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Der Unterschied zwischen Betalesen und Lektorieren

Begonnen von Tigermöhre, 26. Juni 2017, 12:11:58

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gbwolf

#15
Vielleicht ist diser schon ältere Thread hilfreich, auch wenn er sich mehr auf Verlagslektoren bezieht: Wie wird man eigentlich Lektor?

Zitat von: Churke am 26. Juni 2017, 15:47:10
Ich sehe das mehr als eine Frage des Könnens und der Erfahrung an. Meine Mutter ist Theaterkritikerin. Sie schaut sich ein Stück ein (!) mal an und dann kennt sie es besser als Autor und Regisseur zusammen. Sie macht sich nie Notizen, erinnert sich aber an das kleinste Detail jeder Figur.
Ich denke, dass sie die Handlung anders wahrnimmt als meiner einer. Sie sieht kein Theaterstück auf der Bühne, sondern Figuren, Plots, Einfälle, Absichten, Motive. 

Ja, ja und ja! Das trifft es absolut! Die Lektorin, mit der ich gerade zusammenarbeite ist genauso. Die sieht Dinge, wo für mich nur Text und Emotionen sind. Sie erinnert sich an Details, auch daran, welche geändert wurden, usw.
Edit: Wenn man mal ein Rohmanuskript gelesen hat und dann einen guten Redaktionsbrief und dann das spätere Buch, weiß man wirklich, was gute Lektoren leisten.

Tigermöhre

Den Thread hatte ich irgendwann schon mal gelesen. Aber er hatte mir wenig gebracht, weil ich eben keinerlei Referenzen habe. Und die meisten Informationen im Internet beziehen sich halt auf den Überbau. Was so alles anfällt. Aber das genaue "Wie" finde ich nirgends.
Nur wenn es eigentlich das Gleiche wie Betalesen nur tiefergehend ist, dann kann ich damit was anfangen.

Und eine Lektorin arbeitet auch länger mit dem Text, oder? Ich habe häufig mitgekriegt, dass so ein Text mehrfach hin und her geht. Oder ist das nur beim Verlagslektorat so und als freie Lektorin schreibt man seine Kommentare, schickt den Text zurück und gut ist?
Gibt es eigentlich gute Literatur zum Handwerk der Lektorin? Und lohnen sich Seminare? Der VdLL bietet ja in Zusammenarbeit mit der Akademie der deutschen Medien ein freies-Lektorat-Zertifikat an. Ist das auch für Anfänger geeignet?

Antigone

Ich trenne Betalesen und Lektorieren weniger in freundschaftlich versus beruflich, sondern eher nach dem Zeitpunkt, wo es stattfindet.

Betalesen passiert bei mir viel früher. So nach der zweiten oder dritten Bearbeitsrunde. Da ist das Betalesen dann mehr der Test, ob die Geschichte als Ganzes funktioniert. Ob es spannend ist, logisch, eben all das, was eine gute Geschichte ausmacht. Eben mit Fokus auf den Inhalt. Ich brauch da noch keine Betaleser, die sich auf Füllwörter konzentrieren, sondern die das große Ganze sehen.

Das Lektorieren kommt dann, wenn ich sämtlichen Input der Betaleser eingearbeitet habe. Das ist dann für mich der Feinschliff, wo es dann auch mehr um Grammatik, REchtschreibung und Stil geht. Inhaltlich sollte da eigentlich nichts mehr geändert werden müssen.

