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Alltagsgeschehen beschreiben oder weglassen?

Begonnen von Luciel, 30. Juli 2010, 13:27:51

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heroine

#45
Nun Muster dienen ja nur zur Hilfestellung. Also man kann sich dran halten oder auch nicht, wenn es einem nicht gefällt. Manche gehen auch "spät rein", das bedeutet fangen genau an dem Punkt an, an dem der Alltag aufhört und die Geschichte beginnt. Was man persönlich mag ist eben Geschmacksache und individuell.

Tabus bei Alltag fallen mir jetzt eigentlich nicht ein; Periode, Toilette, Krankheiten etc. Der Leser weiß ja nach einer Weile, was ihn bei einem Autor erwartet und was nicht. Entsprechend, wird er Bücher, bei denen er 'enttäuscht' wurde durch zu viel oder zu wenig oder zu detailierten Alltag beiseite legen oder gar nicht erst kaufen. Von daher sehe ich auch keinen Grund etwas raus zu nehmen, weil man es halt nicht tut. Man muss nur einfach mit den Konsequenzen leben können.

Ich persönlich finde aber auch, dass Alltag einige sehr nützliche Eigenschaften fürs Schreiben hat.

Zum einen: Geschwindigkeit. Man kann Geschwindigkeit reduzieren, in dem man Alltag rein packt. Es geht alles Schlag auf Schlag. Erst stirbt die Oma, dann geht die Welt unter, dann droht die Hölle zu frieren. Ohne ein bisschen wohldosierten Alltag für "Erholungspausen" sowohl für den Protagonisten als auch für den Leser, kann das sehr schnell anstrengend werden.

Wie schon oft erwähnt: Es liefert Kontext. Nirgends zeigt sich der Charakter so schön, wie in Alltagssituationen in denen er nicht ganz alltäglich reagiert (aber für ihn selbst total normal). Beispielsweise der Charakter, der nur zu Hause aufs Klo geht. Oder jemand der beim Einkaufen immer alle Inhaltsanagaben liest oder nur blaue Verpackungen einpackt. Oder jemand der beim Lesen, die Buchseiten rausreißt: wenn er es beim ersten Mal nicht auswendig kann, dann verdient er es nicht nochmal nachlesen zu dürfen.

Desweiteren: Es macht Situationen lebendiger. Man kann die Diskussion ob man nun gegen den bösen Tyrannen mit Wattebällchen oder mit einem Attentat angehen möchte einerseits in einem sterilen Umfeld führen oder während man kocht. Wenn beide in der Kirche stehen, dann zupft der eine sich am Ärmel. Wenn sie Gemüse schneiden, dann fuchtelt die andere vielleicht mit dem Messer durch die Luft.

Und weiterhin kann sich in Alltagssituationen auch die Entwicklung eines Charakters gut zeigen. Am Anfang hat er sich unwohl gefühlt alleine zum Supermarkt zu gehen, gegen Ende isst er in seelenruhe einen Apfel auf dem nächtlichen Friedhof und plaudert mit einem Zombie über gesunde Ernährung.

Natürlich gibt es noch unzählige weitere Einsatzmöglichkeiten. Ich finde wie schon so oft gesagt: Es ist wichtig, dass man weiß, wieso man Alltag benutzt und dass es eben zur Geschichte passt und eben so wichtig: zum persönlichen Stil.

Aphelion

Eine wichtige Funktion, die zumindest explizit noch nicht angesprochen wurde, sind Pausen. In diesem Punkt unterscheiden sich Mainstream-Filme mMn deutlich von Büchern. Ein Buch hat keinen so strikten Zeitplan.

Eine Pause für den Protagonisten kann durchaus relevant sein, auch wenn nichts passiert - weil genau das der Punkt ist: Es passiert nichts, der Prota darf mal durchatmen und er selbst sein. (Da sind wir wieder bei der Charakterisierung, die bereits angesprochen wurde.) Aber auch der Leser darf mal durchatmen, den Adrenalinspiegel runterkommen lassen und sich auf die nächste Schlacht, Strategiebesprechung oder den nächsten wichtigen Hinweis zu freuen.

Solche Pausen können paradoxerweise dabei helfen, die Spannungskurve zu halten, weil sie Vorfreude auf die nächste Überraschung oder die nächste Actionszene ermöglichen. Und die Vorfreude ist manchmal genau so schön.

Darüber hinaus können "banale" Szenen auch als Kontrast dienen.

