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Tresilean und Yestin, der Verschlossene und die Plappertasche

Begonnen von Maja, 12. September 2023, 17:50:26

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Tasha

Ist natürlich auf seine Art auch aussagekräftig, dass er gerade da nicht drüber sprechen will...
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Maja

Zitat von: Tasha am 16. September 2023, 02:39:44Ist natürlich auf seine Art auch aussagekräftig, dass er gerade da nicht drüber sprechen will...
Ja, das habe ich mir auch gedacht.

Dafür hatte ich dann heute Nacht einen Traum aus Yestins Perspektive. Prima, habe ich mir gedacht, so löst sich das von selbst! Und dann bin ich wachgeworden und wollte das Ganze aufschreiben ... Wtf? Yestin macht an der Seite von Gandalf eine Zeitreise durch die Hölle und geht zwischen den Zeitportalen verloren ... Ich fürchte, das bringt mein Buch dann doch nicht so viel weiter, wie ich mir erhofft hatte.

Inzwischen ist mir ein besserer Traum für ihn eingefallen, den ich heute Abend aufzuschreiben versuche - der ist aber ganz furchtbar, und Yestin tut mir jetzt schon furchtbar leid deswegen.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Maja

Hier habe ich jetzt Yestins Traum. Er übersteigt an Länge das, was wir sonst als Schnipsel erlauben, aber ich habe mir offiziell gestattet, ihn hier zu posten, weil es kein Schnipsel ist und keine eigenständige Kurzgeschichte, sondern eine Antwort im Rahmen der Vorstellungsgespräche. Wenn jemand anderes mal in der gleichen Situation sein sollte, verweist auf diesen Fall. :)
Es ist kein schöner Traum geworden. Aber ich kenne Yestin jetzt nochmal ein Stückweit besser ...


Ich weiß nicht, ob das ein Traum ist, oder ein Schatten, oder etwas anderes. Ich bin im Zirkus, und ich gehe zu Ruans Wagen – Ruan Severean, das ist unser Direktor. Er bittet mich herein, schaut an mir runter. »Was gibt es?«, fragt er.
»Ich kann das nicht mehr machen«, sage ich. »Ich sehe sie alle sterben.«
»Weil sie alle sterben werden«, sagt Ruan. »So ist das nunmal. Alle müssen sterben, früher oder später.«
Ich schüttele den Kopf. »Aber ich muss ihnen dabei zusehen«, sage ich. »Und ich kriege die Bilder nicht aus meinem Kopf.«
Ruan legt mir eine Hand auf die Schulter. »Setz dich«, sagt er. Sein Wagen ist geräumig. Er hat einen Tisch mit zwei Stühlen. Auf den einen setze ich mich, auf dem anderen nimmt Ruan Platz. »Hast du es schon mal mit einem Schluck Schnaps versucht?«
»Ich trinke keinen Schnaps«, sage ich. Ich habe wieder meinen Vater vor Augen.
»Dann tust du das jetzt«, sagt Ruan. »Du machst, was ich dir sage. Und ich lasse dich nicht gehen, nicht einfach so. Nicht, weil du ein bisschen Bauchschmerzen von der wahrheit bekommst. Aber ich bekomme nie wieder einen Wahrsager, der wirklich die Zukunft sieht.« Er stellt mir ein kleines Glas hin und holt eine Flasche hervor, aus der er mir einschenkt. »Trink das.« Er lacht. »Dann wachsen dir Haare auf der Brust.«
Ich will nicht. Ich versuche zu lachen. »Ich will ja nicht aussehen wie Lula«, sage ich, und es tut mir sofort leid, weil ich Lula ja mag.
Ruan schiebt das Glas näher an mich heran. »Solange du in meinem Zirkus bist, tust du, was ich dir sage«, sagt er. »Du weißt, was mit dir passiert, wenn du nicht mehr hier bist.«
Vielleicht hat er recht. Ich will die Bilder aus meinem Kopf bekommen. Ich nehme das Glas und trinke es aus, und ich bekomme den Hustenanfall meines Lebens.
Ruan schaut mir zu, ungerührt, und schenkt mir nach. »Auf einem Bein kannst du nicht stehen«, sagt er, und wieder trinke ich. Wieder muss ich husten. Es brennt in meinem Rachen. Mein ganzer Hals brennt. Die Bilder sind immer noch in meinem Kopf. Ruan schenkt mir noch einmal nach. »Du hast noch viel zu lernen«, sagt er. Und ich gehorche.
Hin und her geht das, Ruan gießt mir ein, und ich trinke, viermal, fünfmal. Die Welt schrumpft zusammen, die Ränder fransen aus, es gibt nur noch uns beide. Fünf Glas. Die Fünf der Kelche. Einsamkeit. Verzweiflung. Keine gute Karte. Aber ich will nicht verzweifeln. Die Fünf der Kelche ist nicht meine Karte. Ich muss weitertrinken. Ich will die Sieben. Die Sieben der Kelche ist eine gute Karte für mich. Die Bilder hinter meiner Stirn verblassen. Alles verblasst. Alles dreht sich. Vor mir sehe ich die sieben Kelche.
Hinter mir höre ich eine Stimme. Sie ruft meinen Namen. Es ist die Stimme meiner Mutter. Ich habe sie noch nie gehört, aber ich weiß es. Sie ruft mich, wieder und wieder. Sie klingt verzweifelt, mahnend, warnend. »Yestin!«, ruft sie. »Yestin! Dreh dich um!«
Aber ich kann mich nicht mehr umdrehen. Die Sieben der Kelche ist eine gute Karte. Die umgedrehte Sieben der Kelche ist es nicht. Niemals mehr umkehren. Nur noch geradeaus. Die Stimme meiner Mutter verblasst. Die sieben Kelche funkeln. Sie quellen über vor Reichtümern, Schätzen, und Schnaps. Ruan hatte Recht. Vielleicht hatte sogar mein Vater recht. Ich kann die Bilder hinter meiner Stirn besiegen. Ich kann lernen, sie zu kontrollieren.  Vor mir türmen sich Karten auf. Ich ziehe die richtigen.
Ich habe meinen Weg gefunden. Die Schwärze verschluckt mich. Ich werde wach. Mein Schädel hämmert. Es war kein Traum. Diesmal nicht.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Fluide