Ich gebe aber zu, dass bei meinem bisherig ersten und einzigen professionellem Lektorat durch einen Verlag dann doch auch inhaltliche Änderungen gefordert wurden. Trotz mehrerer Betaleser-Runden davor. Allerdings nichts Grundsätzliches an der Story; mehr in der Dynamik zwischen den Figuren.

lg, A.

gbwolf

Zitat von: Tigermöhre am 27. Juni 2017, 08:57:38
Nur wenn es eigentlich das Gleiche wie Betalesen nur tiefergehend ist, dann kann ich damit was anfangen.
Meines Erachtens macht das Fachwissen dahinter den Unterschied. Auch das KleinKlein-Wissen, das man als Laie nicht hat. Wer Germanistik oder eine Sprache studiert, der setzt sich ja über Jahre grundlegend mit Dingen wie Semantik auseinander. Nicht umsonst stöhnen viele Studenten, die nie wieder Mathe sehen wollten, wenn es an die Linguistik geht. Dazu kommt die Analyse verschiedener Texte, auch jenseits des eigenen Geschmacks.
Das gibt einem ein grundsätzliches Verständnis für die Funktion von Sprache und wie Sprache von einem Autor in einer bestimmten Situation verwendet wird. Ein guter Lektor wendet dieses Verständnis so an, dass er die eigene Sprache und den eigenen Stil eines Autors fördert, einfach, weil er "versteht" und "sieht", was genau den Stil ausmacht, wie sich der Text aufbaut, wie die Konflikte laufen und wie die Figuren funktionieren.

Ich merke den Unterschied immer, wenn ich einen Redaktionsbrief meiner Lektorin erhalte. Sie sieht den Text wie ein Programmierer den Code und sie kann exakt analysieren und benennen, wo die Schwachstellen sind, wo ich Wendepunkte anders setzen sollte, wie die Spannung abflaut, etc.
Das ist ein himmelweiter Unterschied zu jedem Lektorat, das ich bislang im Kleinverlagsbereich hatte und sogar im Jugendbuch, wo meine Lektorinnen auch schon nicht schlecht waren. Irgendwie eine Mischung aus einer besonderen Gabe, harter Arbeit und viel, viel theoretischem Wissen.
Ob man sich dieses Wissen anders als durch ein Studium erarbeiten kann? Gute Frage. Du könntest dich einmal mit Büchern übers Drehbuchschreiben, mit Stilkunde, mit Waldscheidt und Co. beschäftigen und dieses Wissen auf Texte anwenden, die du als Textleser bekommst. Dann als nächster Schritt vielleicht einem Selfpublisher unter die Arme greifen, um eine Referenz zu erhalten, usw.


gbwolf

Zitat von: Tigermöhre am 26. Juni 2017, 12:11:58
Und dann auch noch die Frage, wie habt ihr als Lektorinnen angefangen? Klassisch im Studium oder anders?
Ich würde mich über Antworten und einen Austausch echt freuen.
Dahingehend solltest du dir überlegen, die Überschrift des Threads zu ändern oder ihn neu zu starten (Oder dich an den alten "Wie wird man eigentlich ...?"-Thread anzuschließen, wobei es da ja mehr um angestellte Lektoren geht.), denn das vermutet man hinter der jetztigen Überschrift nicht.

Churke

Zitat von: Nadine am 27. Juni 2017, 11:22:47
Meines Erachtens macht das Fachwissen dahinter den Unterschied. Auch das KleinKlein-Wissen, das man als Laie nicht hat. Wer Germanistik oder eine Sprache studiert, der setzt sich ja über Jahre grundlegend mit Dingen wie Semantik auseinander.
Wenn ich die vielen Grammatik-Fehler bei Publikumsverlagen sehe, (falsche Zeiten, falsche Konjunktive...) dann bin ich mir nicht sicher, dass man das wirklich an der Uni "studiert".

Bei "meinen" Lektorinnen hatte ich bislang den Eindruck, dass die Stilsicherheit auf angelernten Schemata beruhte. Aus den Grenzen, die sie mir gezeigt haben, schließe ich auf ihre Arbeitsweise. Das ist überwiegend erfahrungsbasiertes Handwerk. So würde ich das auch sehen: Der erste Stuhl ist furchtbar, der zweite deutlich besser und ab dem hundertsten kann man blind im Akkord arbeiten...

