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Respekt vor Sprachvarietäten

Begonnen von Nikki, 13. Februar 2020, 10:03:57

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Waldhex

Zitat von: Nikki am 22. Februar 2020, 16:22:38

ZitatDas ist für mich so ein eklatanter Unterschied wie beim "gesessen". Ich bin gestanden -> stand eben auf meinen Füßen. Ich habe gestanden --> ich habe etwas zugegeben.

Würdest du in der schriftlichen Form, also als Autor*in, ebenso auf diese Anwendung bestehen? Ich bin da übrigens ganz bei dir. Ich rede und schreibe so.

ZitatAls Frage zum Thema;
Was sagt Ihr so? Semf - Senf - oder Mostrich?

Senf.  :) Mostrich meine ich gehört zu haben, wüsste aber nicht, was das Wort bedeutet. Semf würde ich für einen Rechtschreibfehler halten. Das gilt auch für Blag. Bis dato kannte ich nur Balg und hielt das Wort für einen Verschreiber.

Zitat... und "das Brötchen" hab ich auch noch. Hier gibt es verschiedene Varianten der Anwendung und Gebrauch des Wortes.

Ich könnte Brötchen nie verwenden. Für mich outet der Text sich als Bundesdeutsch, wenn ich dieses Wort lese. Genauso wie Semmel aber für mich Standard ist, weiß ich, dass für jede nicht-österreichische Person sich dieses Wort als "dialektal" liest. Darum würde ich, wenn ich mich wirklich einem "neutralen Hochdeutsch" annähern wollen würde, Gebäck schreiben.


zur ersten Frage: ja wenn es die Zeitform verlangt, kommt in meinen Krimis schon "er hat gestanden" für er hat es zugegeben.

Mostrich kenne ich als veraltete Form für Senf, die im schwäbischen aber nicht unüblich war (Moschtrich ausgesprochen). Normalerweise sage ich Senf, außer ich will meinen Mann etwas ärgern, dann natürlich Sempf.

In einem Roman würde ich wohl Brötchen schreiben, sagen eher nein. Das ist hier ein Weckle. Wenn ein Schwabe von "Bretla" redet, ist damit süßes Weihnachtsgebäck, also Plätzchen gemeint.  ;D

Nikki

Zitatzur ersten Frage: ja wenn es die Zeitform verlangt, kommt in meinen Krimis schon "er hat gestanden" für er hat es zugegeben.

Also bleibst du der süddeutschen Variante treu. :)

ZitatIn einem Roman würde ich wohl Brötchen schreiben, sagen eher nein. Das ist hier ein Weckle. Wenn ein Schwabe von "Bretla" redet, ist damit süßes Weihnachtsgebäck, also Plätzchen gemeint.  ;D

Hihi Weckerl gibt es in Ö auch, für mich besteht da aber eine leichte Bedeutungsverschiebung zu Semmel oder Brötchen. Weckerl sind oft gefüllt mit Wurst, Salat, Käse etc., eine Semmel ist für mich aber leer, solange nicht Wurst- oder Käse- davor steht. Auch sind Weckerl eher aus einer Vollkornmischung gefertigt, wohin gegen Semmeln überwiegend aus Weißmehl hergestellt werden.

Dann gibt es noch den Wecken Brot. Ist für mich fast ein Synonym für ein Laib Brot.

Zauberfrau

 ;D Zum Thema Weckle / Weckerl:

Kennt Ihr das Pfalz-WWW? Weck, Worscht unn Woi

Ist bei uns sowas wie eine stehender Ausdruck (wahrscheinlich in Mainz beheimatet, wenn ich hier so google...).
Und es gibt eine Comic-Serie, bei der Weck (ein Brötchen), Worscht (eine Wurst) unn Woi (eine Weinflasche) die Protagonisten sind... Gibt es sogar in gebundener Form: https://www.amazon.de/WWW-Die-Abenteuer-Weck-Worscht/dp/3937329544

Ach ja, über Dialekte und Ausdrucksweisen im deutschsprachigen Raum lässt sich wirklich viel erzählen  :wolke:

Anj

Also Gebäck ist bei mir in der Gegend Kuchen und Süßes Zeug, aber darunter fallen keine Brötchen. Da ich recht nahe an Hannover und damit sehr dialektarm aufgewachsen bin, würde ich das als neutral empfinden, Gebäck für Brötchfn wäre für mich ein unidentifizierbarer Dialekt, da meines Empfindens nach eben eine falsche Vokabel. :hmmm:
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.

