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Protagonist bleibt im Hintergrund - ist das möglich?

Begonnen von Philian, 06. Oktober 2018, 09:33:33

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Philian

Kleiner Nachtrag für alle, die mir hier geholfen haben:
Ich habe den zweiten Handlungsstrang (den, der die Reifung der Göttin beinhaltet) nun tatsächlich aus dem Buch herausgenommen und die Rückmeldung der Leser, die sowohl die alte als auch die neue Version gelesen haben, ist überwältigend gut. Sie erkennen den roten Faden jetzt viel besser. Allerdings fehlt ihnen auch kein Hintergrundwissen, denn sie kennen die vollständige Version natürlich und wissen, was sich in der Zwischenzeit in der Welt der Göttin abgespielt hat.
Es bleibt abzuwarten, wie Leser reagieren, die das Buch zum ersten Mal lesen. Auf jeden Fall werde ich in Fußnoten erwähnen, wo der Leser die Geschichte der Göttin findet. Das versöhnt ihn hoffentlich mit der Tatsache, dass er hier nur am Rande davon erfährt, was in der Welt der Göttin passiert, während er dem Geschehen rund um den Daimon lauscht. Ich halte euch auf jeden Fall auf dem Laufenden, sobald ich neue Ergebnisse vorliegen habe.

Und dann stehe ich jetzt natürlich auch vor der Herausforderung, den Klappentext für die Geschichte der Göttin zu finden. Dabei helfen mir die hier bereits angestellten Überlegungen natürlich sehr. Ich bin gespannt, wo ich am Ende landen werde. Danke, dass ihr eure Autorenerfahrung zu diesem Thema hier mit mir geteilt habt.
Eure Emilia







Kunstmut

#16
ZitatHaltet ihr ein Buch ohne Hauptprotagonist für möglich?

Das ist nicht nur möglich, es kommt vielfach vor. Die ersten Beiträge sind solche Epen wie das indische Nationalepos Mahabharata. Sowas Ausuferndes wird auch immer wieder mal geschrieben. Zum Beispiel in China das Hong Lou Meng (dream of the red chamber) oder Marcel Prousts bewusst als nie endende Geschichte angelegtes "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Im Kontext Fantasy könnte man vielleicht Game Of Thrones heranziehen, mit all den Handlungssträngen und Charakteren. Noch bevor sich jedoch der Roman in heutiger Form entwickelte, merkten die Leute aber selber, dass eine klare rote Linie leichter zu verstehen ist. Daher folgt man im Ramayana dem Prinzen Rama und in der Odyssee Held Odysseus. Lässt sich leichter merken und macht viele verwickelte und komplizierte Angelegenheiten leicht wie eine Feder. Speziell im 20. Jahrhundert gab es diverse Experimente, um dicke Schinken in der Art von Walter Scott oder Thomas Hardy mal etwas aufzulockern. Am bekanntesten dürfte Virginia Woolf sein, "The Waves" - sechs Charaktere, und der siebte Charakter taucht nur durch das Sprechen der anderen sechs auf. Alles in Monologen geschrieben. Ich habe mal in "The Lighthouse" hineingelesen, und da merkt man richtig, wie anspruchsvoll das Lesen wird, wenn es nicht von einer klaren Handlung und zweckmäßigen Dialogen bestimmt wird. Da ist es viel leichter Robinson Crusoe zu lesen, weil man dort immer einen klaren Plan serviert bekommt und nicht übermäßig viel mitdenken muss.

Noch ein markantes Beispiel, das mir sofort einfällt: "Die Wellen ersticken den Wind" von den Strugatzkis, da wird die "Geschichte" über Tagebucheinträge, Berichte, Protokolle, klassischen Er-Erzähler und so weiter erzählt. Das Buch kann ich jedem nur empfehlen, der mal das Experimentelle auf sich wirken lassen möchte. Am Anfang muss man sich dazu zwingen, nicht das Buch an die Wand zu werfen, weil es wirkt, wie eine Aneinanderreihung eines Zeitungsberichtes über den Super Bowl, Robbensterben in der Nordsee als wichtiger Punkt auf der Tagung eines Kongresses, Pokemon Go technical support Beiträge und Liebesleiden eines Müllmanns. Am Ende muss man mitdenken, um darauf zu kommen, dass es in allen Textschnipseln um unerklärliches Wetter geht, das so nicht hätte auftreten sollen laut Vorhersage ...

