Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Weltenbau => Thema gestartet von: AlpakaAlex am 08. Februar 2019, 11:40:03

Titel: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: AlpakaAlex am 08. Februar 2019, 11:40:03
Ich möchte hier ein Thema ansprechen, dass mich immer wieder beschäftigt, nicht zuletzt, weil ich festgestellt habe, dass sich manche Leser damit schwer tun: Was haltet ihr davon, wenn eine fiktionale Kultur eine fremde/sehr andere Moralvorstellung hat, als wir?

Ich habe öfter schon Diskussionen zum Thema gelesen. Sprich darüber, dass oftmals Fantasywelten in vielerlei Hinsicht ein recht modernes Moralbild widergeben oder zumindest die Protagonisten eine moderne Moral und Ethikvorstellung vertreten. Das kann sich auf viele Dinge beziehen. Tod, Folter, Gewalt generell, Sexualmoral, Diskriminierung, Versorgung von Kranken und dergleichen. Das macht es dem Leser fraglos leichter, sich mit der Figur zu identifizieren. Gleichzeitig habe ich allerdings auch oft Kritik gelesen (der ich mich tendenziell auch anschließen würde), dass es in manchen Fällen keinen Sinn ergibt. Speziell wenn die Welt ansonsten eine andere Ethikvorstellung hat, fehlt manchmal die Erklärung, warum es dem Protagonisten anders geht.

Aber auch andere Dinge. Ich selbst bin bei mir zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, dass einige Leute in meiner Welt "töten" nicht als so schlimm ansehen, da sie nicht nur an ein Leben nach dem Tod glauben, sondern wissen, dass es das gibt. Sie wissen, dass es einen physischen Ort, ein physisches Jenseits gibt. Dass ist in unseren Büchern (Urban Fantasy) im Vereinigten Königreich auch ein dauerhafter Konflikt zwischen Magiern und Werwölfen, wenn es um das Thema "Geheimhaltung" geht. Der Lösungsvorschlag der Magier ist ein klassisches: "Wenn die Person nicht eingeschworen werden kann, dann löschen wir ihre Erinnerung." Werwölfe sind dem gegenüber allerdings nicht sehr offen (aus historischen Gründen der Welt) und hassen Gedächtnisveränderung, nicht zuletzt, da man damit deutlich in die Persönlichkeit einer Person eingreifen kann. Ihr Lösungsvorschlag: "Wir töten die Person. Im Jenseits kann sie das Geheimnis nicht mehr ausplaudern."

Wie haltet ihr das mit Moral in eurer Welt? Sind Moral und Ethikvorstellungen unserer ähnlich?
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Dämmerungshexe am 08. Februar 2019, 11:53:13
Da ich mehrere Welten habe: teils, teils.  ;D