#18
Ist ja spannend hier, besonders auch die Träume, aber nee, eigentlich alles, also einfach die Charaktere und wie sie sich hier entwickeln. Darf ich auch noch mal fragen oder reichts langsam?

Meine Fragen wären (und ich hoffe, ich habe die Antworten nicht überlesen):

An Tresilean:
Du schreibst ja, dass du 8 Jahre alt warst, als du aus Versehen deine Eltern getötet hast und das du nichts dabei empfunden hast. Wie würdest du dich vor diesem Zeitpunkt beschreiben bzw. hast du dich durch dieses Erlebnis verändert und wenn ja, wie?

Außerdem lese ich aus deinem Schreiben einen großen Wunsch nach Ruhe heraus. Ist das so? Ist es das, was du suchst? Ruhe und Frieden? Ist das etwas, was Macht mit sich bringen würde? Oder geht es mehr um Rache, dass du Macht hast und dich rächen kannst, an allen, die dir je ein Unrecht angetan haben? Glaubst du vielleicht, dass Rache zu innerer Ruhe führt?

Bist du gerne allein? Oder wünschst du dir auch manchmal Freundschaft und Gemeinschaft, sowas wie ein sicheres Zuhause?

An Yestin:
Du hast es ja auch nicht immer leicht gehabt und durch deine Visionen erlebst bzw. siehst du immer wieder Schreckliches. Was denkst du, warum bist du so ein Menschenfreund, warum beschützt du Menschen, wie Lula, wie Tre, die Menschen der Stadt, für die du zu sterben bereit bist, obwohl du sie gar nicht kennst. Wie schaffst du es, so freundlich zu bleiben zu dir und zu anderen?

Andererseits beschreibst du ja auch Situationen, in denen du wütend geworden bist, wobei sich das wohl vor allem auf die Beziehung zu Androw bezogen hat. Was sind Momente in denen du wütend wirst und wie äußert sich dann deine Wut?

Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Maja

Zitat von: Fluide am 16. September 2023, 22:17:50Darf ich auch noch mal fragen oder reichts langsam?
Ich nehme gerne noch Fragen entgegen! Ich habe zwar inzwischen ein wirklich gutes Bild von den Beiden, aber ich habe einen so großen Spaß an diesem Interview wie lange an nichts mehr, und ich merke, wie ich mich hier richtig in Form schreibe. ;D

Also, zu den neuen Fragen:

Erst Tresilean:
Zitat von: Fluide am 16. September 2023, 22:17:50Du schreibst ja, dass du 8 Jahre alt warst, als du aus Versehen deine Eltern getötet hast und das du nichts dabei empfunden hast. Wie würdest du dich vor diesem Zeitpunkt beschreiben bzw. hast du dich durch dieses Erlebnis verändert und wenn ja, wie?
Damals war ich Sandy. Den Namen benutze ich schon lange nicht mehr. Ich habe Erinnerungen an diese Zeit, aber es fühlt sich nicht an wie etwas, das ich selbst erlebt hätte. Ich war ein anderer, damals, bevor mich der Blitz das erste Mal berührt hat. Als sich die roten Linien das erste Mal über meinen Körper gezogen haben, als der Funke mir aus den Fingerspitzen geflossen ist, da bin ich erst erwacht. Vorher, Sandy ... Sandy war nur ein Kind. Er wusste es nicht besser, er konnte sich nicht wehren. Es war immer sein Vater gegen seine Mutter und beide gegen das Kind, es war ein Haus voller Streit und Zorn, und Sandy war das schwächste Glied in der Ketter, derjenige, der alles abbekommen hat und niemanden mehr unter sich, an den er das hätte ableiten können.

Als sie gestorben sind - ich hatte keine Wahl, als nichts zu fühlen. Die Alternative wäre Schuld gewesen, größere Schuld, als ein Junge von acht Jahren zu stemmen in der Lage ist. Ich war erwacht, aber ich hatte keine möglichkeit, mich zu kontrollieren - weder meine Gabe, noch meine Gefühle. Und das einfachste war, einfach nichts mehr an mich heranzulassen. Ich war immer noch ein Opfer, ich war immer noch schwach, und manchmal ist es aus mir herausgebrochen und hat diejenigen verbrannt, die in meinem Weg standen, aber ich habe mich noch nicht einmal daran erfreuen können. Vorher, als ich Sandy war, da war ich nur Angst, und Angst wollte ich nie wieder sein, aber ich hatte nichts, was ich stattdessen hätte fühlen können oder dürfen.

Erst, als ich zum zweiten Mal erwacht bin, diesmal richtig, als ich gelernt habe, meine Gaben zu kontrollieren, habe ich gelernt, wirklich ich selbst zu sein. Aber es war ein weiter Weg dahin. Und inzwischen habe ich zu viele Menschen auf dem Gewissen, um plötzlich mit Schuldgefühlen anzufangen. Davon wird niemand wieder lebendig, davon würde höchsten ich selbst mich schlechter fühlen, und dann lasse ich es lieber ganz. Und so bin ich jetzt ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Den Weg dorthin hätte ich lieber anders gehabt. Aber es ist, wie es ist, und ich bin, wie ich bin.
 
Meine Eltern sind lange tot, und das durch meine Schuld. Aber ich führe immer noch den Namen meiner Familie, und das ist auch eine Form des Angedenkens. Sie verdienen es, dass ich mich an sie erinnere. Nicht in Liebe. Aber zumindest im Trotz. Sie haben mich klein gemacht, aber sie haben mich nicht klein halten können. Sie sind nicht mehr, aber ich bin. Und der Name Tresilean gehört jetzt mir ganz allein.

