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Hütet euch vor Orks oder war Tolkien ein Rassist?

Begonnen von Maria, 10. September 2019, 13:20:56

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Schneerabe

ZitatOhne ihn in Schutz zu nehmen. Oder es mir einfach machen zu wollen. Aber vielleicht sehen wir in unserer heutigen, sensiblen Zeit auch zu viel. Zu seiner Zeit hat er sich sicher nicht gefragt, ob er political correct schreibt. Aber wir können es heuteund sollten das auch.

Ohne den gesamten Diskurs zu kennen (er ist eben schon recht lang) eckt @Barra etwas an meine eigene Sichtweise an. Als Geschichtsstudent möchte ich immer ganz gern alles im historischen Kontext der jeweiligen Zeit verstanden wissen, die ganz andere Voraussetzungen für eine Weltsicht bot und in der man schlicht nicht so sensibel für solche Themen war und auch andere Dinge als ,,offensive" galten als heute. Generell ist meine (quellenmäßig unbelegte) Vermutung schlicht, dass Tolkien als Professor und extrem mythenkundiger Mann bei den Orks schlicht und ergreifend aus dem ,,Urmaterial aus aller Welt" geschöpft hat. Denn deformierte Riesengestalten, die recht einseitig das Böse darstellen, gibt es in den Mythologien zahlloser Völker der Welt. Und da Tolkien, wenn ich mich recht entsinne, mit Mittelerde auch ein wenig eine Kunstmythologie schaffen wollte, ist es nur verständlich, dass er dafür auf klassische Mittel und altbekannte Topoi zurückgreift, die Menschen schlichtweg ,,instinktiv" verstehen. Dieses ,,klassische Gefühl" im Sinne von etwas vertrautem und irgendwie bekanntem ist ja vermutlich auch der Grund, aus dem Mittelerde so hohe Wellen schlug - es spielt so geschickt mit den alten Topoi von Mythologien und verwebt sie in eine neue Welt.

Ich sehe auch eher die Gefahr, dass man heute zu viel in Dinge aus der Vergangenheit hereininterpretiert, die damals unter ganz anderen Vorzeichen standen und komplett anders aufgefasst wurden. ,,Bitte beachten Sie den historischen Kontext" würden meine Professoren sagen.

Ich finde derlei Anschuldigungen schwierig, und es stößt mich irgendwie ab, Leute post mortem auf die Anklagebank zu setzen. Fragen kann man sie nicht mehr, erklären können sie sich auch nicht und in ihr überkommenes Werk kann man dieses und jenes reininterpretieren, denn letztlich lässt sich fast jeder Standpunkt irgendwie begründen. Sofern sich in Tolkiens Briefen (ich glaube, er hat sehr viele geschrieben) keine unbestreitbaren Anzeichen von Rassismus zeigen, sehe ich für mich persönlich keinen Grund, ihm irgendetwas zu unterstellen, aber das ist nur meine Meinung.
"To hell or to Connacht."

Trippelschritt

Ich sehe schon, ich kann mich nicht verständlich machen. Schade drum.
Macht aber nichts. Ich bin draußen.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Angela

Wisst ihr was, bei all den Diskussionen hier finde ich es ungeheuer angenehm, keinen rassistischen Müll lesen zu müssen. Wir sind uns alle einig, dass wir diesen Mist hinter uns lassen wollen und das ist schon sehr viel wert.

canis lupus niger

Zitat von: Trippelschritt am 13. September 2019, 11:17:43
Zitat von: Guddy am 13. September 2019, 09:51:52
Rassismus ist real. Wir müssen ihn nicht auch noch in der Fiktion reproduzieren.
(Rassismus innerhalb der Welt ist wieder eine andere Geschichte. Um die geht's aber ja nicht.)

Wirklich nicht?
Wenn es Rassismus zu allen Zeiten gegeben hat, dürfen wir ihn dann aus unseren Geschcihten ausblenden?

Ich stelle diese Frage nicht ohne Grund. Ich arbeite gerade an einem Projekt, in dem der Rassismus eine zentrale Rolle und für viele Dinge entscheidend ist. Fiktion reproduziert Realität und verändert sie.
Meine Position ist, dass wir uns dem Rassismus stellen müssen.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Wir alle sind (mehr oder weniger) Rassisten, egal, aus welchem Land unsere Eltern oder Großeltern oder Urgroßeltern stammen. Wir haben Klischees im Kopf und Herzen, die wir nicht gut genug kennen und hinterfragen. Und wir besitzen Instinkte und Verhaltensweisen, die in unserer Stammesgeschichte als Primaten das Überleben unserer Spezies gesichert haben, die aber in einer überbevölkerten Welt ohne Grenzen reinen Sprengstoff darstellen. In verhaltensevolutionären Maßstäben gemessen haben wir gerade eben erst angefangen, Kleidung zu tragen und mit diesem heißen Zeug, das ganze Landschaften verbrennen kann, zu experimentieren. Wir Menschen werden so gesehen nicht artgerecht gehalten.

Zivilisation ist die Kunst, diese urtümlichen Verhaltensweisen und Maßstäbe unter Kontrolle zu halten. Dazu muss man sie kennen und verstehen, vor allem an sich selber.