In den eher typischen Fantasy-Settings geht es bei mir meist ziemlich normal zu. Regionale Unterschiede oder Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern geben dem ganzen einfach etwas Tiefe.
In "Feuergabe" ist das Thema bisher nicht wirklich aufgetaucht, nur leicht angekratzt.
In "Königskinder" spielt es schon eher eine Rolle, da ich zum Großteil aus Sicht "der Bösen" erzähle.
Spannend wird es für mich, wenn ich mich an "Naimaer" machen will, da dort die Gesellschaft nicht-menschlich ist - strenges Matriarchat, Recht-der-Stärkeren und Menschen sind eh nichts wert. Und mein Protagonist ist eigentlich ein echtes Kind dieses Geistes. Wie genau ich das rüberbringen will/werde muss ich noch heraus finden, aber ich persönlich finde es unheimlich spannend.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Sturmloewin am 08. Februar 2019, 11:53:51
Das sind interessante Gedankengänge. Und ich glaube, tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit möglicherweise anderen Moralvorstellungen sehr wichtig.
Ich finde es auch gut und realistisch, dass eben nicht jedes Volk dieselben Moralvorstellungen hat. Ist ja in unserer "echten Welt" auch nicht anders. (Beispiel Essen: In Deutschland wird Schwein und Rind und manchmal auch Pferd gegessen, Hund ist dagegen verpönt, im Islam ist Schwein essen verpönt, in den USA das Pferd essen, im Hinduismus sind Kühe heilig)
Genauso ist es mit anderen Bräuchen, Glaubensrichtungen etc.
Daher halte ich es für nicht unsinnvoll, dass die Werwölfe da eben so anderer Meinung sind als die Magier. Für uns als Menschen ist wahrscheinlich der Standpunkt der Magier nachvollziehbarer, weil er unserem menschlichen Standpunkt ähnlicher ist, nichtsdestotrotz ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Werwölfe das eben komplett anders sehen. Wichtig ist glaube ich dem Fall, das glaubhaft rüber zu bringen. Also so, dass Leser wirklich den Eindruck gewinnt "Alles klar, das ist logisch und für die vollkommen normal"
Vielleicht kann man das auch erreichen, in dem man "menschlichere" Begründungen für diese oder jene Moralvorstellung aufzeigt. Beispielsweise, wie du schon erwähntest, die Persönlichkeitsangriffe der Person, Privatsphäre, etc.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 11:59:12
Das ist eine wirklich spannende Frage, die tief in unsere Erzähltraditionen hineinreicht und über Erfolg oder Misserfolg einer Geschichte entscheidet. Das wäre ein Thema für einen Essay. Ich versuche es trotzdem mal.

Zunächst einmal sind nur Geschichten erfolgreich (dieses nur mit vielen Einschränkungen), die von allgemein menschlichen Werten, Konflikten und Problemen handelt. Ich weiß, ganz so apodyktisch, sollte ich das nicht sagen, aber tun wir mal, als wäre das wahr. Für den größten Teil der Bücher gilt es ja auch.
Wenn man sich dieser Meinung anschließen kann, dann sind völlig fremde Moral- und Ethikvorstellungen kein Thema mehr, weil die Leser (Menschen) sich nicht mehr darin wiederfinden. Wenn fremd, dann nur in Kleinigkeiten und nicht in den Basics. Ausnahmen könnten genial geschriebene Schlussfolgerungen sein, die auf einigen wenigen, aber grundsätzlich anderen Axiomen beruhen, als die, die die menschliche Gesellschaft ausmacht. Aber ich möchte so etwas nicht versuchen. Viel zu schwierig.

Bei kleineren Dingen könnte man aber viel versuchen, so lange es im Bereich plausibler Variationen bleibt. Zum Beispiel tierisches Verhalten übernehmen.

Ich versuche das im Kleinen im Augenblick, indem ich die Drachen als Tiere mit Weisheit und Geschöpfe des Chaos verstehe und damit ganz weit weg von so beliebten Rollen wie Haustier, Freund des Menschen oder Ähnliches bin. Als Geschöpf des Chaos, steht es dem Menschen gegenüber (s. die Sage von Ur), als mehr Tier als Mensch, hat er die Wildheit einer Hyäne, die selbst ihre Pfleger anfällt. Und ihre Weisheit und ihr Wissen macht sie zu Übermenschen. Und damit stimmen die altbekannten Wegmarken nicht mehr. Aber was daraus wird, steht in den Sternen und allzu extrem klann ich nicht werden, weil es dann den Leser verstört und nicht dort abholt, wo er sich am Anfang der Geschichte befindet.

Und genau das ist das Problem bei dieser Art der Schreiberei.

Ansonsten gilt, was immer gilt. Wenn es funktioniert, dann geht es auch. Aber das erfährt man immer erst hinterher.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Dämmerungshexe am 08. Februar 2019, 12:10:28
Zitat von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 11:59:12
Wenn man sich dieser Meinung anschließen kann, dann sind völlig fremde Moral- und Ethikvorstellungen kein Thema mehr, weil die Leser (Menschen) sich nicht mehr darin wiederfinden. Wenn fremd, dann nur in Kleinigkeiten und nicht in den Basics. Ausnahmen könnten genial geschriebene Schlussfolgerungen sein, die auf einigen wenigen, aber grundsätzlich anderen Axiomen beruhen, als die, die die menschliche Gesellschaft ausmacht. Aber ich möchte so etwas nicht versuchen. Viel zu schwierig.