Zitat von: Fluide am 16. September 2023, 22:17:50Außerdem lese ich aus deinem Schreiben einen großen Wunsch nach Ruhe heraus. Ist das so? Ist es das, was du suchst? Ruhe und Frieden? Ist das etwas, was Macht mit sich bringen würde? Oder geht es mehr um Rache, dass du Macht hast und dich rächen kannst, an allen, die dir je ein Unrecht angetan haben? Glaubst du vielleicht, dass Rache zu innerer Ruhe führt?
Vielleicht ist Rache das falsche Wort. Rache, das hört sich so rückwärts gewandt an. Es ist wahr, ich möchte die Menschen, die mir das angetan haben, bestrafen, und, wenn ich das kann, vernichten - aber damit stelle ich auch sicher, dass sie niemanden mehr so behandeln, wie sie mich behandelt haben. Und dass vielleicht auch andere dann innehalten und schaudern und wissen, was passieren kann, wenn man zu lange auf einem Menschen herumtrampelt - was passiert, wenn der sich wieder aufrichtet.

Ich hole mir die Kontrolle zurück. Kontrolle, das ist mir das wichtigste. Ruhe ist mir wichtig, aber mit Kontrolle kann ich sie herbeiführen. Und Frieden - das mag überheblich klingen, aber ich denke, den Frieden habe ich in mir bereits gefunden. Ich habe mit mir, mit meiner Vergangenheit, mit dem, was ich getan habe, meinen Frieden gemacht. Ich kann gut und tief schlafen, und ich weiß, das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich bin kein Opfer mehr, aber ich halte mich auch nicht lange damit auf, ein Täter zu sein. Ich bin einfach nur noch, ganz kompromisslos, ich selbst.

Ich mag mir nichts vorwerfen - nichts, was ein kleiner Junge getan hat, der keine Kontrolle über seine Gaben hatte und das, was geschehen ist, nicht hätte verhindern können. Ich bin mit mir im Reinen. Und wenn ich will, kann ich all diese lärmenden Stimmen verstummen lassen. Ich kann die Stille herbeiführne, nach der ich mich sehne. In mir selbst habe ich das bereits erreicht. So viel, das in mir lärmen wollte - ich habe mich still gemacht. Das war eine bewusste Entscheidung. Und damit geht es mir gut.


Dann Yestin:
Zitat von: Fluide am 16. September 2023, 22:17:50Du hast es ja auch nicht immer leicht gehabt und durch deine Visionen erlebst bzw. siehst du immer wieder Schreckliches. Was denkst du, warum bist du so ein Menschenfreund, warum beschützt du Menschen, wie Lula, wie Tre, die Menschen der Stadt, für die du zu sterben bereit bist, obwohl du sie gar nicht kennst. Wie schaffst du es, so freundlich zu bleiben zu dir und zu anderen?
Ich habe in meinem Leben eine Menge Scheiße fressen müssen für Dinge, die ich nicht in der Hand habe - für das, was ich bin, mit meiner Gabe, für die Art, wie ich liebe ... Da will ich zumindest die Dinge, die ich verantworten kann, richtig machen. Und überall da, wo ich dann hingekommen bin, habe ich Menschen getroffen, die mir geholfen haben, die Dinge für mich getan haben, auch wenn sie das nicht gemusst hätten. Man kann über Ruan sagen, was man will, und ich halte nicht mehr viel von ihm - aber er hat mir ein Zuhause gegeben, als ich das am Nötigsten hatte, hat mir und meiner Gabe eine Chance gegeben, und auch wenn er wusste, dass ich schwul bin, hat er mich nie verpfiffen. Jeder im Zirkus wusste, dass Androw und ich zusammen waren, und niemand hat etwas dagegen gesagt. Das war alles einfach eine große Familie - und in einer Familie haben sich auch nie alle immer gleich lieb, aber man hält zusammen.

