• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Alles zur Perspektive

Begonnen von Lastalda, 01. Januar 1970, 01:00:00

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 2 Gäste betrachten dieses Thema.

Christian Svensson

Es gibt da so einen schönen Spruch: "Grau ist alle Theorie". In der Praxis muss ein solches Manuskript mit "wilden" Perspektivwechseln auch vom Lektor und vom Verlag akzeptiert werden. Und da hätte ich dann die Frage an die hier, die Autoren von verlagsseitig gedruckten und verkauften Büchern sind:
Wie ist da die Position?

Sorry, wenn ich da gerade einen Unterschied mache, aber da ich meinen Roman gerne eines Tages in Buchläden sehen will, interessiert mich das schon sehr.

Alana

Ja, das ist sicher eine wichtige Frage, die man sich stellen muss, wen man veröffentlichen will.

Kopf-hüpfen ist meiner Meinung nach ein absolute No-Go. Das ist für mich kein Stilmittel, sondern schlichtweg schlechte Technik oder Unwissenheit. Zumindest in den Fällen, die mir bisher begegnet sind. Ich meine damit allerdings nicht echte Wechsel, wie sie zum Beispiel in den Romane von Catherine Gaskell stattfinden, über längere Abschnitte hinweg. Sondern wirklich das absatzweise springen von Kopf zu Kopf, nach wenigen Sätzen. Das hat für mich keinen erzählerischen Wert, außer vielleicht mal ganz kurz mit voller Absicht eingesetzt. Wenn man die Techniken beherrscht, kann man ja eigentlich alles machen.

Für mich besteht aber gerade der Reiz einer Geschichte darin, nicht einfach in den anderen Kopf zu wechseln, wenn man die Gedanken des anderen darstellen möchte, sondern durch den aktuellen Perspektivträger darzustellen, was der andere gerade denkt. Das wirkt für mich viel lebensechter und macht die Geschichte interessanter. Mir macht es Spaß zu überlegen, wo ein Wechsel stattfinden soll, in welchem Kopf der Leser an welcher Stelle ist und so weiter. In der Szene kurz zu wechseln, nur um die Gefühle einer Person durch deren Gedanken schnell mal darzustellen, ist für mich meist ein Zeichen von Bequemlichkeit.

Aber ich will auch betonen, dass ich nichts davon dogmatisch sehe. Man kann mit allem spielen und wenn man es richtig macht, kann man aus allem eine gute Leseerfahrung erzeugen. Ob es sich allerdings verkaufen lässt, ist eine ganz andere Frage und hängt sicher auch sehr stark vom Genre ab.

Von Verlagsseite wurde mir gesagt, dass man Perspektiven nach Möglichkeit immer streng nach Kapitel trennen soll. Besonders gilt das für alle Romance-Genres und ganz besonders für Romane mit zwei Ich-Erzählern. Außerdem ist wichtig, dass jeder Erzähler eine gut erkennbare eigene Textstimme hat. Man soll also sofort an der Sprache erkennen können, in wessen Kopf man sich gerade befindet.
Alhambrana

Coppelia

Wildes Kopf-Hopping ist mir in den tollen Büchern von Susan Cooper aufgefallen, dem "Wintersonnenwende"-Zyklus. Ich finde sie immer noch großartig.
Eins meiner absoluten Lieblingsbücher, "Unten am Fluss", ist ohnehin antiker Epik sehr ähnlich und hat auch dementsprechend einen häufigen Wechsel zwischen Figurenperspektive (und zwar der Perspektive mehrerer Figuren) und reinem Erzählertext.
Bei beiden Autoren nehme ich eher an, dass diese Erzählformen keine Absicht waren.
Aufgefallen ist es mir - allerdings negativ - bei den Büchern von David Clement-Davies, die mir mein Vater letztens ausgeliehen hat. Die scheinen sich sehr gut verkauft zu haben.
Und obwohl ich versuche, immer in-Perspektive zu bleiben, fallen mir in meinen eigenen Geschichten auch manchmal Stellen auf, wo ich mich frage: "Wessen Wahrnehmung ist das? Der Figur? Des Erzählers?" ::)