Da würde ich doch widersprechen: die Konflikte und das Potenzial zur Identifikation ergeben sich nicht rein aus den Moral- und Wertevorstellungen, sondern aus der Haltung der Protagonisten zu eben diesen - geht man konform, leistet man Widerstand? Wo ist mein Platz in der ganzen Sache, habe ich keinen, will ich einen ...? Das sind meiner Meinung nach die wichtigen Fragen, über die der Leser einen Zugang zum Protagonisten und seiner Welt bekommt, weil sich eben jeder Mensch genau dieselben stellt. Wie diese dann ausgestaltet sind, ist eine andere Sache. Natürlich erhöht eine komplett fremdartige Grundhaltung die Barrieren, die man als Autor und Leser dabei überwinden muss. Nichts desto trotz kann es funktionieren.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Maubel am 08. Februar 2019, 12:17:16
Eine interessante Frage. Ich spiele sehr gerne mit verschiedenen Moralvorstellungen. Bei Ravenblood sind es verschiedene kulturelle aber auch historisch/politische Beweggründe. Das Schöne an dem Zyklus ist, dass es mir gelungen ist, die einzelnen Völker so zu konzipieren, dass je nachdem auf welcher Sicht man lesen würde, der jeweils andere der "Feind" wäre. Also meine Guten sind nur die Guten, weil sie zufällig die Perspektive haben. Ich kann mindestens einen der Antagonisten vollkommen verstehen, warum er mit den Guten ein Problem hat, auch wenn sich der Leser wohl nie auf seine Seite stellen würde. Allerdings sind ihre Beweggründe alle noch relativ menschlich.

Ein anderer Punkt ist tatsächlich der, dass ich nicht viel davon halte, allzu moderne Ansichtsweisen in offensichtlich nicht moderne Welten zu bringen, vor allem nicht nur aus der Sicht der Protagonisten. Ein beliebtes Beispiel kommt tatsächlich aus dem Rollenspiel. Es gab eine Adligen-Klasse und bis auf wenige Ausnahmen, waren alle weiblichen Adligen Rebellinnen, die nur für die Liebe heiraten und ein selbstbestimmtes Leben führen wollten. Mir hat es schon immer deutlich mehr Spaß gemacht, meinen Charakter in den Grenzen seiner Welt darzustellen und daraus spannende Geschichten zu ziehen, ohne "der Andere" zu sein. In dem Fall also eine Adlige, die von ihrer Rolle überzeugt ist und den verordneten Ehemann annimmt - dass es dann nicht geklappt hat, ist eine ganz andere Geschichte, aber es liegt nicht daran, dass sie aus ihrer Rolle ausgebrochen ist.


Am allerliebsten in dieser Hinsicht sind mir aber meine Dämonen aus Ashuan. Mit denen habe ich tatsächlich ein gänzlich anderes Moralsystem aufgebaut, an dem meine Charaktere erst mal scheitern, aber es hat durchaus seine Berechtigung (Gesetz des Stärkeren, absolute Freiheit als Stichwort) und die Dämonen sind obwohl sie eigentlich morden etc. irgendwie doch sympathisch/interessant - teilweise zu sympathisch, aber das sind meine Leser, frag mich nicht, wieso die einen Massenmord mit "kann ja mal passieren" abtun ;) Davon abgesehen, macht es mir aber unheimlich Spaß bei den Dämonen mit den Moralvorstellungen zu spielen und sie sind in sich schlüssig und nachvollziehbar. in den späteren Staffeln habe ich mich dann doch zu den Engeln durchgerungen, nachdem ich ihre Moral endlich geknackt habe. Auch die ist natürlich nicht menschlich, aber eben der der Dämonen vollkommen entgegengesetzt. Die fallen mir auch immer noch ein wenig schwer, aber ich bin mittlerweile sehr glücklich mit meinen "guten", aber dennoch komplexen Engeln - Die Dämonen haben trotzdem das Sympathievotum ;)
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Churke am 08. Februar 2019, 12:53:22
Zitat von: NelaNequin am 08. Februar 2019, 11:40:03
Sind Moral und Ethikvorstellungen unserer ähnlich?