Noch etwas ganz Anderes: Ich würde grundsätzlich zwischen Szenen unterscheiden, die für Leser potenziell eklig oder mit Tabus verbunden sind (Toilette, en détail), und solchen, die wirklich nur banal sind (Marmeladenbrot schmieren). Erstere haben immer noch eine weitere, gesellschaftliche Funktion – selbst wenn es nur um Provokation geht.

heroine

@Aphelion
Ich fühle mich gerade ein klein bisschen ignoriert oder ich verstehe dich falsch. Ich hab direkt im Posting vor dir die Geschwindigkeit angesprochen. Was macht da denn Unterschied zu den Pausen, die noch nicht auf dem Tisch waren?

Aphelion

#48
Pausen sind für mich schon etwas anderes als unterschiedliche Tempi, insofern habe ich dich nicht ignoriert. ;)

Eine Pause... ist eine Pause. Bei langsamem Tempo geht es immer noch vorwärts.

Abgesehen davon habe ich noch andere Aspekte und Begründungen angesprochen, insofern könnte ich mich nun ebenfalls ignoriert fühlen. :P (Tu ich aber nicht, keine Sorge. *g*)

heroine

Bin ich froh, dass man so offen über Gefühle reden kann. :vibes: Aber gut, dann hab ich den Unterschied auch begriffen und bin deiner Meinung: Pausen sind auch wichtig.

AlpakaAlex

Oh. Ein Thema zu einem Pet Peeve von mir. Das ist schön.

Nein, mein Pet Peeve ist nicht das Vorhandensein von Alltagsszenen, sondern das Fehlen von Alltagsszenen. Für mich sind Alltagsszenen wichtig und ich bin schnell frustriert von Büchern, in denen es keinen Alltag gibt - umso mehr, wenn es Fantastik oder generell spekulative Fiktion ist.

Ich finde Alltag ist wichtig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Charaktere normal handeln, ohne dass ihr Leben gerade gefährdet ist und ohne dass sonst etwas ungewöhnliches passiert. Es hilft Charaktereigenheiten ein bisschen deutlicher hervor zu rufen und, wie @heroine auch schreibt, das Tempo rauszunehmen und damit gleichzeitig Verschnaufspause, als auch Grundlage für Spannung zu geben.

Alltag war für mich von den zarten Schreibanfängen an schon immer ein wichtiges Thema. Nicht zuletzt da mein großes Schreib-Idol (ein japanischer Autor) halt sehr viel auf Alltag gab und in seinen Geschichten viel Wert darauf legte, das soziale Umfeld der Charaktere, aber auch die Welt durch alltägliche Handlungen deutlicher aufzubauen.

Das letztere ist etwas, was mir gerade bei Fantasy allerdings oft fehlt: Der Alltag in einer anderen Welt und wie sich dieser von unserer unterscheidet. Gerade bei epischen Fantasygeschichten bin ich oft schon frustriert gewesen, dass es in der Welt offenbar nur Abenteurer, Ritter und Söldner gibt, aber keinen einzigen Bauern oder Fischer. Irgendein bekannter Fantasyautor (ich weiß partout nicht mehr wer) hatte es schön ausgedrückt: "Viele Fantasywelten sind nur dazu da, darin Abenteuer zu erleben, aber niemand kann in ihnen einfach nur leben." (Kein direktes Zitat, aber etwa der Inhalt.) Und ja, das ist eine Sache, die mich halt stört.

Insofern: Meine Geschichten haben meistens recht viel Alltagsszenen gemeinsam, in denen die Charaktere einfach Charaktere sind, ihre Beziehungen zueinander entwickeln und zurück zu sich selbst finden können, nachdem sie schlimmes erlebt haben.
 

Antennenwels

Ich liebe Alltagsszenen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals ein Buch weggelegt hätte, weil es mir zu langweilig war. Wie @Aphelion schon schrieb, finde ich ist es wichtig das Geschichten immer wieder Verschnaufpausen haben, in denen die Charaktere mehr oder weniger ihrem normalen Alltag nachgehen (auch wenn der vielleicht ganz anders aussieht, als sie es gewohnt waren, da sie unterwegs, oder an einem neuen Ort sind). Solche Momente der Ruhe sind nicht nur ausgezeichnet um die Charaktere kennen zu lernen und die Beziehungen zwischen ihnen zu entwickeln, sondern vor allem auch um zu sehen, wie sie mit all dem was zwischen den ruhigeren Szenen geschieht, umgehen. Vor allem in der Urbanfantasy sehe ich manchmal die Tendenz, dass sich eine Action-scene an die andere reiht und den Charakteren gar keine Zeit gegeben wird diese Geschehnisse zu verarbeiten.