ZitatVon Verlagsseite wurde mir gesagt, dass man Perspektiven nach Möglichkeit immer streng nach Kapitel trennen soll. Besonders gilt das für alle Romance-Genres und ganz besonders für Romane mit zwei Ich-Erzählern. Außerdem ist wichtig, dass jeder Erzähler eine gut erkennbare eigene Textstimme hat. Man soll also sofort an der Sprache erkennen können, in wessen Kopf man sich gerade befindet.
Dahinter steht vermutlich der Wunsch, es dem Leser besonders einfach zu machen. Und wie ich schon vorher gesagt habe: Es macht die Geschichten spannend und besser verkäuflich. Wem das wichtig ist, der sollte wohl am besten nicht groß die Perspektiven wechseln.

HauntingWitch

Ich sehe schon, das Thema ist komplexer, als ich gedacht habe.  :)

Zitat von: Alana am 21. März 2014, 00:22:38
Außerdem ist wichtig, dass jeder Erzähler eine gut erkennbare eigene Textstimme hat. Man soll also sofort an der Sprache erkennen können, in wessen Kopf man sich gerade befindet.

Das finde ich teilweise sehr schwierig. Wenn ich eine 200 Jahre alte Hexe aus einer anderen Welt und einen 30-jährigen modernen Stadtmenschen habe, geht das problemlos. Aber wenn ich nun 2 dieser modernen Stadtmenschen habe, die beide mit einem ähnlichen Bildungshintergrund aufgewachsen sind, dann werden die eine recht ähnliche Sprache haben.

Coppelia

Das mit der Textstimme finde ich auch problematisch, auch weil ja jeder Autor einen eigenen Stil hat. Generell hat jede Figur ihre eigene Denkweise, ihre eigenen Prioritäten, Vergleichswerte und zum Teil auch ihr eigenes Vokabular. Manche Figuren denken sehr assoziativ, andere stringent und logisch. Daher sollte man am Text theoretisch schon erkennen können, wer Perspektive hat, ob das aber in jedem Fall "sofort" geht, wage ich zu bezweifeln. Es geht unter Umständen tatsächlich sofort, dann kann es aber sein, dass man mit "heftigen" Mitteln wie Kraftausdrücken einsteigen muss. Manchmal sind die Unterschiede auch eher von der subtilen Sorte, vor allem eben, wenn die Figuren alle einen ähnlichen Hintergrund haben (wie meine Kessler Politiker)

Wenn Vokabular einer Figur im Erzähltext auftaucht (ein Kennzeichen von Figurenperspektive) heißt das nach Wolf Schmid "Textinterferenz". Es ist ein relativ einfaches Mittel, einer Figur eine Stimme zu geben. Manchmal geht es dezent: Ein Anwalt kennt juristisches Fachvokabular, ein Feldherr militärisches, ein Schulkind kennt beides nicht. Auch die Wahrnehmung einer bestimmten Person mit unterschiedlichen Bezeichnungen ist typisch. Z. B. könnte der Anwalt Jürgen Schulz von unterschiedlichen Personen als "Jürgen", "Schulz", "Papa", "Onkel Jürgen", "Schnuffel", "der Anwalt", "der Winkeladvokat", "Laber-Schulz" oder noch auf andere Weise wahrgenommen und entsprechend auch im Text bezeichnet werden. Direkte Rede ist dafür nicht nötig.
Meine Studis mussten für Textinterferenz mal ein Textbeispiel aus "Ronja Räubertochter" analysieren, wo Birk im Text als "Hosenschisser" u. ä. bezeichnet wurde, ein Zeichen für Ronjas Perspektive in diesem Abschnitt.
Was ich nicht so gern mag: Wenn eine Figur keine schöne Sprache oder Denkweise hat, z. B. viele Kraftausdrücke verwendet, und dann sehr viel Textinterferenz verwendet wird. Mag ja authentisch sein, aber bitte nur, wenn es zur Geschichte passt.