Ich würde nicht sagen, dass ich grundsätzlich jetzt der größte Menschenfreund bin. Ich will, erstmal, für meine Freunde da sein, weil ich weiß, dass sie immer auch für mich da waren, wenn ich sie gebraucht habe. Die anderen Menschen - eigentlich könnten sie mir egal sein. Eigentlich. Praktisch habe ich dann diese Gabe, und das ändert alles. Ich sehe ihre Schicksale, ob ich will oder nicht. Da drängen sie sich mir auf, und plötzlich sind sie ein Teil von mir und ich ein Teil von ihnen, und wenn ich ihren Tod gesehen habe, können sie mir nicht mehr gleichgültig sein. Dann will ich versuchen, das, was ich gesehen habe, zu verhindern, schon damit ich selbst wieder besser schlafen kann. Damit ich dann sehen kann, wie sie friedlich im Schlaf sterben und nicht gewaltsam - ist das Menschenfreundlichkeit? Oder doch am Ende nur reiner Eigennutz?

Zitat von: Fluide am 16. September 2023, 22:17:50Andererseits beschreibst du ja auch Situationen, in denen du wütend geworden bist, wobei sich das wohl vor allem auf die Beziehung zu Androw bezogen hat. Was sind Momente in denen du wütend wirst und wie äußert sich dann deine Wut?
Hat irgendjemand mal gesagt, Alkohol bringt das Beste im Menschen zutage? Richtig, das sagt keiner, weil es nicht stimmt. Wenn ich trinke, werde ich früher oder später aggressiv, und dann werde ich auch ungerecht. Schreie rum, schlage um mich - dann gehe ich nicht gegen diejenigen, die mich irgendwann mal schlecht behandelt haben - dann kocht nur die Wut hoch und richtet sich gegen diejenigen, die am wenigsten dafür können. Wer dann versucht, mich wieder runterzuholen, ist der erste, der das abbekommt. Und üblicherweise ist Androw derjenige gewesen, der sich zur Aufgabe gemacht hat, mich wieder runterzuholen. Weil er wusste, er ist so viel stärker als ich, dass ich ihm sowieso nichts tun kann, selbst wenn ich das wollte. Und ich, ich wusste natürlich auch, dass ich neben ihm klein und schwach bin. Das hat mich dann nur noch zorniger gemacht, und noch lauter.

Androw konnte das trennen, das nüchterne Ich und das besoffene, er hat mir das alles verziehen, aber vielleicht wollte ich gar nicht alles verziehen bekommen. Wenn er einmal gesagt hätte »bis hierher und nicht weiter«, wenn er mich und meinen Zorn einmal ernst genommen hätte, statt am anderen Tag immer nur zu tun, als wäre nichts gewesen ... Da habe ich mich nicht ernstgenommen gefühlt, das habe ich dann tagsüber in mich reingefressen, bis ich dann abends wieder betrunken war und das alles wieder aus mir rausgebrochen ist, und dann hat sich das hochgeschaukelt. Ich mag mich selbst nicht, wenn ich getrunken habe. Kenne niemanden, der das täte.

Deswegen habe ich ihn verlassen. Ich brauche jemanden, der sich nicht alles gefallen lässt. Einen, für den es sich lohnt, nüchtern zu bleiben, weil er mir zu verstehen gibt, dass er diese Seite von mir nicht länger sehen will - einen, der mir da Konsequenzen aufzeigt. Und vielleicht lerne ich dann auch mal, diesen zornigen Teil von mir rauszulassen, wenn ich nüchtern bin, und dann gegen diejenigen, die Schuld daran haben, dass er überhaupt da ist.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Maja

Ich danke euch allen für die großartige Hilfe! Jetzt hätte ich doch noch eine Bitte: Könntet ihr ein paar Fragen an den jungen Sandy Tresilean stellen, bevor er bei dem Geheimbund gelandet ist? Ich werde wahrscheinlich ziemlich viel über seine Zeit im Zirkus und davor schreiben, in seiner Perspektive, und ich glaube, er hat sich im Erwachsenwerden sehr verändert - es wäre nett, wenn ich ihn als Kind nochmal neu kennenlernen könnte.
Riesengroßes Dankeschön!
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Robert Gernhardt

Biene

Hallo Tresilean,

da ist mir doch noch eine Frage an dich eingefallen.
Aus dem, was du erzählt hast, schließe ich, dass du als Kind einsam warst. Hattest du keine Freunde? Wenn ja, warum nicht? Auch wenn die Eltern doof sind, muss man ja nicht freundelos sein. Hast du denn gar keine schönen Erinnerungen, egal wie klein und unwichtig sie erscheinen?
Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche. (Franz von Assisi)

Fluide

#22
Oh, da bin ich gerne noch mal dabei ...

