ihn zu den vom Autor beabsichtigten Schlüssen führen sollen. Und die muss er ihm ja auch auftischen, damit der Leser sich überhaupt mit den Fragen befasst.
Der Autor muss zwar die These und Argumente liefern, und letztlich vielleicht auch Auflösungen anbieten. Aber es gibt im Roman mehr als genug Gelegenheit, mehrere Perspektiven auf ein und dieselbe "These" (oder Situation) vorzustellen, und sei es auch nur, dass unterschiedliche Figuren und unterschiedliche Handlungsstränge dieselbe These unabhängig voneinander und mit unterschiedlichem Ergebnis durchexerzieren.
  Natürlich gibt der Autor dabei die Argumente vor und hat möglicherweise auch eine eigene Meinung, zu der er hinmanipulieren kann. Aber ob er das als Frage tut oder als Antwort, und wie einseitig er alles auf ein Ergebnis zuführt, da besteht doch eine Menge Freiraum.

Churke

Ich sitze gerade an einer Story, in der eine Gruppe von Personen vor der Frage steht, ob sie einen Mord begehen soll, um jemanden, der ihnen nahe steht, zu retten.

Dazu kann man nun stehen wie man will. Aber ich habe die Varianten durch gespielt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es Larifari ist, wenn sie die "richtige" Entscheidung treffen und als strahlende Sieger in den Sonnenuntergang reiten. Es braucht die Katastrophe einer falschen Entscheidung, um diese Frage für den Leser überhaupt erst zuzuspitzen.