Nikki

ZitatAlso Gebäck ist bei mir in der Gegend Kuchen und Süßes Zeug, aber darunter fallen keine Brötchen. Da ich recht nahe an Hannover und damit sehr dialektarm aufgewachsen bin, würde ich das als neutral empfinden, Gebäck für Brötchfn wäre für mich ein unidentifizierbarer Dialekt, da meines Empfindens nach eben eine falsche Vokabel.

Interessant  :hmmm:

Araluen

#80
Ich verbinde mit Gebäck auch etwas Süßes und kein Brötchen. Brötchen ist für mich neutral. Semmeln stehen hier in Thüringen konkret für Doppelbrötchen (zwei kleine Weizenbrötchen, deren Teiglinge vor dem Backen zusammengeklebt werdeb), außer man besteht auf einfache Semmeln ;). Der Berliner Schusterjunge ist übrigens ein dunkles Roggenbrötchen. Aber ich glaub über Backwaren und deren Bezeichnungen kann man ewig philosophieren ;)
Zu Teenager Zeiten haben mich die Freiburger (im Breisgau) Bäcker wahnsinnig gemacht mit ihren Milchweckle und Wasserweckle (ich war nur zu Besuch in der Stadt), bis ich aus lauter Trotz zehn Schrippen verlangt hab  ;D
Ich bin in Berlin geboren mit Wurzeln in NRW und lebe mittlerweile in Thüringen... und spreche ein bunt durchmischtes Kauderwelsch (auch aus Regionen, die ich maximal aus dem Urlaub kenne) mit hohem Bundeshochdeutsch Anteil ;)

Nikki

ZitatIch bin in Berlin geboren mit Wurzeln in NRW und lebe mittlerweile in Thüringen... und spreche ein bunt durchmischtes Kauderwelsch (auch aus Regionen, die ich maximal aus dem Urlaub kenne) mit hohem Bundeshochdeutsch Anteil

Aber die Frage ist doch: Was schreibst du? ;D

Araluen

Bundeshochdeutsch, soweit ich das einschätzen kann. Dialekte verwende ich nur in wörtlicher Rede und das nur sehr sparsam. Meist entscheide ich mich da je nach Figur für ein bestimmtes Konstrukt, an das ich mich für denjenigen halte. So wirkt es lokal, ohne unleserlich/anstrengend zu werden.

Nikki

Hier ein Beispiel, das mich verwirrt: Rabensommer von Elisabeth Steinkellner (österreichische Autorin), erschienen bei Beltz&Gelberg, ein Jugendbuch.

Es wird "Matura" geschrieben, es kommt klar heraus, dass es sich um den Schulabschluss, den die meisten mit 18/19 machen, handelt und dennoch fühlte sich jemand bemüßigt eine Fußnote mittels * zu setzen, die lautet: Matura ist das österreichische Abitur. Es handelt sich um kein Sachbuch, die Fußnote ist in dem Fall überflüssig, v.a. weil die Bedeutung des Wortes in dem Kontext auch sehr klar ist.

Einerseits wird die süddeutsche/österreichische Variante der Perfektbildung von "sitzen" verwendet, andererseits die bundesdeutsche bei "stehen". Wörter wie Kasse und Brötchen werden verwendet, aber auch "zusammenklauben" im Sinn von "aufsammeln".

Mich beschleicht das Gefühl, dass sich hier jemand nicht entscheiden konnte oder es sogar schlichtweg egal war, welches Hochdeutsch man anwendet. Wie wirken solche Texte auf euch? Ich fühle mich beim Lesen unrund.

Aber ja. Bücher wie diese sind vielleicht Indizien dafür, was einige von euch bereits angemerkt haben - dass ein globales Hochdeutsch existiert/entsteht. In diesem Fall würden alle bundesdeutschen/österreichischen/Schweizer etc. Möglichkeiten gleichberechtigt zur Verfügung stehen und ein buntes Potpourri entsteht. Das ist Sprachwandel live.  ;D

Ahneun

Zitat von: Nikki am 24. Februar 2020, 14:21:54
In diesem Fall würden alle bundesdeutschen/österreichischen/Schweizer etc. Möglichkeiten gleichberechtigt zur Verfügung stehen und ein buntes Potpourri entsteht. Das ist Sprachwandel live.  ;D

Na ja, dafür gibt es auch ein Wort. Ich nenne soetwas "Kauderwelsch". Dabei,  :hmmm: ich stelle mir gerade selbst die Frage ob dieses Wort überall bekannt ist.

