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Helden von - bis

Begonnen von Maja, 30. März 2010, 17:17:25

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Franziska

mit Richard Morgan wollte ich auch gerade kommen. Habe ich noch nicht gelesen, bin ich aber sehr  gespannt drauf. Und ich kann da Lomax ersten Post nur zustimmen. Ich lese kaum Sachen, die Bestseller sind. Ich lese mir nur die Beschreibungen durch und meistens klingt es langweilig. Klar müssen Charaktere auch Schwächen haben, um interessant zu sein. Aber wenn der Charakter nur unsympathisch ist, weiß ich nicht, warum ich über ihn lesen sollte, es sei denn die Geschichte ist wirklich interssant. Beispiel wäre da ja auch "Das Prafum". Wenn die Charaktere allerdings zu abgedreht sind, finde ich es auch schwer, mich in sie hineinzuversetzen, besonders, wenn es nicht nachvollziehbar ist, warum sie so sind. Ich denke, darauf kommt es an. Wenn man über solche Charaktere schreibt, wird man vielleicht nie einen Megabestseller haben, aber ich glaube schon, dass es dafür Leser gibt.
Ich habe das Gefühl, bei SF gibt es da noch mehr Beispiele. Besonders bei Serien. Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch Battlestar Galactica. Die Charaktere da sind einerseits Helden, aber sie haben wirklich jeder Schwächen, so dass ich mich immer mehr fragte, ob ich sie noch sympathisch finden kann. Andererseits weiß man, warum sie so handeln. Ich hoffe ja immer noch, dass das auch in der Literatur ankommt. Aber was ich mir auch vorstellen kann, dass bis auf Ausnahmen, Verlage eher vorsichtiger bei sowas sind und lieber was nehmen, was im Ausland schon erfolgreich war, genau wie bei den Fernsehserien. Der englischsprachige Markt ist viel größer, so dass man da eher die Lesergruppen findet, würde ich mal so behaupten.

Steffi

Zitat von: Lomax am 30. März 2010, 18:04:49
Aber entscheidender als die Frage, was "man" machen kann, scheint doch zu sein, wie es umgesetzt wird, ob die Mischung stimmt, ob man genau den richtigen Punkt trifft. Ich denke mir, wichtiger für den Publikumserfolg als die Grundsatzentscheidung, ob man einen glatten Helden oder einen miesen Unsympathling als Hauptfigur nimmt, ist am Ende vermutlich, ob man es schafft, genau den miesen Unsympathling zu charakterisieren, der den Lesern gefällt, die miese Unsympathlinge mögen - denn da kann man durchaus immer noch falsch liegen, selbst wenn man prinzipiell ein Publikum hätte.

Das ist ein wenig so wie beim Kochen: Es hilft nicht viel, die Gäste vorher zu fragen, ob sie es gerne scharf mögen. Wenn alle "Ja" rufen, und man kocht sein Essen scharf, mag es vielleicht hinterher trotzdem keiner, wenn man nicht genau das richtige Maß an Schärfe gefunden hat.

Das denke ich auch.  Am Beispiel Fernsehen sehen wir doch, dass ein Unsympathieträger in der Hauptrolle durchaus funktioniert, wenn er als Figur dabei so menschlich geschrieben ist, dass er das Publikum trotzdem anspricht. Serien wie "Dexter", "House" und "The Tudors" laufen durchweg alle sehr erfolgreich und sind trotz oder gerade auch wegen des "Arschlochs" in der Hauptrolle massentauglich. "Criminal Minds" schafft es immer wieder, dass der Zuschauer in manchen Fällen tatsächlich halb dem Serienkiller wünscht, er möge nicht geschnappt werden.

"Der Name des Windes" (Patrick Rothfuss) und die Deepgate Chronicles (Alan Campbell) haben übrigens beide Figuren mit seelischen Knacksen--bei Deepgate finde ich es schon ziemlich extrem--und laufen trotzdem gut. Es ist also nicht so, dass so etwas nicht gelesen wird. Aber zwischen "völlig trostlos mit Figuren, die  depressiv und kaputt durch die Welt schlufen" und "großer starker Held mit ganz ohne Profil" gibt es noch eine ganze Menge Zwischentöne, die man ausloten kann.
Sic parvis magna

Kuddel

Mir sagte mal eine Lektorin, dass ich meine Figur einzigartig machen sollte. Der Leser muss sich in ihr verfangen. Am besten eine skurile Eigenschaft, ein merkwürdiges Hobby oder einfach ein Wesenszug, der sie ständig in Schwierigkeiten bringt.

