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Red Herring - Wann ist die falsche Fährte sinnvoll, wann nervt sie?

Begonnen von Malou, 01. Januar 2022, 15:34:52

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Malou

Ein frohes Neues, liebe TiZis!

Ich starte das Jahr mal mit einer Frage, die mich schon sehr lange umtreibt.


Wann ist die falsche Fährte im Roman sinnvoll? Wie viele falsche Fährten kann/sollte man legen? Macht der Trend für falsche Fährten nicht auch alles vorhersehbar?


Mittlerweile scheint der Red Herring so eine Modeerscheinung geworden zu sein, dass ich bei so vielen Büchern überspitzt gesagt fast gähnend und augenrollend dasitze. Denn ich weiß: Sobald der oder die Prota etwas offen vermutet, ist es (meistens) falsch.

ZitatDu glaubst, XY sei dein Vater? Nope, meine Liebe. Sorry not sorry.
Du glaubst, XY sei derjenige, der hinter all den Mordversuchen steckt? Lass mich raten: Nein, du irrst dich. Vermutlich ist es die Person, von der du es niiiiiiee annehmen würdest.
Du glaubst, dieses Amulett da wäre das sagenumwobene Artefakt, das alle rettet? Tja, verderbe ich dir jetzt die Stimmung, wenn ich dir sage, dass es eine Falle sein muss?
Ach, du hast einen guten und ausgearbeiteten Plan? Sorry Dear, das wird eh nicht aufgehen.

Versteht mich nicht falsch: Ich nutze diese Technik auch und zögere wirklich, dem Leser die Lösung oder einen Teil der Lösung auf dem Silbertablett zu präsentieren, weil ich selber befürchte, dass das dann langweilig ist. In genug Fällen ist null gegen die Technik einzuwenden und es ist toll. Wir brauchen Momente, in denen der/die Prota Unrecht hat, in denen alles schiefgeht, in denen all die Pläne nicht aufgehen und alle Vermutungen sich als falsch erweisen.

Nur - wenn man dem Leser unter all den Gedanken, die der/die Prota hat, nie die richtige Lösung bietet, wird es doch auch wieder vorhersehbar, oder wie seht ihr das? Tatsächlich würde mich so manche Story mittlerweile überraschen, wenn eine der geäußerten Vermutung tatsächlich die richtige wäre. Wenn vielleicht sogar die allererste stimmt. Wenn es einen stärkeren Mischmasch geben würde, dann würde alles für mich wieder spannender werden, weil ich dann nicht mehr wüsste, ob bei all den Mutmaßungen nicht vielleicht doch die richtige dabei ist. So wird es für mich eher zum Ausschlussverfahren, wo ich innerlich abhake, was alles nicht sein kann - nämlich so gut wie alles, was offen vermutet (und für wahrscheinlich befunden) wird.


Ich freue mich, eure Gedanken dazu zu hören!

Wie empfindet ihr das beim Schreiben und auch beim Lesen? Wäre es für euch schlimm, wenn eine der Mutmaßungen stimmt? Wenn einmal alles läuft wie geplant? Wenn der Prota tatsächlich einmal bei etwas Recht hat (und er sich auch beim ersten Mal durchsetzen kann)? (Betonung auf einmal, nicht jedes Mal)
Könnt ihr Romane empfehlen, die das eurer Meinung nach richtig gut machen?

Ich hab das Gefühl, in letzter Zeit echt nur noch Romane gelesen zu haben, wo es so war wie eben beschrieben und würde gern mal wieder etwas Ablenkung reinbringen. Vielleicht brauche ich auch etwas Mut, mich selbst zu trauen, diese Linie zu überqueren.