Zitat von: NelaNequin am 30. Januar 2019, 11:32:59
Das letztere ist etwas, was mir gerade bei Fantasy allerdings oft fehlt: Der Alltag in einer anderen Welt und wie sich dieser von unserer unterscheidet. Gerade bei epischen Fantasygeschichten bin ich oft schon frustriert gewesen, dass es in der Welt offenbar nur Abenteurer, Ritter und Söldner gibt, aber keinen einzigen Bauern oder Fischer. Irgendein bekannter Fantasyautor (ich weiß partout nicht mehr wer) hatte es schön ausgedrückt: "Viele Fantasywelten sind nur dazu da, darin Abenteuer zu erleben, aber niemand kann in ihnen einfach nur leben." (Kein direktes Zitat, aber etwa der Inhalt.) Und ja, das ist eine Sache, die mich halt stört.

Ich würde mir auch mehr Alltagsszenen in High fantasy wünschen, aber vielleicht hat es auch ein wenig damit zu tun, dass solche Bücher ohnehin schon sehr lange sind und die Autoren sie dadurch nicht noch verlängern möchten. Ich lese im Moment gerade zum ersten Mal das Rad der Zeit und das ist eine Buchreihe, die definitiv viele Alltagsszenen beinhaltet und man bekommt einen Einblick in viele verschiedene Kulturen. Die Buchreihe ist allerdings auch 14 Bände lang... und gewisse Leser werden davon sicherlich abgeschreckt.
Es ist wohl oft eine Gratwanderung, das richtige Mass zu treffen.

Ich denke beim Schreiben habe ich eher zu viele, als zu wenige Alltagsszenen und werde bei meinem momentanen Projekt wohl am Ende einiges davon streichen müssen. Es liegt wohl auch daran, dass es bei mir keine grossen Kämpfe oder ähnliches in der Art gibt und es deshalb oft ziemlich alltägliche Szenen sind, welche den Plot vorantreiben.
"You still prided yourself on three things: firstly, bloody-minded composure; secondly, an inhuman intellect for necromancy; thirdly, being very difficult to kill."

- Muir, Tamsyn. Harrow the Ninth

FeeamPC

Alltagsszenen müssen in die Erlebenswelt der Protagonisten passen.
Wenn ich über einen Ritter schreibe, ist es extrem wahrscheinlich, dass ihn Bauern überhaupt nicht interessieren. Sie sind da, sie bauen Korn an und sorgen für Milch und Eier, basta. Mehr nimmt der Ritter sie normalerweise nicht zur Kenntnis, und entsprechend wenig kommt der Bauer in einem Roman mit Ritter als Hauptperson vor.
Was anderes ist es, wenn der Roman in der Unterschicht spielt, aber dann kommen kaum die Lebensumstände der Ritter zur Sprache.
Einzige Möglichkeit für einen Autor, mehr als nur allgemeine, wenige Sätze zu anderen Gesellschaftsschichten zu schreiben, ist eine Geschichte mit verschiedenen Perspektivträgern aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. und das liegt nicht jedem Autor.

Antennenwels

Zitat von: FeeamPC am 13. Februar 2019, 15:11:33
Alltagsszenen müssen in die Erlebenswelt der Protagonisten passen.
Wenn ich über einen Ritter schreibe, ist es extrem wahrscheinlich, dass ihn Bauern überhaupt nicht interessieren. Sie sind da, sie bauen Korn an und sorgen für Milch und Eier, basta. Mehr nimmt der Ritter sie normalerweise nicht zur Kenntnis, und entsprechend wenig kommt der Bauer in einem Roman mit Ritter als Hauptperson vor.

Ich stimme vollkommen mit dir darin überein. Allerdings gibt es auch im Leben eines Ritters alltägliche Szenen. Wie ihm jemand dabei helfen muss seine Rüstung an oder aus zuziehen, oder wie er klammheimlich versucht ein paar Dellen wieder rauszubekommen und seine Rüstung zu polieren, in der Hoffnung, dass dadurch niemandem auffällt, dass sie nicht mehr von allzu hoher Qualität ist. Auch ein Ritter verbringt mal einen Abend mit Freunden in einer Taverne, oder entspannt seine schmerzenden Muskeln bei einem Besuch in einem Badehaus. Alltagsszenen gibt es in jeder sozialen Schicht und ich würde auch den Ritter gerne mal ausserhalb eines Kampfes/ einer Schlacht oder aber der Besprechung der nächsten Krisensituation sehen.
"You still prided yourself on three things: firstly, bloody-minded composure; secondly, an inhuman intellect for necromancy; thirdly, being very difficult to kill."