An den Sandy, vor dem Unfall
Magst du mal schreiben, wie du so deine Zeit verbringst? Gibt es etwas, das dir Freude macht? Wie sieht ein stinknormaler Tag bei dir aus? Wie kommst du mit deinen Altersgenossen klar? Hast du Freunde? Gibt es jemanden, an den du dich wenden kannst, wenn du Kummer hast? Wenn ja, an wen? Wenn nein, was machst du dann?

An den Sandy, der recht frisch beim Zirkus gelandet ist
Du hattest ja eine schwierige Zeit nach dem Unfall mit deinen Eltern. Wie bist du eigentlich hier gelandet und möchtest du hier bleiben? Gibt es hier Menschen, die du magst und denen du vertraust? Welche und warum? Was wünschst du dir am allermeisten? Was fürchtest du am allermeisten? Denkst du manchmal noch an deine Eltern? Vermisst du sie oder dein altes Zuhause? Hat dir schon jemand gesagt, dass es ein Unfall war, für den du nichts kannst (denn das war es!) oder weiß gar keiner, wie es zu ihrem Tod gekommen ist? Magst du mal beschreiben, wie ein normaler Tag hier für dich abläuft?
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Walt Whitman

Maja

Zitat von: Biene am 17. September 2023, 11:58:58Aus dem, was du erzählt hast, schließe ich, dass du als Kind einsam warst. Hattest du keine Freunde? Wenn ja, warum nicht? Auch wenn die Eltern doof sind, muss man ja nicht freundelos sein. Hast du denn gar keine schönen Erinnerungen, egal wie klein und unwichtig sie erscheinen?
Ich war als Kind wirklich sehr einsam. Ich bin zur Schule gegangen, aber meine Eltern hatten kein Geld für eine Privatschule, oder ich war es ihnen nicht wert, und so war ich auf der Volkschule, sechzig kleine Jungen in einer Klasse, und ich habe es gehasst. Die Lehrer waren grausam, haben uns hart bestraft für alles, was gegen ihre Regeln verstieß, und wir hielten still vor Angst. In den Pausen habe ich allein am Rand gestanden, ich war ein stilles Kind, und in der Klasse bin ich schlichtweg untergegangen.

Und meinen Eltern kam meine Einsamkeit gerade recht. Sie habe mir nicht erlaubt, draußen zu spielen, andere Kinder zu besuchen oder nach Hause mitzubringen - und wie in der Schule bin ich auch dort immer nur angeschrien und verprügelt worden. Ich weiß noch, wie ich am Fenster stand und dem Gewitter zugeschaut habe, und wie die Blitze über den Himmel zuckten, hatte ich noch nie etwas Schöneres gesehen, als ahnte ich bereits, dass ich selbst so einen Funken in mir leben hatte.

Nachem sie tot waren, ist es nicht besser geworden. Ich war im Haus meines Onkels und seiner familie - da gab es andere Kinder, meine Cousins und Cousinen, doch wir wurden keine Freunde - es gab keinen Zweifel daran, dass sie mich nicht freiwillig aufgenommen hatten, und sie wollten, dass ich für meinen Unterhalt arbeiten sollte, nicht mehr zur Schule gehen, und am liebsten hätten sie mich gleich ins Arbeitshaus gesteckt oder besser noch in die Fabrik, aber ich war klein und zart, ich hätte vielleicht Mädchenarbeit in einer Spinnerei machen können, aber die wird so schlecht bezahlt, dass mein Onkel doch lieber versucht hat, mich im Bergwerk unterzubringen - aber dazu ist es nicht mehr gekommen, weil das Haus vom Blitz getroffen worden ist, und ich war beinahe noch froher darüber als bei meinen Eltern.