Wie also wird man Lektor? Durch lektorieren, und zwar möglichst viel davon. Erst unter Anleitung, dann alleine.
Oder als Autor. Wenn ich genügend Lektorate hatte, kann ich's wahrscheinlich auch.  :)

Evanesca Feuerblut

#21
Ich mache ja beides und ich trenne das für mich persönlich so:

Privat vs. Geschäftlich

Beta lese ich für gute Freund*innen, für geschätzte Kolleg*innen u.a. hier im Tintenzirkel. Dabei ist mir bewusst, dass ich unter Umständen nicht die Einzige bin, die an dem Text arbeitet und somit ahne ich, dass die Person eventuell auch widersprüchliche Empfehlungen bekommt.
Darum begründe ich meine Änderungsvorschläge immer so, dass man nach dem "Nimm dir, was du brauchst"-Prinzip gerne auch den Vorschlag von jemand anderem bevorzugen kann, es kommen ja mehrere rein. Auch schreibe ich ausführlich hin, wenn mir etwas überhaupt nicht klar ist oder etwas keinen Sinn ergibt.
Worauf ich meist verzichte, sind lange Ausführungen zum Thema Schreibhandwerk, denn meistens weiß ich, auf welchem Wissensstand sich die Person befindet. Schließlich kenne ich sie irgendwoher (z.B. von hier), kenne ihre anderen Postings etc.
Wenn es sich nicht gerade um Rechtschreibfehler und andere Kleinigkeiten handelt, korrigiere ich nicht mit "Änderungen verfolgen", sondern schreibe überwiegend Kommentare an den Rand.
Auch wenn ich oft eine Deadline habe, bis wann die Kolleg*innen den Text wieder brauchen, lese ich überwiegend in der Freizeit, ohne darauf zu achten, wie lange ich für den Text brauche.

Wenn ich lektoriere, dann tue ich das für Kund*innen - auch wenn ich zu einigen ein freundschaftliches Verhältnis habe oder sie von woanders kenne. In diesem Moment arbeite nur ich alleine am Text (keine*r hat das Geld übrig, um mehrere Lektor*innen anzustellen, nehme ich an) und ich weiß, dass außer mir höchstens noch ein*e Korrektor*in den Text sehen wird. Und natürlich die Kund*innen.
Darum mache ich zwar deutlich, dass ich als Lektorin auch nur Vorschläge mache (ich bin Dienstleisterin, das letzte Wort am Text liegt immer bei den Kund*innen), aber ich begründe auch, warum ich meine Änderungsvorschläge für dem Texte dienlich halte.
Ich versuch dabei nicht nur, allgemeine Hilfe am Text zu leisten, sondern das Beste aus dem Text herauszuholen. Dabei bedenke ich auch die Genrekonventionen, würde sie allerdings nicht als absolute Richtlinien ohne Abweichung definieren - in der Regel habe ich Kund*innen, die das Selfpublishing gewählt haben, weil sie genau davon frei sein wollen - aber ich weiß, was Leser*innen erwarten und mache auf Stellen aufmerksam, wo diese Erwartungen z.B. clever gebrochen werden und wo man diesen cleveren Effekt noch verstärken könnte. Oder wo er abgeschwächt wird.
Ich behalte im Hinterkopf, welche Arten von Fehlern bestimmte Leser*innen tendenziell eher verzeihen als andere und mache Kompromissvorschläge.
Wenn ich - gerade bei Neukund*innen - nicht weiß, wie der theoretische Wissensstand ist, gebe ich auch schon mal Einblicke ins Schreibhandwerk, wenn ich meine Änderungen begründe, denn bei mir sollen die Kund*innen nicht nur einen besseren Text erhalten, sondern auch für den nächsten Text etwas lernen.
Ich korrigiere ausschließlich mit "Änderungen verfolgen", Kommentare nutze ich hier, um auf Hintergrundinformationen hinzuweisen oder besonders krasse Änderungen oder radikale Streichungen zu begründen. Oder auch, um darauf hinzuweisen, dass Fehler x jetzt schon zum fünften Male auftritt und es da eine Regel xy gibt, die meine Korrektur begründet.
Ich habe zwar nicht immer eine Deadline, aber da ich nach Stunden abrechne, stoppe ich beim Lektorieren akribisch die Zeit, die ich für einen Text benötige.