Aus diesem Grund halte ich es für verfehlt, nur über politisch korrekt handelnde, denkende und aussehende Menschen/Wesen in einer politisch korrekten Welt zu schreiben. Das wäre nicht nur sterbenslangweig, sondern auch sinnlos. Erstens gibt es solche Menschen nicht, und zweitens kann man anhand dieser charakterlosen Charaktere nicht erkennen und werten lernen, ob sich jemand nachvollziehbar, richtig oder falsch verhält.

GRR Martin legte Tyrion Lennister die Aussage in den Mund, dass er so viele Bücher lese, um seinen Geist daran zu schärfen wie ein Schwert. An etwas widerstandslosem, widerspruchslosem kann man aber nichts schärfen. Man erkennt nicht mal, dass das Schwert stumpf ist.

Eine Geschichte im Kontext der Zeit und des Umfeldes ihrer Entstehung zu lesen, die Intention des Autors zu kennen oder zu erkennen und eventuell zu werten, diese Wertung eventuell wiederum zu hinterfragen, ... das ist für mich ein Weg, die sozialen, kulturellen, religiösen Abgründen zu erforschen, die das Menschsein ausmachen. Und auch ein Weg, diese Erkenntnisse in meinen eigenen Geschichten umzusetzen, vielleicht damit diese ebenfalls gelesen und gewertet werden. Jede Veröffentlichung ist auch immer ein bisschen eine Offenbarung meiner eigenen Abgründe und Fehler.

Natürlich enthalten auch die besten Geschichten (und damit meine ich nicht meine eigenen) Klischees und Vorurteile. Wie sollten sie das nicht? Vor allem, wenn sie erklärtermaßen aus alten Sagen und Mythen antiker Kulturen erschaffen wurden, die ja die Essenz der Vorstellungen dieser Völker sind, müssen sie ja auch die antiken Werte dieser Kulturen widerspiegeln. Wer hätte sich nicht schon einmal über die pseudo-emanzipierten Frauen aus pseudomittelalterlichen "Beruf*innen"-Romanen geärgert?






Kunstmut

#64
Vorab, ganz wichtig: Das ist nur meine eigene, äußerst subjektive Sicht auf die Dinge. Speziell in den letzten Absätzen, wenn ich Vermutungen anstelle, wohin diese doch sehr verzerrte und schräge Debatte der ideologischen Gilden noch hinführen mag. Man mag mir das Hüpfen und Schlingern der Gedanken nachsehen, da ich hier Bewusstseinsstrom schreibe. (Aus Pragmatismus, sonst würde ich mit dem Umschreiben des Beitrages niemals fertig). Man betrachte das Folgende als aufflackernden Input. Falls es überhaupt nicht passt, könnt ihr es gerne ignorieren oder löschen, bevor noch jemand denkt, ich meine das hier todernst.

***


Das ist doch mal ein schöner, zivilisierter Austausch von Meinungen und Ansichten. Nachdem ich jetzt alles durchgelesen habe, möchte ich einige Anmerkungen hinzufügen. Zuerst zur provokanten Frage des Threads. Nein, Tolkien war kein Rassist als Mensch, wenn wir unter Rassismus die Nutzbarmachung des Sozialdarwinismus verstehen ("survival of the fittest"), die in ihrer pervertierten Form die Menschheit geopolitisch in rassische Siedlungsgebiete einteilt (in moderner Form beim AfD Politiker Höcke nachzulesen, der mal vom afrikanischen Ausbreitungstyp schwadronierte, der angeblich sexuell aktiver, aber zeitgleich arbeitsfauler sei als andere Typen. Das ist Rassismus im klassischen Sinne). Übrigens eine Einteilung, die bei den USA noch heute der Fall ist, nur, falls sich schon mal jemand gefragt hat, warum zum Beispiel eine tschechische Schauspielerin (beliebiges Beispiel) mit "caucasian ethnicity" beschrieben wird, obwohl die Evolutionsbiologie mit ihrem harten Kern der naturwissenschaftlichen Molekulargenetik schon längst im Chemielabor herausgefunden hat, dass alle Menschen zu etwa 99% ähnlich sind. Die Ergebnisse kamen meines Wissens irgendwann in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts auf, dank dem DNA-Modell von James Watson und Francis Crick. Seit es das Modell mit seiner Überprüfbarkeit gibt, kann man anschaulich nachweisen, dass zum Beispiel Chinesen, Indonesier, Japaner oder Afrikaner nicht anders sind als wir Europäer, obwohl es äußerliche Unterschiede gibt wie Tönungen der Hautfarben, breitere Nasen oder fehlende Augenlider (wikipedia: Epikanthus medialis; einfache - doppelte Oberlidfalte). Untersucht man Speichelproben oder Blut im Labor, entpuppt sich dieser pseudobiologische Rassismus als Humbug.