- Muir, Tamsyn. Harrow the Ninth

Koboldkind

Dem stimme ich uneingeschränkt zu, @Antennenwels . Ich schreibe grade eine Fanfiction im Mittelaltersetting, unter anderem gerade deshalb, um das Leben auf der Reise und zwischen den Schlachten zu schreiben. Mir fehlt es gerne mal, dass Charaktere nicht essen müssen oder anscheinend wochenlang die gleichen Kleider tragen. Abgesehen von der Ruhe und genügend Schlaf, die Helden auch und besonders brauchen, mag ich Alltagsszenen daher sehr gerne. Mehr davon :)
Wer jetzt nicht wahnsinnig wird, muss verrückt sein.

canis lupus niger

Zitat von: Trippelschritt am 29. Oktober 2018, 10:01:05
Es gehört nur in eine Geschichte, was der Geschichte hilft. Egal ob Alltagssituation oder Weltuntergang. Selbstverständlich kann deshalb eine Alltagssituation beschrieben werden. Aber der Autor muss die Frage beantworten können, warum er diese Situation beschrieben hat. "Der Vollständigkeit halber" wäre eine falsche Antwort.
GRR Martin hat im Vorwort zum Game-of-Thrones-Kochbuch (von jemand anderem) beschrieben, warum ihm Details wie das Essen in seinen Büchern so wichtig ist. Sinngemäß ist es für ihn ein Genuss, sich in dem Setting umher zu bewegen, es zu erleben und zu genießen. Und er ginge davon aus, dass es den meisten seiner Leser ähnlich geht. Sich beim Schreiben auf das für den Plot zwingend notwendige zu beschränken würde aus einem Roman im Extremfall einen Vorgangsbericht machen.

Diese Aussage trifft hundertprozentig meine eigene Meinung. Ich schreibe Fantasy, weil ich etwas sichtbar, fühlbar und erlebbar machen will. Dazu gehören auch Details auch dem Alltag. Das heißt nicht, dass die Flut von Alltagdetails die Geschichte ersticken darf. Das richtige Maß muss man schon treffen.

Churke

Essen betrachte ich nicht als Alltagsgeschehen.
Ob Riberys Gold-Steak, vegane Pizza, koschere Salami oder Donald Trumps Mittags-Taco. Man ist, was man isst.  ;)


FeeamPC

Aber selbst Essen ist nicht immer wichtig.
Der Bauer isst jeden Tag Linsensuppe? Uninteressant. Außer, es kommt ein Ritter zu Besuch und er setzt ihm Linsensuppe vor (entweder ist der Ritter erfreut, mal was anderes als Braten zu kriegen, oder er zürnt, weil der Bauer ihm nicht wenigstens ein Huhn geschlachtet hat).
Lisa liebt Schokolade? Uninteressant. Außer, es tröstet sie darüber hinweg, dass ihr Freund sie hat sitzenlassen, oder sie schwelgt in einem sinnlichen Vergnügen, dass sie Leser mit dahinschmelzen.
Hannes geht jeden Tag zur Schule? Uninteressant. Außer, an diesem Tag schwänzt er, oder er erlebt unterwegs als Augenzeuge einen Unfall, oder er wird gemobbt, oder er verknallt sich in die neue Lehrerin.

Will heißen, Alltagsgeschichten ja, aber tatsächlich nur, wenn sie für die Handlung etwas bringen.

Silvia

Als ich damals "Der Drachenbeinthron" von Tad Williams gelesen habe, fand ich nicht nur die Beschreibungen von Umwelt und Lebensart im Detail super, sondern auch die Tatsache, dass man mal mitbekam, was es auf Reisen am Lagerfeuer zu essen gab. Und nicht nur da. Nicht nur einmal hätte ich zu gern daneben gesessen und mal probiert, da gab es schon leckere Sachen - ob nun rustikal einfach oder königlich. :-) Ich mag sowas als Leserin.

FeeamPC

Manchmal klappt es und so eine Beschreibung ist gut und passt. Ansonsten aber landet der Lektor bei eiem Manuskript, in dem die Hauptfigur drei Seiten braucht, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen, weil der Alltag so genau beschrieben wird...
Habe ich schon gehabt.