Man unterliegt Sachzwängen. Die Leser müssen sich in Moral und Ethik irgendwie wiederfinden. Das kann auch eine kritische Auseinandersetzung beinhalten - aber ein Held, der die Leser abstößt, taugt nicht als Identifikationsfigur.
Man kennt ja auch das klassische Muster, dass der Held *unsere* Werte vertritt und der Fiesling die bösen. Wir identifizierung uns mit dem Helden und freuen uns, wenn der Böse auf die Fresse kriegt.
Die "Erdung" in die Gegenwart schafft auch transparente Bezüge, durch die das Buch interessanter wird.

Abweichende Moralvorstellungen konsistent darzustellen, ist auch keine leichte Übung.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Sascha am 08. Februar 2019, 13:17:48
Zitat von: Churke am 08. Februar 2019, 12:53:22
Man unterliegt Sachzwängen. Die Leser müssen sich in Moral und Ethik irgendwie wiederfinden. Das kann auch eine kritische Auseinandersetzung beinhalten - aber ein Held, der die Leser abstößt, taugt nicht als Identifikationsfigur.
Das ist mir selbst passiert. als ich Markus Heitz' "Legenden der Albae" gelesen habe. Ich konnte mich in die Haltung der Hauptfigur so überhaupt nicht reindenken, daß ich die Reihe nicht weiterverfolgt habe.

Mal sehen, wann ich mein Epos angehe. Da kann ich praktischerweise mit guter Begründung auf modernen Vorstellungen aufsetzen und möchte das dann überziehen. Jemand, der "bi" nicht mal ausprobiert und seiner Angebeteten treu ist, incl. "kein Sex vor der Ehe"? Was soll das denn für ein neumodischer Unsinn sein?  ;D
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Coppelia am 08. Februar 2019, 13:38:48
Moralische und ethische Fragen sind beim Schreiben mein absolutes Lieblingsthema. :vibes: Quasi jede meiner Geschichten beschäftigt sich damit.

In meinen Augen ist das Thema aber vor allem dann interessant, wenn "moderne" Lesende etwas daraus für sich mitnehmen können, also Fragen behandelt werden, die auch für sie und in unserer heutigen Situation relevant sind. @Churke hat das ja auch schon geschrieben. Das muss nicht unbedingt heißen, dass die Hauptfigur moderne Werte vertritt, aber es sollte in meinen Augen um Fragestellungen gehen, die auch für uns wichtig sind. Vielleicht nicht in dem Kontext, in dem sie in der Geschichte auftreten, aber in anderem. Gibt ja auch genügend Fragen, die für die Menschheit allgemeingültig wichtig sind. Es müssen auch nicht alle Moralvorstellungen thematisiert werden, die vielleicht von den "modernen" abweichen.
Außerdem müssen die Moralvorstellungen nicht unbedingt an unserer bekannten Welt orientiert sein, finde ich persönlich. D. h. man muss nicht davon ausgehen, dass in einem Setting, wo mit Schwertern gekämpft wird, mittelalterliche Moralvorstellungen herrschen.

Wenn eine Figur herumläuft, deren Wertvorstellungen sich stark von "unseren" unterscheiden (ein Römer, der Eroberungskriege nicht nur total ok findet, sondern es sogar daneben fände, wenn keine geführt würden), dürfte es zwecks Sympathiefaktor wichtig sein, wenn sie entweder Wertvorstellungen in anderen Bereichen hat, die den modernen entsprechen, oder ihre Ansichten im Lauf der Handlung überdenkt.
Davon abgesehen finde ich es aber auch wahnsinnig spannend, sich in völlig fremde Weltsichten einzudenken und die darzustellen. Eins der Dinge, die ich als Autorin am spannendsten finde. Man sollte das aber (wie angedeutet) nicht so weit führen, dass keine Identifikation mehr möglich ist.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Churke am 08. Februar 2019, 14:06:57
Zitat von: Coppelia am 08. Februar 2019, 13:38:48
Wenn eine Figur herumläuft, deren Wertvorstellungen sich stark von "unseren" unterscheiden (ein Römer, der Eroberungskriege nicht nur total ok findet, sondern es sogar daneben fände, wenn keine geführt würden), dürfte es zwecks Sympathiefaktor wichtig sein, wenn sie entweder Wertvorstellungen in anderen Bereichen hat, die den modernen entsprechen, oder ihre Ansichten im Lauf der Handlung überdenkt.