Danke!  :vibes:
»Anders als die Kultur, die die Unterschiede zwischen uns betont, die Menschen und Gruppen voneinander trennt, verbindet die Natur uns miteinander. In ihr sind alle Menschen gleich.« (Der Gesang des Eises, Bakic)

Sanjani

Hallo Malou,

witzig, ich bin ja schon ziemlich lange im Tintenzirkel, in den letzten Jahren aber eher sporadisch, und ich dachte so in letzter Zeit, es wären schon alle Fragen im Bereich Workshop gestellt worden. Aber ich glaube, diese war noch nicht dabei :)

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden habe. So, wie du es schilderst, klingt es schon sehr offensichtlich. Das würde mir als Leserin auch nicht viel Spaß machen. Der Clou an falschen Fährten ist meiner Ansicht nach, dass die so gut gemacht ist, dass sogar der Leser daran glaubt, dass es stimmen könnte. Aber am Ende stellt sich heraus, dass Vermutungen z. B. nur zum Teil richtig waren oder dass Dinge eingetreten sind, die man zwar vermutet hat, aber aus einem anderen Grund usw. Ich bin da ein bisschen zwiegespalten, weil ich am Ende eines Buches eher traurig bin, wenn die erste Vermutung dann doch stimmt, weil ich mir dann manchmal denke, wie langweilig. Aber wenn es gut gemacht ist, dann ist natürlich nichts dagegen einzuwenden.
Was ich persönlich auch total hasse, ist, wenn Pläne schief gehen. Natürlich muss so etwas vorkommen, aber oft ist es aus meiner Sicht nicht gut gemacht, weil z. B. ein Charakter plötzlich durchdreht, was nicht nachvollziehbar ist, oder weil irgendwas völlig Absurdes dazwischenkommt, wo ich genau weiß, das macht der Autor jetzt, damit der Plan schiefgeht. Da denke ich dann auch oft: Komm schon, es muss jetzt eigentlich alles klappen. Ich bin an solchen Punkten aber auch schon positiv überrascht worden, wo ich erwartet habe, dass irgendwas schiefgeht und dann doch alles geklappt hat. Ich finde eine ausgewogene Mischung da nicht verkehrt, denn wenn man sich mal so das Leben anschaut, dann schreibt dieses die verrücktesten Geschichten. Da höre ich manchmal Dinge von Leuten, wo ich denke, wenn das ein Autor schreiben würde, würde man ihm das Buch um die Ohren hauen.

Gute Beispiele fallen mir namentlich leider gerade keine ein.

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Evanesca Feuerblut

Vermutlich hängt vieles davon ab, wo du auf dem Spektrum zwischen entdeckend und planend unterwegs bist. Ich meine, "Leweke" ist rund 100k lang und irgendwann so ... ab dem ersten Drittel geht es darum, etwas sehr Wichtiges herauszufinden und dann, nachdem die Indizien zusammengetragen sind, im letzten Drittel darum, die Hintergründe dazu rauszufinden und es zu verhindern.
Und dann offenbart sich so im vorletzten Kapitel oder so, dass das Ganze eine falsche Fährte war und es in Wahrheit um was ganz anderes ging und ich saß vor dem Buch und dachte nur "Äh, was zur Hölle".
Ich ging also als schreibende Person die ganze Zeit über davon aus, dass meine Hauptfigur Recht hat und der Plan aufgeht, aber am Ende kam alles anders. Es passiert also zumindest mir gar nicht immer mit Absicht, dass da falsche Fährten gelegt werden, im Gegenteil. Ich mache nur bei Überarbeitungen oft alles so, damit es nach Absicht aussieht und streue nachträglich ein Foreshadowing ein.
So viel aus der Schreibperspektive.

Aber ich finde auch, manche Genres leben davon, dass Dinge tatsächlich weitestgehend so klappen wie geplant, vielleicht mit einem kleinen Twist, aber grundsätzlich schon. Wie beispielsweise die meisten Heist-Geschichten, bei denen elaborierte und komplexe Pläne geschmiedet werden, um etwas zu stehlen und ein Teil des Lese- und Schaugenusses darin besteht, dann zu sehen, wie diese Pläne auch wirklich funktionieren und alles herrlich in einander läuft, trotz Schwierigkeiten.

Dämmerungshexe

Ich schließe mich @Evanesca Feuerblut an - es hängt zum einen vom Genre ab, aber vor allem auch von der allgemeinen Struktur des Plots (die zum Teil ja auch genreabhänig ist). Ich würde mir generell die Frage stellen, was für den Leser "erfüllender" ist. Also ob es mehr Spaß macht die Indizien zusammen zu tragen und noch vor den Protagonisten auf die Lösung zu kommen und am Ende bestätigt zu werden. Oder ist der Twist das Hauptvergnügen, bzw die neue Richtung, in die plötzlich alles geht (weil man zB vor der angekündigten Lösung, eher Bammel hatte).
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Malou