Ich denke, dass die meisten Fantasy-Leser aktuell stark von dem Überhelden Edward geblendet sind. Daher gibt es auch so viele von den One-Hit-Helden. Kein Tiefgang, keine Ecken oder wenn, dann so, dass man sich nicht daran schneidet. Kaum ein Hauptcharakter aus den heutigen Bestsellerlisten hat wirklich viel Tiefgang. Diejenigen, die aber schon lange vorher Fans des Genres waren, die sympathisieren mit Charakteren, die Tiefgang haben. Protas, die den Leser schmunzeln lassen und in der nächsten Sekunde von seinem Verhalten überrascht werden. Und ich denke, dass ist es, was sich langfristig durchsetzen wird. Die Leser wollen schließlich berührt werden. Mit dem Helden lachen und weinen. Das klappt nicht, wenn der Typ/die Typine absolut blass gezeichnet ist.
The first draft of everything is shit - Ernest Hemingway

Judith

Hm, schwierig zu beantworten.
Ich mag interessante Charaktere, ich mag es auch, wenn sie seelische Abgründe haben und sie dürfen auch ungewöhnlich sein. Aber ich muss mich schon in sie reinversetzen können. Wenn sie zu "extrem" sind, dann tu ich mir schwer mit ihnen. Das heißt nicht, dass ich weichgespülte Sonnenscheinchen möchte.  ;)
Aber ich nehm als Beispiel mal Gormenghast: Die Charaktere sind herrlich schräg, der Stil ist klasse, aber teilweise hat mir darin einfach eine Identifikationsfigur gefehlt.

Allerdings wurden hier auch viele Charaktere als Beispiele genannt, die ich alle überhaupt nicht als "extrem" empfinde. Battlestar Galactica etwa - da kann ich mich in alle gut reinversetzen und das sind für mich alle "normale" Menschen wie du und ich - mit Stärken, Schwächen und Fehlern. Dann "Der Name des Windes" - Kvothe ist für mich ein klassischer (tragischer) Held, manchmal fast ein Alleskönner, aber dennoch nicht ohne Schwächen.

Maja

Als ich Gormenghast zum ersten Mal gelesen habe, mit siebzehn, habe ich eine Identifikationsfigur darin gesucht und war ziemlich verloren. Meine Figuren, und ich selbst, haben sich erst mit der Zeit gewandelt. Heute ist Gormenghast für mich die Gallionsfigur, das Aushängeschild für den Wald aus menschlichen Abgründen, in dem ich mich heute als Mensch, Autor und Leser bewege. Wovor mir graust, ist, wo ich in zehn Jahren stehen werde...
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

caity

Hallo Maja,

Identifikationsfiguren? - Schwierig. Ich denke das Problem ist, der Otto-normal-Leser ist kein Autor, sondern einE gestressteR ArbeiterIn oder einE gestressteR Hausfrau/mann (oder beides  ;D), der/die nach einem anstrengenden Tag abends auspannen will. Was liest man dann am liebsten? - Nicht unbedingt eine Geschichte, in der die Identifikationspersonen psychisch am Abgrund stehen.
Das heißt aber imho nicht, dass es für solche Protagonisten nicht auch Lesergruppen gibt. Nur ist das nicht der Mainstream, sondern die Randgruppen. Ich persönlich muss sagen: zu extrem kann ich es meist auch nicht brauchen. Zumal ich kein Vielleser bin. Zu flach gefällt mir allerdings ebenfalls nicht. (Bestes Beispiel: Groschenromane, bah!) Protagonisten müssen Schwächen haben und nicht nur Schwächen um der Schwäche willen, sondern Schwächen, die sie "menschlich" machen.
Meine bescheidene Meinung. Manche Leser brauchen nicht einmal das. Im Gegenteil, oft sehnen sie sich nach einer Figur, in die man sich flüchten kann und die gerade die eigenen Schwächen nicht hat: stark, schön, bewundernswert ist. Nicht viele Menschen flüchten sich gerne in gestörte Persönlichkeiten. Ich fürchte, das wird dein Problem sein ...