Christian Svensson

Danke @Coppelia, enthält viele Anregungen für mich.

HauntingWitch

Danke für die Tipps, Coppelia.  :)

Textinterferenz ist in dem Fall etwas, das ich bereits mache. Aber ich habe bisher die Denkweise/Sprache und die entsprechenden Unterschiede gar nie so genau analysiert.

Churke

Zitat von: HauntingWitch am 21. März 2014, 11:33:59
Textinterferenz ist in dem Fall etwas, das ich bereits mache. Aber ich habe bisher die Denkweise/Sprache und die entsprechenden Unterschiede gar nie so genau analysiert.

Ich weiß auch nicht, ob einem die Analyse hilft, wenn man es praktisch nicht umsetzen kann.

Ich wollte aber noch auf etwas anderes hinweisen: Figuren können den gleichen sozialen Hintergrund, die gleiche Erziehung/Ausbildung und trotzdem völlig andere Werte und Überzeugungen haben. Das einfachste Beispiel sind politische Ansichten. Ein Monarchist argumentiert im Zweifel anders als ein Republikaner.

Coppelia

Die Analyse lehrt nichts und schreibt nichts vor und bevorzugt keine Texte. Sie ist dazu gemacht, bestimmte Phänomene im Text zu erkennen und zu beschreiben. Man braucht also erstmal einen Text, um ihn zu analysieren. Dann finde ich sie aber nützlich, um zu erkennen, was man da eigentlich geschrieben hat und warum - und ob man es ändern möchte.

ZitatFiguren können den gleichen sozialen Hintergrund, die gleiche Erziehung/Ausbildung und trotzdem völlig andere Werte und Überzeugungen haben. Das einfachste Beispiel sind politische Ansichten. Ein Monarchist argumentiert im Zweifel anders als ein Republikaner.
Auf jeden Fall! Wenn du aber möchtest, dass jede Figur an ihrer "Stimme" sofort erkannt wird, wenn der Text einsetzt, musst du eine Situation schaffen, in der diese politischen Ansichten irgendwie von Bedeutung sind, und zwar gleich zu Anfang. Sollte es um irgendetwas gehen, was damit nichts zu tun hat (Hund der Familie? Blühende Bäume? Sex?), braucht man dann doch wieder andere Unterscheidungsmerkmale.
Wenn ich z. B. mit einer Beschreibung des Ortes anfange, wo die Szene spielt, finde ich es immer schwierig, sofort die Stimme des Perspektiventrägers erkennbar zu machen - dann hilft es eventuell, schon vorher klar zu machen, dass diese Figur bestimmte Emotionen mit diesem Ort verbindet, oder klar zu machen, dass sie bestimmte Dinge auf bestimmte Weise wahrnimmt.

Naja. Wenn man will, dann geht es schon irgendwie.

Christopher

Die verschiedenen Erzählweisen, an denen man die Figuren erkennt, kann ich auch wieder von Abercrombie positives berichten. Die "Klingen"-Reihe z.b. hat einige Perspektivträger, die bestimmte Eigenschaften stets bei ihren Kapiteln zeigen. Inquisitor Glokta ist z.b. der einzige, bei dem Gedanken (in kursiv) wörtlich im Text stehen. Sieht man das, weiss man sofort wer spricht, auch wenn man erst am Anfang des Kapitels steht und noch keine weiterführenden Informationen bekommen hat, aus denen das ersichtlich sein könnte.

Für die eigene Stimme würde ich dann einen Grundgedanken, eine Grundemotion für jeden Charakter haben. Der eine sieht die Dinge eher pessimistisch, der andere optimistisch, dazu einige für ihn "typische" Redewendungen die man bei den anderen Charakteren niemals verwendet und dann passt das schon.
Be brave, dont tryhard.