Wir müssen also erstmal feststellen, dass wir hier nicht vom klassischen Rassismus reden, sondern vom soziologischen oder kulturellen Rassismus, ausgehend von der "black community" mit ihren spezifischen Erfahrungen der Rassentrennung in den Südstaaten der USA (getrennte Waschbecken für weiße und schwarze Menschen aufgrund fanatischer Ängste vor Krankheiten sind das bekannteste Beispiel). Dazu kann man noch die spezifische Erfahrung der Südafrikaner während der Apartheid rechnen und die typischen Erfahrungen von Wirtschaftsmigranten, zum Beispiel Iren, die in Ellis Island, vor Einreise in die USA anders behandelt wurden und später in eigenen Stadtteilen lebten. Dieser Hinzuzug von "Ausländern", die eine andere Sprache sprechen, andere Traditionen mitbringen und ja, andere Feiertage und Religionen mitbringen, gipfelt in dem berühmten Wort "melting pot" (Schmelztiegel der Kulturen). Dieser soziologische oder kulturelle Rassismus hat in den USA Republikaner Trump an die Macht gebracht und im United Kingdom den Brexit herbeigeführt. Beide Länder haben panische Angst vor Menschen, die anders aussehen, nämlich Kopftücher tragen, eine andere Sprache sprechen, nämlich einen der vielen arabischen Dialekte, und an eine andere Religion glauben und in anderen religiösen Gebäuden zur religiösen Einkehr sich einfinden. In den USA gibt es den muslim ban oder gab es den muslim ban, mit dem Menschen aus dem arabischen Raum kaum noch einreisen können, mit perfiden Fragebögen getestet werden und am Flughafen extra hart mit "racial profiling" von der Polizei kontrolliert werden. Das wird einem Deutschen, einem Schweden oder Spanier nicht passieren. Und im UK schließt man Wirtschaftsmigranten auch aus, seit Jahrzehnten tobt der Kampf zwischen alten Weißen Männern und Frauen auf dem Lande und jungen Menschen aus zum Beispiel Bangladesh oder Pakistan in den Großstädten wie London, die daher kosmopolitisch sind. Ein kultureller Rassismus, der übrigens in Deutschland auch geführt wird, wenn der in der Regierung sitzende Gesundheitsminister versucht, Pflegekräfte aus Polen oder Rumänien zu bekommen, weil Deutsche ja keinen Bock haben für schlechten Lohn "alten Leuten den Arsch abzuwischen". Auch das ist in der Mentalität kultureller Rassismus. Die konstruierte Gruppe der Anderen, zum Beispiel der Polen, ist gerade gut genug, diejenige Arbeit zu machen, für die wir Deutsche uns zu edelmütig und nobel vorkommen.

Schaut man auf den "klassischen Rassismus" hat Tolkien damit nichts am Hut. Er hatte sogar anfangs gar keinen Bock, mit einer deutschen Übersetzerin zu arbeiten, weil die ja aus Nazideutschland kam. Der kulturelle und soziologische Rassismus ist dagegen im Herrn der Ringe vorhanden (oder sollte man sagen, der philologische Rassismus bei der Übertragung spezifischer Vokabeln und Grammatiken auf Wissen, Verhalten und Selbstverständnis einer Ethnie in einer fiktiven Welt?) genauso wie man diese Formen auch in der Bibel findet oder bei allen Büchern, die vor dem 21. Jahrhundert erschienen sind. Und ja, auch in aktuellen Büchern wird es so weitergehen, und man kann fast gar nichts dagegen machen. Wie auch? Mit dem Mandat der Sensibility Reader alle Bücher, die bei Prüfung durchfallen, irgendwie verbieten? Alle Druckerpressen und Indie-E-Book-Anbieter überwachen und löschen? Der Versuch ist wohl richtig und mutig und kühn. Bis dann ein Einzelexemplar wie Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" mit all seiner rassistischen Verklemmtheit ein Millionenpublikum erobert. Aber an sich scheitert die Überprüfung doch schon an den schwammigen und vagen Definitionen. Wo fängt Empfindlichkeit an und was ist noch im Bereich des Derben, des Zotigen? Was ist nur ein altes ausgelutschtes Klischee und wo beginnt Jim Crow, samt Schwarzfärberei der Gesichter. Jedes Jahr kommen im katholischen Deutschland die Sternsänger und singen was vor und malen mit Kreide ihre Symbole für Caspar, Melchior und Balthasar in den Türrahmen. Ein süßes, kleines Ritual der Tradition, das Glück stiften soll, und dennoch, muss sich eins der Kinder das Gesicht schwarz machen. Ist das nur unschuldiges Schminken oder rassistisch konnotiertes blackfacing, um den Stereotyp eines schwarzen Menschen nach okzidentaler Träumerei zu schaffen? Dazu süß verniedlicht von Kindern dargeboten, denn die sind so naiv, dass sie nicht merken, wie sie zur Ergötzung konservativer Menschen, meist Kirchenväter, kulturell missbraucht werden.