Bye
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Kerimaya

Ich würde die Frage gar nicht so sehr pauschalisieren. Mir als Leser ist es ersteinmal egal, was für eine Art Charakter mir der Autor präsentiert, solange er es nur schafft, ihn glaubwürdig und nachvollziehbar darzustellen. Und vor allem, muss der Charakter sich entwickeln - ich will wissen, wie es mit ihm weitergeht, egal, wie sympathisch oder unsympathisch er mir auch ist (entweder wünsche ich ihm dann ein happy End oder will aus vollkommen egoistischen Gründen sehen, wie der Charakter so richtig schön auf die Nase fällt...)

Lomax

Zitat von: Kuddel am 30. März 2010, 22:53:10Mir sagte mal eine Lektorin, dass ich meine Figur einzigartig machen sollte. Der Leser muss sich in ihr verfangen. Am besten eine skurile Eigenschaft, ein merkwürdiges Hobby oder einfach ein Wesenszug, der sie ständig in Schwierigkeiten bringt.
Ein Freibrief für schwierige Figuren ist diese Vorgabe allerdings nicht. Eine auffällige Eigenart, die den Charakter nicht beschädigt, eine kleine Schwäche, die aber nicht wirklich behindert, bei einem ansonsten makellosen Helden - das ist die typische Blaupause für die üblichen glatten Figuren. Damit sind nicht zwangsläufig dreidimensionale Figuren gemeint, sondern eher ein paar zackige Kanten für den Scherenschnitt, nicht damit er Tiefe gewinnt, sondern damit er mehr auffällt.
  Ein wenig so wie Bella in "Biss" mit ihrer "Ungeschicklichkeit". Schon die Formulierung "merkwürdiges Hobby" deutet ja darauf hin, dass damit eher Kosmetik gemeint war als eine tiefer gehende Charaktereigenschaft.
  Ich würde diese Lektorenaussage also nicht zu weit interpretieren, weil ich nichts darin sehe, was nicht auch bei "simpel gestrickten" Romanfiguren Standard wäre.

Darkstar

Kerimaya hat einen guten Punkt genannt mit dem Weiterentwickeln. Kurz gesagt: Wenn die Hauptfigur über den Verlauf einer Geschichte / eines Romans im übertragenen Sinn nichts "dazu lernt", dann fesselt mich dessen Story auch nicht (meist).

Ich lese sowohl Romane, die Bestseller sind (und oft gefallen sie mir sehr gut, manchmal auch gar nicht: Kvothe aus "Der Name des Windes" hat mir zum Beispiel gar nicht gefallen, den - und das Buch - fand ich sehr enttäuschend. Und Kvothe ist aus meiner Sicht auch überhaupt keine schwierige Figur, wie sie Maja meinte. Er ist eher das Abziehbild des typischen Helden) als auch Nischen-Romane. Beides ist legitim, und ich muss mal in aller Deutlichkeit sagen, dass ein Buch nicht schlecht sein muss, nur weil es den Massengeschmack bedient. Da spielen schon andere Kriterien auch eine Rolle, denke ich ,-)

Außerdem fällt mir auf, um den Bogen zu bekommen, dass es oft nicht unbedingt die Figuren sind, die einen Nischen-Roman von einem Bestseller-Roman unterscheiden. Will heißen: Ein Charakter kann auch in Mainstream-Romanen sehr schräg sein, wenn die Story stimmt und diese die Masse anspricht.

Wo ich vorsichtig wäre ist zu behaupten, dass sich die Regeln, die für einen Serien-Charakter gelten, 1:1 auf Romane übertragen lassen. Die haben einfach eine andere Erzählweise. Das muss nicht zwangsläufig in einem Buch funktionieren, eher im Gegenteil. (Außer natürlich, man schreibt einen Roman mit eben so vielen Point of View-Charakteren wie in einer Serie, so wie das George R. R. Martin macht ...)

Was mir immer gut gefallen hat, ist auch bekannte Stoffe aus der Sicht des eigentlichen Bösewichts zu erzählen und diesen in der eigenen Story zum Helden zu machen (z. B. Morgan le Fay als Morgaine in "Die Nebel von Avalon" oder Elphaba in Gregory Maguires "Wicked"). Ist das nicht auch ein Weg, einen Helden mit mehr Ecken und Kanten zu entwickeln?