Aber, ich glaube herauszulesen was Du zum Ausdruck bringen möchtest. "Brötchen oder Semmel, Matura oder Abitur, zusammenklauben, auf Arbeit oder in die Arbeit gehen, da bin ich gesessen" usw., - ja, da kann man verrückt werden. Weil man nicht weiß, wie es letztendlich nun aufgeschrieben werden soll um es Allen Recht zu machen.
- Ein Diamant
ist

Nikki

Zitat von: Ahneun am 28. Februar 2020, 04:56:46

Na ja, dafür gibt es auch ein Wort. Ich nenne soetwas "Kauderwelsch". Dabei,  :hmmm: ich stelle mir gerade selbst die Frage ob dieses Wort überall bekannt ist.


Uff, also mir ist dieses Wort viel zu hart in dem Kontext, v.a. weil es das Phänomen meint, wenn zwei Sprachen gemischt werden. Die bundesdeutsche und österreichische Standardvarietät unterscheiden sich vielleicht in vielen Dingen, nicht aber in so vielen, dass man von zwei eigenständigen Sprachen sprechen könnte. Und so verworren, dass er unverständlich ist, ist der Text auch nicht, um Kauderwelsch zu rechtfertigen. Er ist verständlich, doch nicht konsequent. Ich persönlich würde zum Beispiel nie die bundesdeutsche Perfektbildung (hat gestanden) mit der österreischichen/süddeutschen (ist gesessen) in demselben Text verwenden - entweder das eine oder das andere. Es geht hier um die Erwartungshaltung. Lese ich einen Text, der mir als "österreichisch" verkauft wird, weil von einer österreichischen Person geschrieben, weil in einem österreichischen Setting, dann aber die bundesdeutsche Perfektbildung zur Verwendung kommt, fühle ich mich verschaukelt. Genauso wie die Verwendung von bundesdeutschen Vokabeln wie "Brötchen". Allerdings gibt es durchaus deutsche Personen, die in Österreich leben oder aufgewachsen sind, sodass man argumentieren könnte, für die ist Brötchen und jene Perfektbildung die adäquate Option. Im Zuge der zunehmenden Vernetzung kann es dazu kommen, dass eindeutige Marker des Bundesdeutschen, Süddeutschen, Österreichischen, Schweizerischen etc. Eingang in andere Standardvarietäten finden, sodass gar nicht mehr so leicht zu sagen ist, was für ein (Hoch-)Deutsch das jetzt ist. Im Endeffekt geht es um die Gewöhnung. Wenn genügend Texte in der jeweiligen Art produziert werden, werden sich auch genügend Menschen geben, die diese geren rezipieren und selbst reproduzieren.

ZitatWeil man nicht weiß, wie es letztendlich nun aufgeschrieben werden soll um es Allen Recht zu machen.

Auf mich machte dieses Buch den Eindruck, dass die Autorin dazu stehen wollte, in Österreich zu leben und zu schreiben, aber das bundesdeutsche Publikum auch nicht ganz vergraulen wollte und sich deswegen stellenweise angebiedert hat. Wer weiß, für manche liest sich dieses Buch womöglich total ausgewogen und führt zu keinerlei Irritation.

Nikki

Auch hier möchte ich nochmal auf das Buch von Adrian Leemann, Stephan Elspaß, Robert Möller, Timo Grossenbacher: Grüezi, Moin, Servus! (2018) hinweisen, das auf die Spiegel-Umfrage bzw. des Quiz von 2015 zurückgeht.

Der interaktive Sprachenatlas scheint nicht mehr verfügbar zu sein, Ausschnitte der Landkarten, wo welche Begriffe im deutschsprachigen Bereich (Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol werden auch berücksichtigt!) verbreitet sind, sind im Buch abgedruckt. So lässt sich nachvollziehen, welche Sprecher*innen man mit der Wahl bestimmter Ausdrucksweisen in erster Linie anspricht. Das Buch ist einen Blick auf jeden Fall wert!  :vibes:

Churke

Den praktischen Nutzen für Autoren halte ich für begrenzt. Das lässt sich ja nicht an einzelnen Wörtern festmachen, sondern betrifft auch und gerade den Satzbau und die grammatischen Strukturen. Um das bewusst nachzubauen, muss man in der Materie schon sehr tief drin stecken. Die meisten tun das unbewusst und fühlen sich unsicher, weil sie das eigentlich nicht wollen.
Ein Autor sollte den Mut haben, seine sprachlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Wenn es authentisch wirkt, wird sich niemand beschweren. Aber Anbiederungen sind peinlich. 