Im Übrigen vertrete ich die Minderheitenmeinung, wonach die Kontrollen in der Welt der Literatur extrem scharf und genau sind. Jedenfalls dominieren in den bekannten Buchhandlungen eigentlich fast nur Bücher, die rechtsextreme Kreise als "Gutmenschen-Fake-News" bezeichnen würden. Also Bücher von z.B. syrischen Flüchtlingen aus eigener Perspektive voller Humanismus und Empathie. Und falls jemand das komplette Gegenteil schreibt, nämlich faktisch unwahr, voller Ressentiments und menschlicher Boshaftigkeit beißen doch die Medien zu und stellen die Person an den Pranger. Es existiert eine regelrechte Empörungskultur, die aggressiv Stimmung macht, wenn angeblich irgendwo Rassismus entdeckt wurde. Was dann die Fälle, in denen der Aufschrei berechtigt war, relativiert. Das kann man mit Dopingkontrollen im Sport vergleichen. Nur, weil es da hin und wieder mal Probleme gibt, heißt das nicht, dass da alle schlafen. Ehrlich gesagt hasse ich diese amerikanische Arroganz, die meint, sie seien die ersten Leute überhaupt, die mit Samthandschuhen an Texte herangehen und problematische Bedeutungen, Muster, Assoziationen usw. entdecken. Ich hab hier zufällig so eine DDR-Version von Robinson Crusoe, die den Roman im Vorwort nach marxistischer Lesart komplett als scheinheiliges Heldentum dekonstruiert. Dort ist die sensibility nicht etwa die rosarote Brille der Feministinnen oder der black community, sondern die rosarote Brille der revolutionären Arbeiter, die überall die Unterdrückung durch Bourgeoisie und Kapital sehen und darauf hinweisen, wie ein weißer Mann auf eine Insel geht, dort sein Territorium beansprucht und später Menschen tötet oder versklavt und an Handelsgesellschaften weiterverkauft, weil die vorgeblich "wilden Menschen" Analphabeten sind, die leider ihr eigenes Gebiet und ihre Menschlichkeit nicht mit Grundbesitzverträgen und Pässen bei den Ämtern des British Empire nachweisen können.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht erinnert mich die gesamte Diskussion an den Streit zwischen Realismus-Autoren im aufkommenden Positivismus während der Industrialisierung (langes 19. Jahrhundert) auf der einen Seite und den Autoren der Moderne auf der anderen Seite. Bei den einen Autoren liest man dann bis ins Detail die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft, was im Fall Charles Dickens auch Auswirkungen auf Gesetzgebungen hatte, um die sozialschwachen Schichten besser zu stellen. Bei den anderen Autoren verwandelt sich dann ein Mensch in ein Insekt oder verschiedene Wahrnehmungsebenen oder surreale, nicht mit der Realität in Eintracht stehende Elemente werden auf einmal wichtig. Im postmodernen Text geht das Ganze dann soweit, dass der Erzähler selbst nicht mehr die Wahrheit sagen muss. Verzerrte Erinnerungen, unzuverlässiges Erzählen, alles kann erfunden sein, Wahrheit und Lüge verhäkeln sich zu einem Seemannsgarn, das so gut gemacht ist, dass kaum noch jemand weiß, was man an solchen Romanen ernst nehmen kann, was feinsinnige Ironie oder gar Provokation oder bewusster Versuch zur Manipulation ist.

Ich möchte damit niemandem auf den Schlips treten, sondern lediglich den Blick in eine Zukunft geben, in der sich zwei große Richtungen feindlich gegenüberstehen könnten. Auf der einen Seite der 'literarische Sensibilismus', der jeden Text hypermoralisch und politisch korrekt antastet, und bei dem leisesten Wehwehchen des tausendsten Testlesers sofort umschreibt und alles brav und devot und sittlich macht. Prädikat wertvoll - Literatur, gewinnt jedes Jahr dann den Preis für Pädagogik, kultureller Vermittlung, Menschenrechte, Humanismus und blah blah. Aber in der Masse wird es kaum gelesen und geht irgendwie irgendwo unter. Auf der andere Seite der 'literarische Anarchismus', bei dem die Leute über das Schreiben, worauf sie Lust und Laune haben. Im Prosastil werden sich dort Fäkalworte und Umgangssprache finden und Handlungen und Charaktere werden den Vorlieben und Launen, nicht dem Idealbild der sittlichen Soziallehrerin unterworfen. Anstatt überbetont Rücksicht zu nehmen, gewinnt die Trump-Methode. Wenn alle verunsichert sind und ihre Texte in Watte packen, gewinnt eben derjenige, der mit der literarischen Kettensäge derbe draufhaut, der sich nicht zurücknimmt und versucht, an Vorgaben zu halten. Wenn die Fronten richtig hart werden, kommt der Krieg der "social justice warriors" oder "they/them sensibility minority" (der erste Begriff wird ja mittlerweile leider als Beleidigung verwendet) gegen die Rüpel. Und dazwischen werden wieder einige versuchen, die moderate Mitte zu finden. (Man kann das Ganze vom Kontext Literatur als Spiegel der Gesellschaft auch auf die Gesellschaft rückprojezieren, das heißt, in der Politik wird der Grabenkampf zwischen extrem rechts und extrem links ebenfalls eine neue ruhige Mitte schaffen). Zwar wird es für jeden Autoren ein Gewinn sein, sich mehr mit Anthropologie, Empathie, Stereotypen, Minderheiten, Klischees und toxischen Formen wie Misogynie oder kultureller Rassismus zu beschäftigen - das Eigene Menschliche im Anderen Menschlichen zu sehen (wo wir dann bei Schopenhauers Mitleids-Ethik wären), was mehr Humanismus, Frieden und Völkerverständigung bringt, aber noch ist es komplett ungewiss, ob diese neuen Denkanstöße und Aufforderungen zum Handeln irgendetwas bewerkstelligen. Ich für meinen Teil wäre schon froh, wenn wir mit den alltäglichen Geschlechterrollenbildern aufhören könnten. Von wegen Mann hat keine Ahnung von Hausarbeit und Erziehung, haha, witzig, nicht. Oder Männer können alles, Frauen machen was mit Kleidung, Design und Beauty. Wenn wir es schon nicht schaffen, die Stereotype der heterosexuellen Mehrheit zu begraben, warum sollten dann die Anregungen und Einflüsse von Minderheiten einen Einfluss auf Literatur haben? Am Ende wollen die Leute ihre Liebesschnulzen mit psychologischem Missbrauch wie in Twilight oder Action, Krieg und blutrünstiges Gemetzel gegen irgendwen, um Spannung zu erzeugen. Wurden nicht erst unlängst in Game Of Thrones viele Charaktere zur Belustigung der Zuschauer getötet, um den extra Kick zu erzeugen? Von wegen sensibel, eher Colosseum, Daumen hoch oder runter.