Coppelia

#280
ZitatInquisitor Glokta ist z.b. der einzige, bei dem Gedanken (in kursiv) wörtlich im Text stehen. Sieht man das, weiss man sofort wer spricht, auch wenn man erst am Anfang des Kapitels steht und noch keine weiterführenden Informationen bekommen hat, aus denen das ersichtlich sein könnte.
Ich hab das Buch jetzt nicht gelesen, aber nach dem, was du erzählst, erschließt sich mir der Sinn nicht ganz. Man könnte doch auch bei anderen Figuren die Gedanken als inneren Monolog/Gedankenrede präsentieren. Denken ist keine bestimmte Eigenschaft einer Figur. Und ich verstehe nicht, warum man als Autor ein narratives Mittel nur bei einer Figur anwenden sollte und bei anderen nicht.
Aber es ist natürlich durchaus möglich, dass sich der Autor etwas dabei gedacht hat.

HauntingWitch

Ich schliesse mich Coppelia an. Vor allem wirkt das auf mich auch wie eine "künstliche" Abhebung. So quasi weil der Autor nicht wusste, wie er die Figur sonst eindeutig erkennbar machen sollte, macht er es eben so. Da wäre mir gar keine Unterscheidung sogar lieber.

Christopher

Die Gedanken der anderen Figuren werden natürlich auch dargestellt, aber Glokta ist der einzige der quasi Kommentiert :P
Und natürlich ist es keine Eigenschaft der Figur an sich - aber eine andere Art und Weise wie die Figur handwerklich dargestellt wird.

Ich vermute aber auch, dass der Autor da auch ein wenig herum- und ausprobiert hat, aber schlimm finde ich das nicht. Und letztendlich hat er sich auch entschieden, es so zu lassen, letztenendes ist es also doch Absicht.
Be brave, dont tryhard.

Churke

Zitat von: Christopher am 21. März 2014, 17:19:47
Und natürlich ist es keine Eigenschaft der Figur an sich - aber eine andere Art und Weise wie die Figur handwerklich dargestellt wird.

Mir stellt sich das als Stilfrage dar. Stil ist generell ein taugliches Mittel, Perspektiven voneinander abzugrenzen.

Christian Svensson

Moin. Ich habe mal wieder eine Frage zu einem Problem.
Die personale Perspektive bedeutet, eine Szene so zu erzählen, als würde der Leser in der Person des Perspektivträgers stecken. Das habe ich bis jetzt so gelöst:

ZitatBjörn runzelte die Stirn. Nichts war in Ordnung. Der Schleier in seinem Gehirn gab die Erinnerung an einen nackten Mann frei, der an ein Andreaskreuz gefesselt gewesen war, und langsam dämmerte es Björn, wen er da in der Leitung hatte. ,,Wenn Sie mal jemanden auf dem Kieker haben, dann geben Sie aber auch keine Ruhe, was?"

Diese Vorgehensweise wurde auch von einer Lektorin als korrekt empfunden. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass das noch nicht nahe genug ist, nicht packend genug.
ZitatNichts war in Ordnung. Der Schleier in seinem Gehirn gab die Erinnerung an einen nackten Mann frei, der an ein Andreaskreuz gefesselt gewesen war, und langsam dämmerte es ihm, wen er da in der Leitung hatte. ,,Wenn Sie mal jemanden auf dem Kieker haben, dann geben Sie aber auch keine Ruhe, was?"

Ich finde die zweite Variante "näher", packender. Wenn ich als Perspektivträger denke, fühle, sehe, dann denke ich ja nicht, das mir "etwas dämmert", oder ich denke nicht, dass ich "die Stirn runzle".
Auf der anderen Seite fallen mir dann aber wesentliche Gestaltungsmittel weg. Wie soll ich dem Leser dann zum Beispiel sagen, dass Björn mit der Faust auf den Tisch schlug? Er denkt es ja nicht, sondern er tut es.
Ich hoffe, Ihr versteht, was ich meine.