Gerade HIER bieten sich mir frappierende Parallelen zur heutigen Zeit. Pax Romana war im Grunde ähnlich wie die heutige "Schutzverantwortung".
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Coppelia am 08. Februar 2019, 14:12:44
@Churke
Das ist dann doch der Punkt, den ich meine - man thematisiert Fragestellungen, die für unsere Gesellschaft relevant sind. Aber natürlich gehen unterschiedliche Autoren unterschiedlich und mit verschiedenen gedanklichen Schwerpunkten ran. ;)
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 15:22:37
Jetzt nur mal so als Einwand. Seit wann sind Eroberungskriege eine neue Wertvorstellung oder Moral? Sie waren vor nicht allzul langer Zeit noch völlig in Ordnung - für mich gerade mal eine Generation her - und überall auf der Welt Gang und gäbe. Darüber kann ich leicht schreiben. Aber was wäre mit Kannibalismus als Teil eines neuen Humanismusses. Da käme ich aber gewaltig ins Schleudern.

Nur so mal zum Nachdenken und ohne Verweis auf H. Lecter, der immerhin geisteskrank war und damit kein Mitglied der Gesellschaft mehr.
Trippelschritt
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Dämmerungshexe am 08. Februar 2019, 15:30:20
Zitat von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 15:22:37
Aber was wäre mit Kannibalismus als Teil eines neuen Humanismusses.

Kämen mir auf Anhieb zwei bis drei Ideen, wie man das verarbeiten könnte, um es zumindest halbwegs plausibel rüber zu bringen. Alles eine Frage des Standpunktes und das wirklich absolut Spannende und Einzigartige am phantastischen Genre, ist es für mich, tatsächlich jeden Standpunkt einnehmen zu können, um die Dinge von dort aus zu betrachten. Wie ich das ganze dann meinen Lesern vermittel ist eine andere Frage.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Fianna am 08. Februar 2019, 16:10:53
@Trippelschritt
Ich habe in einem Krimi Kannibalismus als normalen Bestandteil der Begräbnisriten. Schön zubereitet sieht man auch gar nicht mehr so genau, was da gegessen wird.
Aus diesem Grund kann ich eine Leiche als Mordwaffe verwenden. Ich habe einen ganzen Städtebund und ein neues Magiesystem erschaffen - nur damit ich meine Opfer bei der Beerdigung vergiften kann (durch den Verzehr von Speisen, die aus Teilen des Verstorbenen bestehen).

Da dies für die Bewohner ein vollkommen normaler Bestandteil ihres Lebens und nicht mit einem Tabu belegt ist, kommen die Ermittler dem Mörder erst nicht auf die Spur. Sie überlegen nur, ob jemand den Leichenschmaus vergiftet haben kann, aber niemand interessiert sich genauer dafür, wie der Verstorbene zu Tode kam, dessen Beerdigung fast alle Opfer besucht haben. 
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Churke am 08. Februar 2019, 16:33:25
Zitat von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 15:22:37
Jetzt nur mal so als Einwand. Seit wann sind Eroberungskriege eine neue Wertvorstellung oder Moral? Sie waren vor nicht allzul langer Zeit noch völlig in Ordnung - für mich gerade mal eine Generation her - und überall auf der Welt Gang und gäbe.

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Hätte Cäsar nicht die Macht ergriffen, hätte ihm der Senat dem Prozess gemacht und er wäre als korrupter Kriegsverbrecher eine Fußnote der Geschichte.
Und für Prokopios ist Justinian kein großer Kaiser, der das Imperium Romanum restauriert, sondern ein Despot, der fremde Völker überfällt, nachdem er die Römer ausgeplündert hat.