Maria

Zitat von: Alana am 12. September 2019, 16:51:01
Diese Erklärung und auch die auf der Seite genannten Tropes lassen sich 1 : 1 auf Unterhaltungsliteratur übertragen. Der Begriff kommt aus dem Englischen.

Dort steht in Wikipedia das dazu drin:
https://en.wikipedia.org/wiki/Trope_(literature)

weicht nicht so sehr von der literarischen deutschen Bedeutung ab.

Mondfräulein

Zitat von: canis lupus niger am 14. September 2019, 09:59:19
Aus diesem Grund halte ich es für verfehlt, nur über politisch korrekt handelnde, denkende und aussehende Menschen/Wesen in einer politisch korrekten Welt zu schreiben. Das wäre nicht nur sterbenslangweig, sondern auch sinnlos. Erstens gibt es solche Menschen nicht, und zweitens kann man anhand dieser charakterlosen Charaktere nicht erkennen und werten lernen, ob sich jemand nachvollziehbar, richtig oder falsch verhält.

Das hat auch niemand jemals gefordert. Es geht nicht darum, dass Figuren keine Fehler mehr haben und keine Rassisten mehr sein dürfen, aber es gibt einen Unterschied zwischen der Botschaft, die die Geschichte an sich vermittelt und der Einstellung der Figuren. Paulette ist zum Beispiel ein Film, in dem die Protagonistin am Anfang eine ganz üble Rassistin ist, aber das wird vom Film selbst immer als eine ihrer Schwächen dargestellt. Wir sehen, wie nett ihr Schwiegersohn zu ihr ist und wie süß ihr Enkel. Später ändert sie ihre Einstellung. Der Film selbst positioniert sich eindeutig gegen Rassismus, obwohl die Figur selbst Rassistin ist.

Zitat von: canis lupus niger am 14. September 2019, 09:59:19
Natürlich enthalten auch die besten Geschichten (und damit meine ich nicht meine eigenen) Klischees und Vorurteile. Wie sollten sie das nicht? Vor allem, wenn sie erklärtermaßen aus alten Sagen und Mythen antiker Kulturen erschaffen wurden, die ja die Essenz der Vorstellungen dieser Völker sind, müssen sie ja auch die antiken Werte dieser Kulturen widerspiegeln. Wer hätte sich nicht schon einmal über die pseudo-emanzipierten Frauen aus pseudomittelalterlichen "Beruf*innen"-Romanen geärgert?

Ich würde da entschieden widersprechen. Geschichten müssen nicht die Klischees und Vorurteile reproduzieren, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, wir sind durchaus in der Lage, sie zu vermeiden und zu umgehen. Und ich muss dafür auch nicht die Geschichte umschreiben, denn es gab auch in früheren Zeiten interessante Frauenfiguren. Elisabeth I. war zum Beispiel eine spannende Person in einer Zeit geprägt von Frauenfeindlichkeit. Ich könnte entweder direkt über sie schreiben oder aber ich orientiere mich beim Schreiben an sie. Den Sexismus der Zeit kann ich durchaus darstellen, ohne ihm Recht zu geben. Ich kann ihn vielmehr zu hinterfragen und darstellen, warum Sexismus ein Problem in dieser Zeit war.

Ich kann Vorurteile und Klischees vermeiden, aber dafür muss ich mir ihrer erstmal bewusst werden. Und genau deshalb reden wir hier ja auch darüber, am Beispiel von Tolkien und seinen Orks, weil es uns sonst kaum möglich sein wird, diese Vorurteile bei uns selbst zu erkennen und zu vermeiden.


Trippelschritt

Aber was ist, wenn ich Vorurteile und Klischees gar nicht vermeiden möchte?

Anj

Was willst du mit den Klischees und Vorurteilen denn beim Leser erreichen?
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.