FeeamPC

Abgesehen davon, dass Kenntnis und Gebrauch mancher Wörter nicht nur von der Region abhängen, sondern auch vom Alter des Autors oder Lesers. je älter man ist, desto größer die Chance, dass man mit verschiedenen Varianten von Bezeichnungen zusammengetroffen ist. Zusammenklauben ist mir jedenfalls (total norddeutsch) ein geläufiger Begriff. Und ich kenne sowohl den Feudel als auch das Wischtuch als auch den Aufnehmer.
Was anderes ist es, wenn ich eine andere Sprache verwende (Plattdeutsch). Oder ist euch das Mieghämmelken ein Begriff? (Ameise)

Nikki

Zitat von: Churke am 22. Juli 2020, 15:09:50
Den praktischen Nutzen für Autoren halte ich für begrenzt.

Jedes Buch, das den eigenen Horizont erweitert, ist für Autor*innen dienlich. Jede Person entscheidet, welche Prioritäten sie setzt, um sich weiterzubilden.

Zitat von: Churke am 22. Juli 2020, 15:09:50
Aber Anbiederungen sind peinlich. 

Was sich informieren darüber, welche Wörter auf Verständnis bei welchen Leser*innen (ausgehend von der Regionalität) stoßen, mit sich anbiedern zu tun hat, erschließt sich mir nicht.  :hmhm?:
Hängst du dich an diesem Satz auf?

ZitatSo lässt sich nachvollziehen, welche Sprecher*innen man mit der Wahl bestimmter Ausdrucksweisen in erster Linie anspricht.

Hierbei ging es mir um die Entscheidung, für welche Bezeichnungen ich mit entscheide, wenn mehrere zur Auswahl stehen. Synonyme, die andere Wörter 1:1 ersetzen, gibt es quasi nicht, weil mit jeder anderen Bezeichnung andere Aspekte mitschwingen. Als Autor*in ist es meine Aufgabe, den geeigneten Begriff für jede Szene, jeden Dialog, jeden Satz zu finden. Im besten Fall sollte man im Kopf haben, wie Wörter auf Personen wirken, die nicht man selbst sind. Das heißt, es gilt Kompromisse zu finden, Wörter zu finden, die das ausdrücken, was ich sagen will und idealerweise einer möglichst breiten Leser*innenschaft bekannt sind, ohne langwierige Erklärungen geben zu müssen. Denn im besten Fall weiß ich, was ich sagen will und muss mich nicht lange erklären. ;)

Viele Austriazismen waren mir im Vorfeld nicht bewusst, weil sie für mich eben zu dem Standarddeutsch gehören, mit dem ich aufgewachsen bin. Ein Buch wie das oben zitierte, hilft, das Sprachgefühl zu sensibilisieren, nicht nur für die Erzählstimme im Text, sondern auch für die Figuren. Ein*e gebürtige Wiener*in, di*er wohlbehütet in einem exklusiven Umfeld mit internationalen Verbindungen aufgewachsen ist, wird andere Wörter verwenden, als ein*e Wiener*in, di*er die Kindheit in Wirtshäusern am Land verbracht hat.

Zitat von: Churke am 22. Juli 2020, 15:09:50
Ein Autor sollte den Mut haben, seine sprachlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Wenn es authentisch wirkt, wird sich niemand beschweren.

Sprachliche Möglichkeiten ergeben sich indem man sich fortbildet und als ein Teil dieser Fortbildung sehe ich ein Buch wie dieses, das sprachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten abbildet.
Authentizität entsteht durch Empathie und auch die ist keine absolute Größe, sondern muss erst entwickelt werden.

@FeeamPC

Natürlich spielen Bildungsgrad, Alter, sozialer Hintergrund etc. ebenso eine Rolle im Wortschatz des Textes und dessen Figuren. Das ist alles differenziert zu sehen. Bücher, die sich in erster Linie auf die regional abgrenzbaren Standardvarietäten konzentrieren, verallgemeinern auch und lassen diese Aspekte womöglich außer Acht. Ich denke, das liegt daran, dass Daten diesbezüglich einfach leichter nach regionalen Parametern zu erheben sind als nach den oben angeführten, die teilweise abstrakter ausfallen und somit schwerer zu fassen sind. Im Buch gab es eine Handvoll Wörter, da wäre die bundesdeutsche Variante die natürlichere für mich gewesen als die wienerische. Wir sind halt doch alle Individuen, die in grob gefasste Kategorien zusammengefasst werden, um verallgemeinernde Aussagen zu tätigen, die Trends abzeichnen. Dieses Buch pachtet auch nicht absolute Weisheit, es ist ein Teil eines Diskurses für jene, die sich für die deutsche Sprache und ihre Ausprägungen unter ihren Sprecher*innen interessieren.