Um aber zu Majas Eingangspost zurückzukommen: Ich glaube, durchschnittliche, normale Helden interessieren niemanden.
(Bella funktioniert nur, weil sie praktisch eine weiße Leinwand für den Leser / die Leserin ist, und die Figuren, die um sie herum sind, alles andere als durchschnittlich sind - jedenfalls für den 0815-Leser, der noch nicht zig phantastische Romane gelesen hat). Das ist ein Trugschluß. Wenn man selbst den Helden langweilig findet, finden den mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Leser zum Gähnen langweilig.

Ich habe aber auch das Gefühl, wir reden leicht an Majas originärer Frage vorbei. Wobei ich nicht ganz sicher bin, ob ich Maja ganz richtig verstanden habe: Welche Fantasy-Helden, von denen du in den letzten Jahren gelesen hast, fandest du denn langweilig??

Und vielleicht sollten wir auch ein paar Helden posten, die wir als gar nicht langweilig, weil anders hier nennen?

Mir persönlich gut gefallen haben z. B.

- Tamír / Tobin aus Lynn Flewellings Trilogie, die mit "Der verwunschene Zwilling" beginnt
- bei George R. R. Martin gefallen mir vor allem (mittlerweile) Sansa, weil die sich so toll weiterentwickelt und Cersei (weil die so richtig schön am Rad dreht).
- Mercy Thompson von Patricia Briggs
- Buffy Summers und Willow Rosenberg von Joss Whedon (zugegeben, eine Serie, aber phantastische Charakterentwicklungen!)

Maran

Was Buffy anbelangt, wäre noch Spike zu nennen. Der Charakter und seine Entwicklung haben mir sehr gefallen.

FeeamPC

Gut wie böse- interessant sind immer die, die kein Durchschnitt sind, deren Verhalten uns überrascht. Ein geradlienig guter Held ohne Ecken und Kanten ist meist so stereotyp, daß sein Verhalten vorhersehbar ist und das Buch damit langweilig wird. Und ich hasse langweilige Bücher. Also: her mit den Helden mit Macken!

Maja

Charaktere, die mich in der letzten Zeit durch ihre Eindimensionalität gelangweilt haben, waren, neben einem sehr kurzem Versuch, "Twilight" zu lesen, zum Beispiel in Trudy Canavans "Black Magicians Guild", aber auch viele von den Figuren bei Harry Potter - gut geschrieben, aber in meinen Augen flach, stereotyp und allzu schwarz-weiß. Mit dem "Herrn der Ringe" geht es mir ähnlich, auch wenn das jetzt keine aktuelle Literatur ist. Bei vielem komme ich schon über den Klappentext nicht hinaus, das zählt also nicht. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, immer wenn was erfolgreich ist, liegt das an der Eindimensionalität der Figuren und ihrer allzu großen Beliebigkeit - die erwähnte weiße Leinwand, auf die der Leser sich selbst projizieren kann. Ich will nicht mit jedem Buch ein neues Gormenghast entdecken, aber irgendwie fühle ich mich mit dem, was ich mache, auf verlorenem Posten...
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

thewingedshadow

Hm...
Ich mag schwierige Charaktere.
Liegt vermutlich daran, dass ich selbst einer bin und beim Lesen dann das Gefühl habe - "Hm, da bin ich ja nicht alleine".
Ich mag innere Konflikte. Ja, und Drama. Ich mag Charaktere, die in gewissen Dingen unfähig oder tollpatschig sind. Ich hasse allwissende, alleskönnende Leute. Und auch solche, die vorgeben, alles zu wissen und alles zu können. Die hasse ich auch iRL. Ich mag Charaktere, über die man nicht alles weiß. Die einen sogar am Ende der Geschichte so richtig überraschen können.
Und ich mag Schwule. Lesben eher weniger, irgendwie sind sie bei mir so abgedroschen, vor allem durch meine Rollenspieleskapaden. Wie viele Kerle hab ich da kennengelernt die schlecht gespielte Lesben als Chars haben... aber ich schweife ab.
Kurz, ich mag dein Konzept, Maja.

Judith

#28
Was ich hier aber jetzt mal einwerfen möchte: Maja, du hast im ersten Post von Charakteren geschrieben, die auf irgendeine Weise "extrem" sind und die Leser vielleicht auch abstoßen. Bei der Diskussion geht es aber (teilweise) allmählich in die Richtung, dass alle Charaktere, die keine Psychopathen mit seelischen Abgründen (entschuldigung, ich drücke es mal überspitzt aus) gleich eindimensionale, flache Alleskönner sind.