Trippelschritt

Das kann ich Dir nicht im luftleeren Raum beantworten. Aber Vorurteile sind ein wichtiger Teil von Entscheidungen und Entscheidungen sind wichtig fürs Plotten. Das Arbeiten mit Klischees ist ein wichtiger Teil des schriftstellerischen Handwerks, mit dem man wahre Wunder bewirken kann. Damit arbeiten sehr viele Schreiber, nicht nur Nobelpreisträger. Ich sehe im Augenblick keinen Grund auf solche Basiselemente auf einmal zu verzichten.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Anj

#70
Meinem Verständnis nach ist da in dieser Diskussion auch niemand anderer Meinung. Aber vielleicht verstehe ich auch nicht, worauf du hinaus willst. Oder andere Antwort: es gibt kein objektives darf ich oder darf ich nicht, sondern nur entspricht meinen Ansprüchen oder nicht.
Und es fordert niemand darauf zu verzichten, sondern nur diese Elemente gezielt zu nutzen.

Ich persönlich weiß auch im luftleeren Raum, dass die Botschaften und Prämissen meiner Geschichten niemals Aussagen sollen, dass irgendein unreflektierter -ismus etwas gutes bewirkt oder das Ungerechtigkeiten weiter verfestigt werden sollen.

Wie und womit ich das ausgestalte, spielt für diese moralische Entscheidung doch keine Rolle.
Es muss nur gar nicht immer so plakativ mig pädagogischem Zeigefinger sein. Musterunterbrechungen bewirken auch schon viel. Aber leiser und unbewusster. Vielleicht gerade deswegen aber noch viel stärker.

Wenn ein Kind viele Geschichten liest, in denen die Mutter das Geld verdient und der Vater den Haushslg schmeißt, wird es das für normaler halten als eines, das nur 50er Jahre Rollenklischees liest.

Seit ich in Köln lebe, wo queere Paare allgegenwärtig sind, spreche ich anders mit Menschen, wenn es um die Frage nach Lebenspartner*innen geht. Und erlebe, dass ich plötzlich anfange darüber nachzudenken, was welche Bilder bei dem anderen auslösen könnte.
Wenn ich von "meiner Freundin" gesprochen habe, hätte ich früher niemals darüber nachgedacht, dass jemand da eine Partnerschaft hinter vermuten könnte. Bei den Jungs hab ich aber immer schon "kumpel" oder "bester Freund" gesagt, um präzise zu sein. Für Frauen muss ich da noch ein wording finden, dass sich für mich stimmig anfühlt. Das hat reine Repräsentation andere Muster als meiner eigenen bewirkt.
Und im echten Leben kann die einfache Frage "und gabs da nette/attraktive Jungs oder Mädels?" für eine Jugendliche vieles verändern. Respektive andersrum gedreht. Dasselbe kann ich mit veränderten Klischees im unbewussten Rassismus bewirken. Sofern ich das halt will.
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.

Mondfräulein

Zitat von: Trippelschritt am 16. September 2019, 13:12:15
Das kann ich Dir nicht im luftleeren Raum beantworten. Aber Vorurteile sind ein wichtiger Teil von Entscheidungen und Entscheidungen sind wichtig fürs Plotten. Das Arbeiten mit Klischees ist ein wichtiger Teil des schriftstellerischen Handwerks, mit dem man wahre Wunder bewirken kann. Damit arbeiten sehr viele Schreiber, nicht nur Nobelpreisträger. Ich sehe im Augenblick keinen Grund auf solche Basiselemente auf einmal zu verzichten.

ZitatIn der sozialpsychologischen Literatur bezeichnet man als Vorurteil eine negative oder positive Haltung gegenüber Personen, Gruppen, Objekten oder Sachverhalten, die weniger auf direkter Erfahrung als vielmehr auf Generalisierung beruht. Die Mehrzahl bestehender Vorurteilsdefinitionen konzentriert sich auf Vorurteile negativen Inhalts, da diese eher als positive Vorurteile schädigende Wirkung nach sich ziehen.

Quelle: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/vorurteile/16528

Vorurteile sind vor allem dann wichtig für Entscheidungen, wenn diese schnell getroffen werden müssen. Die Assoziation Spinne = Gefährlich lässt mich zurückschrecken, bevor ich den Reiz bewusst verarbeitet habe, weil eine Reaktion in einer Gefahrensituation sonst zu lange dauern würde. Die Sekunden, die ich da verlieren würde, können mich sonst das Leben kosten. Es geht darum, Kapazitäten zu sparen und Entscheidungen zu vermeiden, bei denen ich viel nachdenken muss. Generalisierungen sind sozusagen Abkürzungen, die es mir ersparen, alle Details in Erwägung zu ziehen. Das ist aber eben auch von Fehlern behaftet. Ich schrecke nicht nur vor Spinnen zurück, sondern auch vor Haarbüscheln, die sich nach dem Waschen in meiner Kleidung verfangen haben und beim Falten manchmal aus dem Augenwinkel wie Spinnen aussehen. Ich treffe Annahmen über eine konkrete Person nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Geschlecht/Hautfarbe/Sexualität/Beruf/Herkunft/Kleidung), obwohl diese auch falsch sein könnte.