Danke schonmal für eure spannenden Eindrücke!  :vibes:

@Sanjani

ZitatSo, wie du es schilderst, klingt es schon sehr offensichtlich. Das würde mir als Leserin auch nicht viel Spaß machen.
Ich habe auch ein wenig übertrieben, damit klar wird, was ich meine  :D ich würde auch nicht sagen, dass alles immer total offensichtlich ist, aber es ist doch vermehrt so (zumindest bei den Büchern, die mir persönlich in die Hände fallen, maybe I'm the problem here  :rofl:), dass ich die falschen Fährten oft durchschaue. Kenne ich immer die Endlösung? Bei Weitem nicht, nein. Es macht mir auch nicht grundsätzlich etwas aus, dass falsche Fährten gelegt werden. Ich mein, was wäre das denn für Romane, wo die erste Vermutung des Protas immer richtig ist, alle Pläne aufgehen und man sich nie irrt? Das wäre ja furchtbar  :rofl: Leider nimmt es mir selbst aber auch den Spaß am Lesen, wenn ich so klar kommen sehe, dass all die Mutmaßungen nicht richtig sein werden und der Plan nicht aufgeht  :-\

ZitatWas ich persönlich auch total hasse, ist, wenn Pläne schief gehen. Natürlich muss so etwas vorkommen, aber oft ist es aus meiner Sicht nicht gut gemacht, weil z. B. ein Charakter plötzlich durchdreht, was nicht nachvollziehbar ist, oder weil irgendwas völlig Absurdes dazwischenkommt, wo ich genau weiß, das macht der Autor jetzt, damit der Plan schiefgeht.
Das ist genau, was ich meine. Diese erzwungenen Plot Twist oder Katastrophen an allen Ecken. Ja, es kann schiefgehen, sogar ganz katastrophal schiefgehen, aber wie du schon sagst, sollte es bitte wirklich gut begründet und logisch sein und nicht nur um der Katastrophe willen :) Das spürt man als Leser... Wobei ich den Aspekt des Zufalls tatsächlich reizvoll finde. Etwas, das wirklich keiner hat kommen sehen. Sowas passiert auch im wahren Leben. Das mag ich dann wieder  :herzchen: solange wie du schon sagst nicht der eigentlich gelassene Charakter X plötzlich kurz vor Planvollzug wegen irgendeiner Mini-Kleinigkeit austickt und alle verrät oder so  ::)

@Evanesca Feuerblut
Stimmt du hast so Recht, als Autor/in geht es einem so oft so, dass man selbst überrascht wird  ;D das ist total schön! Ich liebe Foreshadowing  :herzchen: gut gemachte Plot Twists und Überraschungen liebe ich auch, auch wenn der Thread hier vielleicht nach was anderem klingt  :d'oh: Du hast genauso Recht damit, dass es je nach Genre unterschiedlich sein kann. Darüber werde ich mal nachgrübeln  :hmmm:

@Dämmerungshexe

ZitatIch würde mir generell die Frage stellen, was für den Leser "erfüllender" ist. Also ob es mehr Spaß macht die Indizien zusammen zu tragen und noch vor den Protagonisten auf die Lösung zu kommen und am Ende bestätigt zu werden. Oder ist der Twist das Hauptvergnügen, bzw die neue Richtung, in die plötzlich alles geht (weil man zB vor der angekündigten Lösung, eher Bammel hatte).
Hmmm... Wie erkennt man denn, was für den Leser erfüllender ist? Ich mein, klar, beim Krimi liegt die Antwort mehr oder weniger auf der Hand. Aber ich könnte jetzt bei High Fantasy z.B. so direkt nicht sagen, was für die Zielgruppe spannender wäre...?


Vielleicht sollte ich nochmal präziseren: Es geht um die Tendenz, es bei (gefühlt, wieder etwas übertrieben) allen Aspekten des Buches so zu machen. Es gibt ja nicht nur die EINE Sache, auf die ein Roman hinausläuft. Da gibt es Verräter, Mörder, Menschen, die ihr wahres Gesicht offenbaren, Waisenkinder die plötzlich Eltern haben, mysteriöse Talismane, Zaubertränke und was nicht alles. Man kann sich in so Vielem irren in einer einzigen Story - und in so Vielem Recht haben. Ich denke, mich stört die Menge an Plot Twists. Oder - wenn es keiner ist und der Prota Recht hat - alles, wirklich alles sich ihm in den Weg schmeißt, damit es trotzdem schiefgeht. Vielleicht lese ich aber auch nur die falschen Bücher in letzter Zeit.