Was die Durchgänge angeht: Ich mache so viele Durchgänge, wie ich auch bezahlt kriege. Wenn mit einer Kundin ausgemacht ist, dass ich nach jedem Kapitel zurückschicke, sie dann die Änderungen einarbeitet und ich dann noch mal über das Überarbeitete drüberschaue, bevor ich das Nächste korrigiere, dann stelle ich diese Zeit zum Drüberschauen der Änderungen auch in Rechnung.
Wenn keine solche Staffelung ausgemacht ist und ich einfach alles einmal durcharbeiten soll, dann arbeite ich alles einmal durch, biete aber an, mich bei Fragen jederzeit per Facebook und Mail löchern zu können. Da wird auch schon mal gebrainstormt, wie man einen Vorschlag von mir am Besten umgesetzt kriegt.
Das ist für mich okay, derzeit kann ich das auch noch gut nebenher stemmen, ohne das Gefühl zu haben, mich damit auszubeuten.

Ich bin insgesamt beim Lektorieren also wesentlich präziser, punktgenauer und pingeliger, erwarte aber auch, dass der Text bereits weiter ist als beim Betalesen. Betalesen ist, einen Diamanten zu nehmen und zu zeigen, wo man am Besten feilt, damit die Facetten am Ende hübsch rauskommen.
Lektorieren ist, wenn der Diamant schon ziemlich weit ist, ich aber dem Schleier noch zeigen möchte, wie man das Ding zurechtschleifen muss, damit der Stein das richtige Feuer hat.
Aber: Seit ich freie Lektorin bin, verschwimmen die Grenzen öfter mal und ich muss mich beim Betalesen zurückpfeifen, weil ich sonst nie fertig werde und viel zu tief in Teile des Textes reingehe, die noch gar nicht so weit sind, so tiefgehend zerpflückt zu werden. Das ist so ein bisschen eine Berufskrankheit.

Wie ich freie Lektorin geworden bin: Ich lese eigentlich seit 2006 regelmäßig Beta und irgendwann bin ich dabei auf einem Niveau angekommen, bei dem ich den leisen Wunsch hatte, mit diesem Hobby Geld zu verdienen. Dann habe ich ein Verlagslektorat bekommen, dabei noch viel mehr gelernt und der Entschluss war gefasst. Es vergingen dann noch sechs Monate des Planens und der persönlichen Weiterbildung durch das Lesen von Artikeln freier Lektor*innen im Netz, Schauen von Videos, Durchdenken des Businessplans etc. Dann habe ich gegründet.
Studiert habe ich, allerdings nicht Germanistik, sondern im Bachelor Englisch und Philosophie, im Master "Weltliteratur" (ein Zweig des Studiums der vergleichenden Sprach- und Literaturwissenschaften, dabei habe ich auch ein Modul "Buchwissenschaft" belegt, um mich über den Markt zu informieren).
Interesse, Verlagslektorin zu werden, hatte ich eigentlich nie. Klar, irgendwann mal selbst das Programm eines Verlags mitzugestalten hätte schon was, aber ich liebe wirklich die Textarbeit an meinem Beruf. Und ich habe mal geleakt bekommen, wie wenig pro Normseite man z.B. bei Lübbe kriegen würde. Und naja, da bin ich als Freelancerin finanziell besser gestellt.

ZitatWie also wird man Lektor? Durch lektorieren, und zwar möglichst viel davon. Erst unter Anleitung, dann alleine.
Oder als Autor. Wenn ich genügend Lektorate hatte, kann ich's wahrscheinlich auch.
Exakt so :). Noch ehe ich den Berufswunsch hatte, kam bei mir auf 1 Normseite Text schon mal drei Normseiten mit meinen Anmerkungen.