Aber gerade beim Plotten verstehe ich dann nicht, warum Vorurteile und Klischees nicht eher hinderlich sein sollten. Eigentlich wäre es doch eher wünschenswert für mich, alle Details in Erwägung zu ziehen und keine schnelle und spontane aber dafür weniger durchdachte und mit mehr Wahrscheinlichkeit mit Fehlern behaftete Entscheidung zu treffen. Gerade wenn ich mich bei meinem Plot an Klischees und Vorurteilen orientiere, riskiere ich doch zusätzlich, dass mein Plot und meine Figuren vorhersehbar und generisch wirken, was ich doch eigentlich vermeiden will. Niemand will noch einen klischeehaften ehrenhaften Krieger lesen, wohl aber einen ehrenhaften Krieger, der darüber hinaus noch interessante Alleinstellungsmerkmale besitzt, die ihn von der Masse an anderen ähnlichen Figuren abheben.

Vor allem geht es hier auch um Vorurteile, die konkreten Schaden anrichten. Tolkiens Orks existieren nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer Gesellschaft, in der Rassismus eben existiert und Menschen konkret schadet. Es geht darum, Stereotypen zu erkennen und dann darüber nachzudenken, welche Wirkung sie in der realen Welt haben. Das Vorurteil, dass Studenten nicht kochen können, schadet echten Studenten wenn dann nur sehr begrenzt, aber das sexistische Vorurteil, dass Frauen besser darin sind, sich um Kinder oder andere Menschen zu kümmern und Männer nicht dazu imstande sind, hat ganz konkrete negative Folgen für beiderlei Geschlechter (Frauen werden in die Rolle der Pflegerinnen gedrängt, wenn es um ältere Familienangehörige und Kinder geht, was sich negativ auf ihre Berufschancen auswirkt und wiederum zu finanziellen Nachteilen und finanzieller Abhängigkeit führt, wenn sie sich eher um ihre Karriere kümmern wollen, werden sie als Rabenmütter beschimpft, gleichzeitig werden Männer, die sich eher in dieser Rolle wohlfühlen und zu Hause bleiben, um sich um ihre Kinder zu kümmern, belächelt und ausgelacht, nicht als echte Männer gesehen und weniger ernst genommen). Solche Vorurteile trotzdem bewusst und unreflektiert zu reproduzieren ist dann eben einfach sexistisch.

Rosentinte

Edit: Mondfräulein war schneller und hat besser auf den Punkt gebracht, was ich sagen wollte. Ich schließe mich vollumfänglich an.

Zitat von: Trippelschritt am 16. September 2019, 13:12:15
Das kann ich Dir nicht im luftleeren Raum beantworten. Aber Vorurteile sind ein wichtiger Teil von Entscheidungen und Entscheidungen sind wichtig fürs Plotten. Das Arbeiten mit Klischees ist ein wichtiger Teil des schriftstellerischen Handwerks, mit dem man wahre Wunder bewirken kann. Damit arbeiten sehr viele Schreiber, nicht nur Nobelpreisträger. Ich sehe im Augenblick keinen Grund auf solche Basiselemente auf einmal zu verzichten.
Das darf natürlich jede*r so halten, wie sie*er will. Es geht auch nicht darum, plötzlich mit sämtlichen Klischees zu brechen, sondern, wie Anjana sagt, einen kreativen Umgang damit zu finden. Es gibt auch Romane, die das nicht tun. Als extrem zugespitztes Beispiel könnte man da die Arztromane nennen, die extrem stark Klischees und Stereotype nutzen. Das ist für mich persönlich weder etwas, was ich schreiben, noch lesen will. Aber es gibt ja offenbar immer noch ein Publikum dafür und Menschen, die das schreiben. Ich glaube, was man sich bewusst machen sollte, ist, dass man sich mit den Stereotypen, denen man sich bedient, auch ggf. gleichzeitig nur einem bestimmten Publikum zuwendet. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, will ich das niemandem absprechen. Aber dann will ich mich auch bewusst dagegen entscheiden können, so etwas zu lesen. Natürlich bin ich nicht representativ für irgendeine Menge an Leuten. Aber mein Eindruck ist, dass gerade in den jüngeren Generationen (natürlich aber auch nicht nur) das Bewusstsein für diese schön genannten "-ismen" wächst. Diese Gruppe wird sich vermutlich eher kritisch zu Romanen positionieren, die solche "-ismen" unreflektiert verbreiten. Aber wie schon gesagt, das ist dann eine bewusste Entscheidung darüber, welche Zielgruppe man bedienen will.

El alma que anda en amor ni cansa ni se cansa.
Eine Seele, in der die Liebe wohnt, ermüdet nie und nimmer. (Übersetzung aus Taizé)

Schneerabe

Mhm... und wo fängt für euch reflektierter Umgang mit Stereotypen und Tropes an? Ich muss @Mondfräulein insofern widersprechen, als dass ich sicher bin, ziemlich stereotype Charaktere existieren noch immer recht frequentiert als Statisten oder unwichtige Nebencharas mit wenig ,,Screentime" in Romanen. Wenn ein Charakter nicht viel Platz hat und der Leser ihn ohne viel Erklären einschätzen können soll, sind Klischees sehr nützlich. Und ein nahezu statistenhafter Chara, um den es in meiner Geschichte nun mal nicht geht, soll den Leser ja auch nicht überraschen - dass würde den Plot meiner hoffentlich sehr viel komplexeren und tiefgründigeren Protagonisten nur stören, wenn JEDER Chara in einem Roman auf einmal eine eigene Agenda hätte, könnte man ja gar keine kohärente Story mehr schreiben, das wäre einfach nur konfuses Wirrwar...