Aber ich würde hier schon gern differenzieren: Auf der einen Seite gibt es stereotype, eindimensionale Charaktere und auf der anderen Seite vielschichtige, interessante. Das hat aber erst einmal nichts damit zu tun, ob jemand nett oder unfreundlich ist. Man kann auch "normale" Charaktere interessant und vielschichtig gestalten. Eine Figur kann ein Sympathieträger sein, ohne deshalb gleich ein fades Klischee zu sein.

Wenn es nun um die Diskussion geht, ob ein Charakter interessant und ungewöhnlich oder eindimensional und perfekt sein soll - okay, ich glaube, da sind wir uns alle einig.
Aber ich denke, dass Maja hier einen Schritt weiter gehen wollte und es nicht einfach nur darum geht, ob man Lesern auch vielschichtige Charaktere zumuten kann. Oder habe ich dich falsch verstanden?

Lomax

Zitat von: Maja am 31. März 2010, 19:39:10Aber irgendwie habe ich das Gefühl, immer wenn was erfolgreich ist, liegt das an der Eindimensionalität der Figuren und ihrer allzu großen Beliebigkeit
Ich greife mal Judiths Gedanken auf und denke, man muss abkommen von dem Versuch, eine künstliche Polarität zwischen "eindimensional, beliebig, platt" auf der einen und "abgründig, vielschichtig, differenziert" auf der anderen aufzubauen. Denn das Feld der Figurenentwicklung ist weiter als das.
  Zum einen gehen "eindimensional" und "beliebig" nicht automatisch in dieselbe Schublade. Viele Figuren haben sehr ausgeprägte Kanten, sind alles andere als beliebig und taugen wenig als Projektionsfläche - sind dabei aber zugleich ganz besonders eindimensional, auf eine einzige oder wenige Auffälligkeiten reduziert, keine vielschichtigen Persönlichkeiten, sondern vielmehr die Verkörperung ihrer Besonderheit oder ihre Macke.
  Umgekehrt wirken gerade viele vielschichtige Figuren auf den ersten Blick flach, weil sie eben keine aufdringliche Besonderheit haben, nicht durch einen einzigen, alles beherrschenden und oft künstlich wirkenden Charakterzug bestimmt werden. Sie sind dann halt eher so wie Menschen im wirklichen Leben: Um sie wirklich kennen zu lernen, braucht man eine Weile. Dann mögen sie auch ihre typischen Besonderheiten zeigen, oder sogar abgründige "Kanten", die nicht so an der Oberfläche liegen. Aber viele Leser verlieren schon vorher die Geduld, oder schauen gar nicht auf subtile und komplexe Charakterzüge, so dass auf manche Leser manche Figur "beliebig" wirkt, die bei näherer Betrachtung einfach nur so komplex ist, dass dem Leser die Besonderheiten nicht gleich mit dem Knüppel ins Gesicht gehauen werden.
  Insofern wird es auch problematisch, diese Punkte als Qualitätskriterium zu entwickeln - gerade weil es keine klaren Pole zwischen gut und schlecht gibt, sondern man auffällige, subtile und gesichtslose, platte wie differenzierte, Figuren mit Abgründen und auch positive Gestalten jeweils gleichermaßen gut oder schlecht ausführen kann. Da mag es die unauffällige Figur mit fein gezeichnetem Charakter neben dem platten kantigen Prota geben, dessen "Tiefe" nur in einem Küchenpsychologischem Knacks besteht; umgekehrt kann der unauffällige Charakter tatsächlich ein weißes Laken sein, während ein Kantiger Prota mit alles beherrschendem Trauma eben auch sorgfältig gezeichnet und folgerichtig auftreten kann.
  Bei der Figurenzeichnung gibt es ein so breites Kontinuum an Möglichkeiten, dass die Reduktion auf zwei scheinbar auffällige Gegensätze selbst schon wieder zu "platt" ist ;) Und ich will jetzt nicht entscheiden, welche Variante besser ist. Ich mag menschliche Figuren, gerne auch mit Abgründen - aber auch dramaturgisch reduzierte Gestalten haben ihre Vorteile, und oft ist es sinnvoll, in ein und derselben Geschichte an unterschiedlichen Positionen seine Figuren nach ganz unterschiedlichen Paradigmen zu zeichnen.