Immer schön trennen zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung.  :)
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 19:29:44
Führer hatten es schon immer leicht, ihr Volk in einen Krieg zu führen, wenn die Ressourcen knapp wurden, weil ein Krieg Beute verspricht und die Anzahl der Menschen verringert. Wenn man dann noch der Meinung ist, den Überfall oder den Krieg zu gewinnen, braucht man nur noch die richtigen Einpeitscher.

Und dazu gehören bereits die vielen kleinen Grenzkriegen zwischen benachbarten Stämmen. Es geht also auch ohne große Reiche, obwohl ich Dir in Deiner Argumentation leicht folgen kann, denn ganz so eindimensional, wie ich es angedeutet habe, ist es in der Tat nicht.

Liebe Grüße
Trippelschritt
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Amanita am 09. Februar 2019, 00:29:29
Grundsätzlich finde ich es durchaus interessant, wenn die Kulturen in Fantasy-Welten (teilweise) andere Moral-und Ethikvorstellungen haben als wir. Dabei finde ich aber eine gewisse Balance wichtig. Wenn einem Volk einfach alles aufgeladen wird, was wir heute ablehnen, damit der edle Held von innen oder außen dagegen kämpfen kann, finde ich das sehr eindimensional. In einem Buch gibt es dann ein "böses Volk", das aus sexistischen, homophoben Sklavenhaltern besteht. Es gibt dort zwar Rebellen, aber die Tendenz ist halt doch ziemlich klar.

Genauso wenig gefällt es mir, wenn in der Fantasywelt die üblichen sexistischen Klischees mit "das sind halt fremde Moralvorstellungen" erklärt werden und sich der Autor noch dafür auf die Schulter klopft, dass er "sich das traut". So fremdartig sind halt "du bist nur eine Frau, du kannst das nicht" und "oh nein, das Kind ist nur ein wertloses Mädchen" nicht, da hätte ein Matriarchat deutlich mehr mit fremden Moral-und Ethikvorstellungen zu tun.
Ähnliches gilt für Rassismus, der klar irdischen Konstellationen nachempfunden ist, da bietet Fantasy ja wirklich jede Menge Möglichkeiten Feindschaften, Vorurteile und Unterdrückung zwischen Völkern darzustellen, auch von Seiten der Protagonisten aus, ohne dass es gleich nach einer Entschuldigung für reale Unterdrückung klingt.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Aphelion am 09. Februar 2019, 16:43:16
Zitat von: Trippelschritt am 08. Februar 2019, 15:22:37
Aber was wäre mit Kannibalismus als Teil eines neuen Humanismusses. Da käme ich aber gewaltig ins Schleudern.
Genau darum geht es in "Karnivoren" von E.M. Jungmann.

In der Geschichte wird das Problem so gelöst, dass die Figuren nach und nach Regeln aufstellen und diese dann schrittweise aufweichen, um ihren Kannibalismus zu rechtfertigen. Am Anfang essen sie nur jemanden, der zufällig gestorben ist, dann stellen sich Erwachsene selbst zur Verfügung und zum Schluss setzen sie schrittweise das Alter von Kindern herauf, ab dem diese erst als "menschlich" gelten und damit nicht mehr gegessen werden dürfen. Das ganze verkommt zu einem organisierten System, mit dem Ziel möglichst viele Kinder zum kannibalistischen Verzehr zu "produzieren" und mit allerhand Rechtfertigungen (z.B. gibt es eine Szene, die als Beispiel dafür dient, dass Ekel/Abscheu gegenüber Blut/Leichen nur anerzogen sei, oder die Versicherung des Erzählers, wie gut es den Kindern während ihres kurzen Lebens ginge usw.).