Ich würde sagen, man kann über den konkreten Fundus dieser ,,Statistenschablonen" streiten. Geschichten die in der Realität spielen haben verletzende Schablonen wie etwa den geizigen Juden mittlerweile ja ohnehin verworfen. Über die immanente Nützlichkeit und Notwendigkeit dieser Schablonen fürs Schreiben besteht für mich aber kein Zweifel. Ich erinnere mich nämlich an keinen Roman, der sie nicht in irgendeiner Form gebraucht hätte... Die Diskussion kann für mich persönlich realistischerweise nur um das Handhaben bestimmter Schablonen, nicht über die Schablonen selbst geführt werden. Ob man nun auch in der Fantasy alle fantastischen Charakter oder Rassenschablonen verbieten will, die menschliche Denkweisen darstellen oder vielleicht befördern könnten, die wir für schlecht halten... dass ist vielleicht eher die Frage. Und das erinnert mich Wiederrum seeeeehr an die Don Quijote Diskussion, die ich ab und an mit einem Freund führe. Er beklagt sich vor allem darüber, das junge Mädchen (angeblich durch Liebesromane a la Twilight) sehr ungesunde Erwartungen an ihre späteren Beziehungen und Freunde haben... Tja und ich sage ihm immer nur, ich gehe davon aus, dass meine Leser selbständig denkende, reflektierte Menschen sind, die sehrwohl zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Auf Menschen die das nicht können, kann ich leider in der Form, wie ich Kunst betreibe, keine Rücksicht nehmen, denn meine Geschichten sind definitiv kein Guide für moralische Lebensweise, das ist Game of Thrones ja auch nicht. Die ganze Geschichte könnte schließlich gemessen an unseren heutigen Moralvorstellungen überhaupt nicht existieren und das fände ich sehr schade. Ich genieße solche Geschichten, die die menschliche Natur wholesale abbilden, die guten wie die schlechten Seiten. Ich will wenn ich etwas lese keine aufpolierte Utopie von einer handzahmen Fiktion des Menschen lesen, die es in der Realität ohnehin niemals geben wird. Ich möchte Geschichten mit diesem ,,alten, urtümlichen" Feeling lesen, die dieselben Punkte berühren, wie die alten Mythen – so wie das auch Mittelerde gemacht hat. Mag sein, dass die Orks stereotyp sind, mag sein, dass es nicht einmal reflektiert war. Ich übertrage den Umgang der fiktiven Charaktere Mittelerdes mit den Orks aber nicht auf meinen Alltag, ich genieße einfach eine Geschichte in ihrem jeweiligen Rahmen und das ist für mich alles. Solche Geschichten lese ich gerne, solche Geschichten schreibe ich – rezipieren auf eigene Gefahr. Ich traue meinen Lesern durchaus zu, genau wie ich den Schnitt zwischen Fiktion und Realität mitzumachen. (Und an "unterschwelligen psychologischen Bias" durch solche Geschichten glaube ich aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht.)
Da muss aber jeder seine eigene literarische Position finden, mit der er sich wohlfühlt, denke ich. Und es ist natürlich, wie man sieht auch eine Frage persönlicher Vorlieben.
"To hell or to Connacht."

Mondfräulein

Zitat von: Schneerabe am 16. September 2019, 22:08:59
Er beklagt sich vor allem darüber, das junge Mädchen (angeblich durch Liebesromane a la Twilight) sehr ungesunde Erwartungen an ihre späteren Beziehungen und Freunde haben... Tja und ich sage ihm immer nur, ich gehe davon aus, dass meine Leser selbständig denkende, reflektierte Menschen sind, die sehrwohl zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Auf Menschen die das nicht können, kann ich leider in der Form, wie ich Kunst betreibe, keine Rücksicht nehmen, denn meine Geschichten sind definitiv kein Guide für moralische Lebensweise, das ist Game of Thrones ja auch nicht. [...] Ich traue meinen Lesern durchaus zu, genau wie ich den Schnitt zwischen Fiktion und Realität mitzumachen. (Und an "unterschwelligen psychologischen Bias" durch solche Geschichten glaube ich aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht.)

Wissenschaftlich gesehen (und dafür gibt es tatsächlich Belege, die kann ich morgen irgendwann gerne raussuchen) funktioniert genau das aber nicht. Geschichten ändern nachweislich die Einstellungen der Leser*innen, ein unterschwelliger Bias existiert definitiv (das ist wirklich wahnsinnig gut belegt, ich weiß nicht, wovon du da redest) und Geschichten ändern Einstellungen anders als sachliche Argumente, wodurch Leser*innen die präsentierten Argumente und Einstellungen weniger kritisch hinterfragen. Die Einstellungsänderung geschieht unbewusst, das hat alles nichts damit zu tun, schlau genug zu sein, zu erkennen, was real ist und was nicht. Gerade bei Einstellungen konträr zur eigenen Einstellung kann man Menschen durch Geschichten besser beeinflussen als durch sachliche Argumente. Dazu gibt es zahlreiche Studien.