Unabhängig vom konkreten Inhalt geht es bei diesem bewusst anders angelegten Roman (?), um die technische Seite.

Variante 1: Traditionelle Handlung aus Sicht der werdenden Göttin. Konsequent in ihrer Perspektive gehalten, dazwischen sozusagen Chorus oder Zwischenspiele für die Metaebene.

Variante 2: Allwissender Erzähler oder unzuverlässiger allwissender Erzähler. (Vielleicht bildet ER sich nur ein, ein Gott zu sein und sitzt in Wahrheit im Altenheim und schaut seiner Modelleisenbahn aus Bayern zu). Erzählt über die Göttin und dann wieder über alles andere. Zum Beispiel Schöpfungsmythos, die Leiden des nicht eingreifenden Werther, hundert Seiten Blick des Bambis beim Rauschen der Blätter im Wind usw.

Variante 3: Verschiedene Perspektiven, also mehrere Charaktere, sozusagen ein Manifest der Nebencharaktere. Diese Art dürfte recht akzeptabel sein, weil das Publikum das von Filmen und Serien kennt. Zum Beispiel von "Magnolia" - neun Menschen, neun Schicksale. Außerdem könnte man hier in der Geschichte jedes Nebencharakters das Wirken des Gottes einflechten, und umgeht so geschickt eine quantitativ fragwürdige Häufung bei einer einzelnen Charakterin.

Variante 4: Experimenteller Roman. Bedeutet, dass es zwischendrin sowas wie Lexikonartikel, Protokolle, Beschreibungen von Ereignissen ohne dominierenden Charakter geben muss, damit es möglichst neutral wirkt und vom Protagonisten-Denken entfremdet. Sozusagen eine Erzählweise wie durch eine Überwachungskamera, die jeden Tag immer nur eine Stunde an einem festen Platz filmt und keinen Einfluss darauf hat, wer erscheint und wie lange dieser jemand zufällig im Sichtfeld der Kamera bleibt.

Was aber am wichtigsten ist, weil ich es von meiner eigenen Leseerfahrung weiß: Je experimenteller eine Geschichte ist, desto kürzer sollte man den Text insgesamt halten, damit Leute den Text auch wirklich lesen. Und man sollte den Glanz der Prosa polieren, um ein zweites Standbein zu haben. So kann man mit cool geschriebenen Absätzen elegant über 30 Seiten Wirrwarr hinwegzaubern. Dieses Stilmittel ist sogar in "gewöhnlichen" Romanen fest verankert, man denke nur an all die Traumsequenzen oder eingestreuten Erinnerungen, die dann sprachlich sitzen, um einen Leser nicht zu verärgern. Jüngstes Beispiel, das mir gerade einfällt, ist Neil Gaiman mit "American Gods". Der wendet gerne den Trick an, zwischendrin einen zweiten, dritten, vierten usw. Roman zu beginnen und dann maximal Geschwindigkeit aufzunehmen, bevor es im eigentlichen Roman weitergeht. Das mag dann für viele Leser verwirrend, zäh und sogar ein Hindernis sein - wie man schön an den Rezensionen ablesen kann - allerdings geht das in den Bereich Geschmack. Kann ja jeder entscheiden, ob er lesen oder Lektüre will.

Mein heißer Tipp wäre jetzt: Alle zehntausend Worte den Rotstift ansetzen und sich fragen, was einem selbst dieser Abschnitt "gebracht" hat. Wenn man sofort sagen kann, dass dort Seele und Essenz und Achterbahn war, darf es bleiben. Wenn es einfach nur zäh und langweilig war, sollte man radikal streichen und löschen und nicht mehr drüber reden. Die Lesezeit sinnvoll zu gestalten, ist das mächtigste Werkzeug von allen.