In der Tat würde ich zustimmen, dass gerade die erfolgreichsten Romanen oft eher einfache und vor allem eingängige Figuren aufweisen - das müssen allerdings nicht immer austauschbare Gestalten sein, sondern sind oft sehr markante, wenn auch reduzierte Gestalten. Neben den Projektionsflächen, oder den strahlenden Helden, die ebenfalls vorkommen. Da gibt es also schon ein breites Repertoire an möglichen Protagonisten - aber es sind eben selten "schwierige" oder "abgründige" oder allzu "vielschichtige" Figuren. Selten, aber doch dann und wann irgendwie ...
  Wenn ich dich richtig verstehe, Maja, würde ich in der Diskussion nicht alles in einen Topf werfen wollen und Eigenschaften wie "Markant/Vielschichtig/Psychologisch gestört" nicht als Bündel betrachten, sondern jeweils getrennt. Und ich habe das Gefühl, die Eigenschaft aus dem Bündel, um die es dir eigentlich geht, ist "beschädigt": Gibt es einen Markt für Geschichten mit "beschädigten" Figuren?
  Und, wohlgemerkt, man kann komplexe, vielschichte Figuren durchaus auch unbeschädigt anlegen, genau wie letztlich die Ausgestaltung darüber entscheidet, ob die beschädigten Figuren tatsächlich Tiefe haben, und das eine kommt nicht automatisch mit dem anderen. Wenn ich deine Beispiele allerdings anschaue, habe ich den Eindruck, dass gerade die "Beschädigung" das verbindende Element in deiner Anfrage ist und der Rest hier in der Diskussion erst mal nur Störfaktoren.
  Und da wird die Frage auch wirklich schwierig, denn die meisten erfolgreichen Romane haben eben das nicht, oder nicht als Protagonist: beschädigte Helden. Aber, wie gesagt, manche eben doch. Und dann kommt es auf die Ausgestaltung an.
  Ich denke, als anschaulichstes Beispiel für das Gesamtproblem taugt zunächst mal dein schwuler Krieger. Eine solche Figur würde gewiss von vielen potentiellen Lesern als beschädigte Figur angesehen - von manchen allerdings wiederum nicht. Darkstar hat das in seinem Kommentar ja treffend illustriert ;) Du würdest damit also möglicherweise Leser abschrecken, während andere nicht mal ein Problem dabei bemerken oder die potentielle Beschädigung eines Charakters vielleicht gerade als Vorzug wahrnehmen. Die "Beschädigung" einer Figur ist also nicht absolut, sondern liegt vor allem im Auge des Betrachters - und manche "Beschädigungen", die du einer Figur verleihen kannst, sind exkludierender als andere und beeinflussen damit den potenziellen Markterfolg stärker. Wenn du Figuren also mit problematischen Eigenschaften anlegst, ist die Wahrnehmung dieser "Beschädigung" ein Faktor.
  Ein anderer ist die Ausgestaltung. Was beispielsweise machst du mit einem schwulen Krieger? Du kannst ihn ganz klischeehaft anlegen, als "typischen" maskulinen Schwulen, der mit ölglänzenden Muskeln dem Körperkult frönt. Was schon zeigt, dass die "besondere" Eigenschaft an sich noch lange nicht vor platten Figuren schützt. Oder du kannst den schwulen Krieger bewusst so anlegen, dass du den Kontrast zwischen dem im Krieger verkörperten Männlichkeitsideal und dem Schwulsein ausspielst. Auch das Letztere kann platt sein, aber sind schon mal zwei völlig unterschiedliche Wirkungen, die sich aus der Eigenschaft "schwul" ergeben. Oder du fängst an zu problematisieren und stellst den schwulen Krieger in einen Kontext, der die Figur dazu zwingt, sich mit ihrer Eigenschaft auseinanderzusetzen; du kannst gesellschaftliche Reaktionen in der Geschichte zeigen, oder Fragen der Identität deiner Figur behandeln. Aus der Grundkonstellation "schwuler Krieger" ergeben sich also unzählige Möglichkeiten, wie die Figur in der Geschichte wirkt - und für jede dieser Möglichkeiten gibt es potenzielle Leser, die genau an so was Spaß hätten, nur dürften es jeweils sehr unterschiedliche Leser sein.
  Gerade darum macht es wenig Sinn, sich vorher zu fragen: "Wollen die Leser einen schwulen Krieger"? Entscheidend dafür ist, wie dieser Krieger in deiner Geschichte auftritt, und dann kannst du versuchen zu eruieren, ob es genau für diese Art von schwulem Krieger eine hinreichende Zielgruppe gibt. Und mit jedem (problematischen) Element, das hinzukommt, verschiebt sich das Problem, denn für jedes dieser Elemente musst du dir dieselbe Frage stellen und dann die Schnittmenge der Leser überlegen, die an der gesamten Mischung noch Gefallen finden. Womit die Probleme dann erst anfangen.
  Nehmen wir an, du gestaltest deinen schwulen Krieger so, dass du die maximale Lesergruppe für diese Art Charakter ansprichst. Und dann deinen psychopathischen Prinzen so, dass du die maximale Leserzahl ansprichst, die prinzipiell psychopathische Figuren spannend finden können. Man sollte meinen, diese Maximierung potenzieller Zielgruppen bringt den optimalen Gesamterfolg - muss aber nicht sein, wenn du mit deinem Krieger genau die Leser ansprichst, die dein Psychopath abstößt, und umgekehrt. Unter Umständen hättest du dann also womöglich mehr Leser, wenn du du beide Figuren so anlegst, dass sie jeweils weniger Leser ansprechen, aber beide in derselben Zielgruppe wirken.
  Es ist also vor allem die gesamte Geschichte, die für möglichst viele Leser stimmig wirken muss, in der Gesamtkomposition, damit sie es lesen wollen. Und das wird natürlich umso schwerer, je mehr du dich von gesicherten Mustern entferntst und je mehr "Special Interest"-Themen und -Figuren du in dein Buch packst. Die erfolgreichen Romane mit ihren eher einfachen Figuren profitieren halt vor allem auch von dem Vorteil, dass sie wenige "starke" Elemente darin haben, die große Lesergruppen abschrecken können, so dass sie sich darauf konzentrieren können, einzelne Lesergruppen zu akkumulieren, indem sie "auch für diese Zielgruppe" etwas hinzunehmen - ohne befürchten zu müssen, mit diesen eher schwach wirksamen Standardelementen irgendwelche Leser wieder zu vergraulen, die sie mit anderen Ingredienzien mühsam gewonnen haben.