Mir geht es um den Mischmasch in einer einzigen Story oder Reihe. In Band 1 ist der Fiesling vielleicht jemand ganz anders als gedacht, aber der Plan zum Schluss funktioniert auf Anhieb und die Herausforderung liegt woanders als darin, dass alles schiefgeht. In Band 2 hingegen liegt der Prota vielleicht direkt richtig mit seiner Vermutung, wer denn nun der Mörder ist, während etwas Unvorhergesehenes den Plan sprengt und man improvisieren muss. Nur zwei Elemente (Antagonist und Plan), wo es noch so viele mehr gibt, die ein einziger Roman in sich vereint. Wenn ich als Leser nicht mehr vorhersagen kann, wo und wann der Plot Twist nun stattfindet, wird alles für mich reizvoller.

P.S.: Ich weiß, dass die Beispiele pauschalisieren, sie sollen nur verdeutlichen, was in etwa gemeint ist, um der Diskussion Willen :)



Ihr könnt mir aber auch gern widersprechen, wenn ihr findet, dass der Red Herring gar nicht sooo oft für so viele Buchaspekte genutzt wird oder ihr den Red Herring liebt und es ganz schrecklich fändet, wenn die erste Vermutung stimmt oder der Plan sofort aufgeht. So lerne ich als Autorin dazu  :wolke:

Ich freu mich auf weitere Diskussion  :vibes:
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Dämmerungshexe

Ok, zweiter Versuch das sinnvoll zu formulieren:

Was für die Leser "erfüllend" ist, hängt sehr stark vom Genre ab. In einem Krimi geht es darum Hinweise zu sammel und logisch zusammenzu führen, vielleicht sogar die Lösung nich vor den Protagonisten zu finden oder auch, wenn man durch einen Twist am Ende überrascht wird, diesen beim zweiten Mal lesen klar erkennen zu können. Wenn man in der Geschichte aber zum Beispiel zwei Portagionisten hat, zwischen denen es spürbar knistert, dann kann es passieren, dass das Finden von Hinweisen und der Lösung in den Hintergrund tritt und es für die Leser viel wichtiger wird zu erfahren ob und wie die beiden zusammenfinden. Dann hat man aber keinen Krimi mehr sondern eine Romanze. Mischungen sind natürlich möglich, bergen aber oft das Risiko, dass man einzelne Leserguppen, die sich eben auf ein Genre spezialisiert haben und deren Erwartungshaltungen an eben dieses Genre dann in dem Roman nicht erfüllt werden, verärgert. Bei sowas ist es imemr schwer abzuschätzen, wo man als Autor den Fokus setzen muss.

Bei Fantasy im speziellen ist das Problem, dass man in diesem Rahmen eigentlich jedes Genre schreiben kann: Krimis mit Ork-Detektiven, Steampunk-Romance, Thriller mit Dämonen, Dystopien im Elfenreich ... Es können eigentlich sämtliche Variablen vermischt werden, was es zum einen sehr spannend und flexibel macht, zum anderen aber die Orientierung erschwert. Deswegen gibt es in der Fantasy auch so viele Tropes und Klischees - Waisen die keine sind, brummelige Zauberer, ... sie helfen Erwartungshaltungen aufzubauen. (Und dann kommt noch hinzu dass viele dieser Tropes heutzutage auch wieder gerne gebrochen werden - zB die Prinzessin die keine Damsel in Distress mehr ist sondern gut alleine zurecht kommt usw.)
Ich denke das ist mit der Grund, warum es in der Fantasy immer mehr dieser (scheinbar) unsinnigen Twists und falschen Spuren gibt: es gibt unheimlich viele Möglichkeiten in welche Richtung die Geschichte gehen kann, man will Klischees vermeiden, muss sich aber dran orientieren, man will Leser die schon fast alles gesehen und gelesen haben trotzdem noch überraschen ... man verläuft sich praktisch im eigenen Plot.  ;)

Als Autor ist es daher meiner Meinung nach wichtig, dass man sich erstmal selbst darüber klar wird, was genau man erzählen will - geht es mir um die Lösung eines Rätsels, oder darum dass zwei Figuren zusammenkommen, oder will ich eine Parabell auf die aktuelle politische Situation schreiben - und sich dann daran zu orientieren, welche Erwartungshaltung man in den Lesern wecken will und welche Hinweise man ihnen dann gibt, um sie entweder zu bestätigen oder zu überraschen.