Allerdings – und das ist ein Knackpunkt – geht es auf der Metaebene natürlich nicht darum, den Kannibalismus gegenüber dem Leser tatsächlich zu rechtfertigen. Es geht der Autorin (anscheinend) darum zu zeigen, wie Menschen schrittweise verrohen, auch wenn diese Verrohung in ein zivilisiertes Gewand gekleidet ist, inkl. demokratische Entscheidungen.

Außerdem ist das Setting entsprechend gewählt, obwohl es nicht so heftig ist, dass die Figuren gar keine Wahl haben – was in meinen Augen ein wirklich cleverer Erzähltrick ist, denn dadurch wird die ethische Frage eben nicht gelöst, nur zugespitzt. Es geht um Kannibalismus aus Genuss, nicht zum nackten Überleben.

Hier im Thread wurde ja bereits angesprochen, dass es einen Unterschied macht, wie eine Figur auf die Verhältnisse regaiert – aber eben auch, ob die Autorin dem Leser diese (Un-)Moral schmackhaft (;)) macht oder nicht. Bei "Karnivoren" kann man nachvollziehen, warum der Ich-Erzähler sich rechtfertigt(*), aber als Leserin würde ich trotzdem nie auf die Idee kommen zu sagen: "Jo, passt."

(*) Der Ich-Erzähler fungiert allerdings durchaus auch als Leser-Stellvertreter in dieser Hinsicht, insofern sind bei "Karnivoren" mMn beide Techniken vertreten.

Zitat von: Amanita am 09. Februar 2019, 00:29:29
Ähnliches gilt für Rassismus, der klar irdischen Konstellationen nachempfunden ist, da bietet Fantasy ja wirklich jede Menge Möglichkeiten Feindschaften, Vorurteile und Unterdrückung zwischen Völkern darzustellen, auch von Seiten der Protagonisten aus, ohne dass es gleich nach einer Entschuldigung für reale Unterdrückung klingt.
Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt, da Fantasy eben nicht "nur völlig erfunden ist", wie manche bei dem Thema früher oder später argumentieren. Phantastische Literatur verarbeitet immer echte Einflüsse; und sie beeinflusst auch ihrerseits Menschen im echten Leben. Wenn jemand ständig Rechtfertigungen für Sexismus, Rassismus, Homophobie, Wasauchimmer liest, dann muss man sich nicht wundern, wenn dieselben Argumente auch im echten Leben hartnäckig bestehen bleiben. "Man kann nicht nicht kommunizieren" gilt auch hier.

Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, Leser überzeugen zu müssen – aber wir können uns als Schreibende aussuchen, ob wir mit unseren Geschichten eher auf der einen oder der anderen Seite stehen wollen. Neutralität gibt es in diesem Sinne nicht, auch wenn nicht alle Fehlgriffe (die mir selbst auch viel zu oft passieren ::)) beabsichtigt ist.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 09. Februar 2019, 17:15:06
Das klingt experimentell spannend. Aber hat der Roman sich auch verkauft?

Neugieriger Trippelschritt
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Aphelion am 09. Februar 2019, 17:58:45
@Trippelschritt