Darum würde ich sagen, es ist einfacher, mit einfachen, "glatten" Figuren und nur maßvollen Beschädigungen einen großen Leserkreis zu gewinnen. Je weiter man sich davon entfernt, umso mehr wird es eine Frage der sorgfältigsten Komposition. Ich denke daher, die Frage, die sich dir stellen sollte, ist nicht die einer "Einsamkeit" oder des "Stehens auf verlorenem Posten", sondern letztendlich eine nüchtern "Handwerkliche": wie intuitiv kann man mit so einer problematischen und komplexen Komposition noch den Nerv einer hinreichend großen Lesergruppe treffen?
  Ob du bei dieser "intrikaten" Aufgabe auf "verlorenem Posten" stehst und besser daran tätest, dich zurückzunehmen, wenn du deine Leser nicht verschrecken willst, das kannst du selten daran ablesen, was für fremde Bücher gut ankommen. Denn kein anderer Autor komponiert genau dasselbe Werk wie du. Den Referenzwerken kannst du nur gewisse Tendenzen entnehmen (und, klar, dass du dich eher vom Massenmarkt entfernst, wenn du da zu weit gehst). Aber wie viel Gesellschaft du mit deinen persönlichen Vorlieben unter den anderen Lesern hast, siehst du halt erst, wenn dein persönliches Buch am Markt ist.
  Ich würde also empfehlen, schau dir Referenzwerke an, verorte dich dazwischen, schau vor allem auf die Autoren, die deinem Ideal zumindest nahe kommen, und orientiere dich daran, wie viele Leser die an sich binden konnten, und wie sie das (womöglich) geschafft haben. Aber betrachte das nur als empirisches Lehrmaterial und nimm es nicht persönlich und lass dich vor allem nicht entmutigen, wenn du jede Menge Leser siehst oder zu sehen glaubst, die was anderes wollen.
  Denk immer dran: Es gibt Millionen Leser allein in Deutschland, und selbst der erfolgreichste Bestsellerautor hat eine Majorität von Lesern gegen sich, die nichts mit seinen Werken anfangen können. Es lohnt sich also nicht, auf die Masse derer zu schauen, für die man eh nicht schreibt - konzentrier dich auf die Leser, die du erreichen kannst, und versuche, davon genug zusammenzukriegen. Und den Rest nimmt man dann einfach hin  8) (<-Ersatz für den fehlenden Scheuklappensmiley)