Wenn es um das Lösen eines Rätsels geht kann man soviele Hinweise geben und flasche Spuren legen wie man will, solange sich am Ende alles logisch nachvollziehbar auflösen lässt.
Will man stattdessen zwei Figuren miteinander verkuppeln muss man dafür sorgen dass auch die Leser die beiden zusammensehen will, dann kann man den beiden soviele Steine in den Weg legen wie man will, die Leser werden mitfiebern, ob und wie sie es trotzdem schaffen. (Wobei man auch hier auf eine gewisse Konsistenz achten muss, speziell in den Chakateren.)
Geht es darum die Leser dazu zu bewegen über sich selbst und die Welt in der sie leben nachzudenken, kann die innere Losik der Erzählung auch schonmal gebrochen werden, wenn man sicherstellt dass es in der Realität eine Analogie gibt, die es den Lesern ermöglicht trotzdem zu verstehen worum es eigentlich geht.
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Siara

Spannender Thread! Twists sind mein Steckenpferd und für mich ein absolutes Muss für einen Roman, damit ich ihn "großartig" nennen würde. Deswegen habe ich mich mit diesem Thema natürlich auch schon beschäftigt.

Stark unterscheiden muss man hier, finde ich zwischen klassischen Red Herrings, also falschen Fährten, und Dingen, die nur einfach nicht nach Plan laufen bzw. unvorhergesehen passieren. Was Letzteres betrifft, sollte man meiner Meinung nach sparsam platzieren. Eine lineare Handlung, die von Anfang an vorhersehbar ist, ist natürlich nicht sonderlich spannend. Andererseits geht es oft darum, dem Leser eine Art "Versprechen" zu geben, was er von der Geschichte zu erwarten hat, und ein Ziel, das er im Auge behalten kann. Wenn andauernd Unvorhergesehenes dazwischenkommt, kann die Geschichte schnell auseinanderfallen, und als Leser kann man nicht mehr wirklich überrascht werden, weil man ohnehin keine Ahnung hatte, in welche Richtung es geht.

Aber das ist, wenn ich es richtig verstanden habe, gar nicht Thema des Threads. Sonders es geht darum, wie man Twists einerseits vernünftig einleitet, sodass sie nicht aus dem Nichts kommen, sie auf der anderen Seite aber auch nicht zu schnell zu durchschauen sind, richtig?

Dass es hier stark aufs Genre ankommt, denke ich auch. Ich kann Krimis nicht leiden, und das aus genau diesem Grund: Es ist auf die ein oder andere Weise immer die "Wer war's?"-Frage, und die sehr determiniert ist und wenig Spielraum lässt. Entweder dem Leser wird der Mörder als Figur komplett vorenthalten (was sehr billig ist), die passenden Motive werden vorenthalten (um die Aufmerksamkeit nicht auf ihn zu lenken), oder er hat ein Alibi, das als wasserdicht dargestelllt wird, obwohl es das nicht ist. In jedem dieser Fälle hat der Leser kaum eine Chance, auf die richtige Fährte zu kommen. Ein klassischer Red Herring wäre in diesem Fall eine Person, die kein Alibi und ein Motiv hat und oft keine andere Funktion als abzulenken, und das kann schnell implizieren, dass der Autor den Leser für dumm hält. Wird keine dieser Möglichkeiten benutzt, fällt die Ahnung des Lesers sicher früher oder später auf den Richtigen, und die Auflösung wirkt unbefriedigend. Meine Meinung dahingehend ist sehr voreingenommen, aber, wie gesagt, ich mag Krimis als Genre nicht.