Ich habe keine Ahnung, wie ich das herausfinden könnte.  ;D

Der Roman wird als Horror vermarktet, da ist das nicht sooo experimentell. Mir fällt da z.B. auch eine Kurzgeschichte von King ein, in der jemand sich selbst kannibalisiert, allerdings unter völlig anderen Umständen, sprich mit einer schweren Verletzung, nichts zu essen und einem Koffer voller Drogen. Sowohl Kings KG als auch "Karnivoren" sind allerdings auf einer einsamen Insel angesiedelt. Aber wie gesagt, in "Karnivoren" ist einer der entscheidenden Punkte, dass die Menschen den Kannibalismus nicht zum puren Überleben brauchen.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Coppelia am 09. Februar 2019, 18:15:59
In dem Möchtegern-Nachfolger von Planescape - Torment, "Tides of Numenera", kommt eine Sekte vor, die Tote isst und auf diese Art ihre Erinnerungen  in sich aufnimmt, bewahrt und ihr Andenken ehrt. Hat mir gefallen, traf meine makaberen Vorlieben. ;P Falls ich das falsch wiedergebe, korrigiert mich gern, denn es ist schon eine Weile her, seit ich das gespielt habe.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Antennenwels am 10. Februar 2019, 01:32:39
Ich habe erst kürzlich ein Buch gelesen, indem Kannibalismus vorkam, allerdings auf eine Art und Weise, die wie ich finde kein gutes Beispiel dafür abgibt, wie man mit so etwas umgehen sollte.
In der Codex Alera Reihe von Jim Butcher gibt es eine Rasse von "Barbaren", welche ihre Gegner essen (diese Leben dabei noch!) um deren Stärke aufzunehmen. Ein Teil dieser Stämme schliesst sich dann den "Guten" an und von da an wird diese Tradition niemals mehr wirklich angeschnitten. Beschrieben wurde es nur bei den "bösen" Stämmen und während erwähnt wird, dass alle Stämme dies praktizieren, so gibt es doch nur eine einzige Szene, in welcher der Love-interest des Protagonisten jemanden essen will, dann aber von ihm davon abgehalten wird (mit der Ausrede, sie hätten jetzt keine Zeit dafür). Sie unterhalten sich nie darüber und diese extrem unterschiedlichen Moralvorstellungen scheinen auch keinen Einfluss auf die Beziehungen der Figuren zu einander zu haben.

Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ich die Reihe noch nicht beendet habe, vielleicht kommt es also irgendwann doch noch zur Sprache, ich bezweifle es allerdings. Es kommt mir vor, als wäre dies im ersten Band nur eingeführt worden um den Leser zu schockieren und in den nachfolgenden Büchern war es dem Autoren eher im Weg und wurde deshalb grösstenteils ignoriert.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Churke am 10. Februar 2019, 11:29:40
In der letzten Staffel von "The 100" werden Verbrecher in der Arena hingerichtet und die Leichen zu Protein-Sticks verarbeitet, um das Überleben zu sichern. Die Serie setzt auf mehr oder wenige einfältige Schockeffekte und ich halte das nicht für ein gutes Vorbild.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 10. Februar 2019, 12:09:49
Erinnert mich an Soylent Green, den SF-Film mit Charlton Heston. Anfang der Siebziger?

Trippelschritt
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Churke am 10. Februar 2019, 12:37:47
Wenn ich mich richtig erinnere, wollten die in Soylent Green aber nur Geld verdienen. Moral heißt ja, dass *die Leute* etwas tun, weil sie es gut & richtig finden. Das ist auch etwas anders als Gleichgültigkeit durch Verrohung.
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: Trippelschritt am 11. Februar 2019, 19:28:14
Da streite ich nicht mehr. Den Film habe ich einmal gesehen, und das muss über vierzig Jahre her sein. Ein Wunder, dass ich mich überhaupt noch an Charlton Heston erinnere.  :vibes:

Trippelschritt
Titel: Re: Fremde Moral- und Ethikvorstellungen
Beitrag von: FeeamPC am 11. Februar 2019, 20:39:42
Letzten Endes können wir nur mit Moralvorstellungen arbeiten, die wir uns irgendwie noch vorstellen können. Auf der anderen Seite hat die Menschheit in den paar Tausend Jahren belegter Geschichte schon so ziemlich alles ausprobiert, was Menschenhirne denken können. Das heißt, was immer in unseren Büchern steht (und einigermaßen folgerichtig aufgebaut ist), kann dem Leser verständlich gemacht werden, wenn auch nicht notwendigerweise sympathisch.
Die Gesellschaft ist ein Patriarchat, in dem Mädchen mit Erreichen der Geschlechtsreife als erwachsen gelten und von der väterlichen Familie an die des Ehemannes mehr oder weniger verkauft werden? Wenn alle darin aufwachsen, werden sich nicht einmal die Mädchen selbst daran stören, mit 12 Im Bett eines fremden Mannes zu landen. Allerhöchstens werden sie besorgt sein, bei einer frühen Schwangerschaft nicht zu überleben.
Und wenn die Figut gut geschrieben ist, wird der Leser diese Sichtweise sogar nachvollziehen können.