Was in meinen Augen "gute" Twists angeht, fallen mir spontan zwei Möglichkeiten ein, die beide mit den Erwartungen des Lesers zu tun haben:

  • Falsche Erwartung aufbauen
    Hier geht es - abstrakt formuliert - darum, die Geschichte / den Protagonisten die falsche Frage stellen zu lassen und die Aufmerksamkeit auf die falsche Stelle zu lenken. Ein Beispiel: Der Protagonist macht sich auf die Suche nach der verschollenen magischen Waffe, mit der der Böse (TM) besiegt werden kann. Die Frage, die der Roman stellt, ist in diesem Fall, wo sich die Waffe befindet und wie der Protagonist sie erreichen kann. Darauf ist der Plot und die Handlung ausgelegt. Die Frage, die nicht gestellt wird, kann z.B. sein, warum wirklich nur diese eine Waffe den Bösen besiegen kann (Hinweis auf eine allgemeine Schwachstelle?), warum sie überhaupt verschollen ist (Wurde sie versteckt, weil sie gefährlich ist?), warum die Hinweise auf diese Waffe dem Protagonisten ständig in den Schoß zu fallen scheinen (Versucht jemand, ihn zu lenken/manipulieren?)? Das alles passiert eher im Hintergrund. In diesem Fall wäre die komplette Haupthandlung in gewisser Weise ein Red Herring, auch wenn sie absolut nötig ist, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen und damit nicht unnötig oder unbefriedigend wirkt. Ein Meister dieser Technik ist in meinen Augen Brandon Sanderson, z.B. mit der ursprünglichen Mistborn-Trilogie.
  • Mit vorhandenen Erwartungen spielen
    In diesem Fall muss gar keine falsche Erwartung gesät werden, weil sie schon da ist. Es wird auf Klischees zurückgegriffen, wie z.B., dass der Gärtner der Mörder ist, dass der Protagonist sich selbstverständlich als der auserwählte Held herausstellt, dass die hübsche Blonde natürlich nicht die Hellste Kerze auf der Torte ist, etc. Auch wenn die Medien momentaner diverser werden und mit (teils schädlichen) Klischees brechen, sind in unseren Köpfen immer noch gewisse Vorurteile und Erwartungen verankert. Diese kann man wunderbar nutzen, um die Aufmerksamkeit des Lesers in eine falsche Richtung zu lenken. In diesem Fall ist unsere Voreingenommenheit ein natürlich gegebener Red Herring. Aufpassen muss man hier natürlich, den Leser nicht völlig zu enttäuschen, weil er sich etwas anderes versprochen hat. (Das geht dann in Richtung dessen, was Dämmerungshexe geschrieben hat). Insofern kann diese Technik eine Gratwanderung sein. Ein in meinen Augen gelungenes Beispiel (dauert allerdings gute zehn Minuten) ist diese Lesung eines Bilderbuches von Patrick Rothfuss.
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

AlpakaAlex

In der Regel mag ich Red Herrings nicht. Also jedenfalls nicht in dem Sinne, dass in der Geschichte Hints für eine Lösung angedeutet werden, aber dann eine andere Lösung die richtige ist. Denn in fast allen Fällen, die mir auf Anhieb einfallen, sind diese Hinweise auf die falsche Lösung im Nachhinein unlogisch und ergeben keinen Sinn. Also das fällt mir besonders häufig in Krimis auf, wo dann die reale Lösung entweder durch einer Menge erzwungener Ringe springen muss, um zu begründen, warum es diese Hinweise gegeben hat, oder die reale Lösung lässt einfach ein paar Punkte unter den Teppich fallen und hofft, die Lesenden haben vergessen, dass es diese Hinweise überhaupt ursprünglich gab.

Was ich allerdings mag, ist, wenn eine Geschichte mit Genreerwartungen spielt - was ja auch in diese Richtung geht. Also man erwartet, dass sich ein Charakter auf eine bestimmte Art und Weise verhält, weil er eben oberflächlich gesehen einem spezifischen Stereotyp entspricht. Oder man erwartet, dass dies oder jedes passiert, weil es eben ein für das Genre so üblicher Trope ist, dass man es sich anders gar nicht vorstellen kann. Oder in Filmen eventuell auch, dass Zuschauer*innen mit etwas rechnen, weil Schauspieler*innen meistens Type Cast sind (also bspw. dass man bei Sean Bean damit rechnet, dass er stirbt, oder Mark Strong direkt als den Maulwurf in einer Organisation vermutet, weil er meistens Antagonisten spielt).

Ja. Das sind nur so ein paar Gedanken zu dem Thema.