Und so ging das weiter, ich hatte ja noch mehr Familie, aber niemand hat mich wirklich haben wollen, und ich war nicht gut darin, Freundschaften zu schließen - ich war still und schüchtern, nach dem Tod meiner Eltern noch mehr als vorher, und ich bin nirgendwo lang genug geblieben, um mein Herz an jemanden zu hängen oder selbst jemandes Herz zu gewinnen. Mit den Kindern im Waisenhaus oder danach im Arbeitshaus bin ich zurechtgekommen, wir waren alle in der gleichen Situation, und das verbindet - aber als ich dorthin kam, hatten alle schon ihre Freundschaften, und ich konnte mich an keinen so sehr dranhängen, dass der für mich seinen alten Freund hätte aufgeben wollen.

Meinen ersten richtigen, guten Freund habe ich tatsächlich erst gefunden, als ich Yestin getroffen habe. Und ich musste gar nicht viel tun dafür - was gut ist, denn ich weiß wirklich zu wenig darüber, wie man Freundschaften schließt und was man dafür zu tun hat. Aber er hat mich unter seine Fittiche genommen, er hat mir gesagt, dass ich jetzt zu seiner Familie gehöre, er hat mich mit allen bekanntgemacht, und ich habe mich so angekommen gefühlt wie eigentlich noch nie im Leben. Der Zirkus ist ein zweischneidiges Schwert, weil ich es wirklich gehasst habe, da ausgestellt zu werden, aber die Menschen da, die meisten von ihnen, das war wirklich wie Familie. Ein komische Familie, nicht verwandt oder verschwägert, aber verbunden. Und ich habe da etwas gefunden, das ich davor und danach nie wieder erlebt habe. Aber weil ich den größten Teil meines Lebens ohne Freunde verbracht habe, hat es mir dann auch nicht so schlimm gefehlt, sie nicht mehr um mich zu haben, als ich von da weggekommen bin.


Zitat von: Fluide am 17. September 2023, 12:51:33Magst du mal schreiben, wie du so deine Zeit verbringst? Gibt es etwas, das dir Freude macht? Wie sieht ein stinknormaler Tag bei dir aus? Wie kommst du mit deinen Altersgenossen klar? Hast du Freunde? Gibt es jemanden, an den du dich wenden kannst, wenn du Kummer hast? Wenn ja, an wen? Wenn nein, was machst du dann?
Ich weiß nicht, ob mein Leben es wert ist, irgendwie groß darüber zu erzählen. Es ist ein ganz normales Leben, denke ich. Ich gehe zur Schule, das ist immer von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, und dann muss ich meine Hausarbeiten machen, und dann gehe ich ins Bett. Das ist normal, denke ich. Meine Eltern sind sehr streng mit mir, ich glaube, das sind alle Eltern - ich wünsche mir, sie würden mich etwas seltener schlagen, aber bestimmt habe ich ihnen einen Grund dazu gegeben. Sie streiten immerzu, und das ist bestimmt auch nur meinetwegen. Sie schreien sich immerzu an, und sie schreien mich immerzu an, und ich wünsche mir einfach, dass es einmal still bei uns im Haus wäre. Wenn es nicht um mich geht, geht es um Geld, und dabei sind wir nicht einmal wirklich arm oder wirklich reich, dass es sich lohnen würde, darüber zu streiten. Aber vielleicht suchen sie auch nur etwas, weswegen sie sich anschreien können und für das sie mir die Schuld geben können ...

Ich wüsste nicht, mit wem ich darüber reden sollte. Es interessiert sich ja keiner für mich. Da sind meine Lehrer, die wollen nur sehen, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe, und dass ich in der Schule still bin und aufpasse. Ich bin still, da müssten sie mich eigentlich mal loben, aber sie finden auch immer nur Gründe, mich anzuschreien und zu schlagen. Das machen sie mit den anderen Jungen auch, deswegen denke ich ja, mein Leben ist nicht anders als das der anderen. Ich bin einfach nur ein Schuljunge. Aber ich freue mich schon darauf, erwachsen zu sein. Dann kann mir keiner mehr was. Dann tut mir keiner mehr weh. Aber vielleicht werde ich dann genau wie sie. Vielleicht schreie ich dann auch meine Kinder an. Ich mag die Vorstellung nicht. Aber alle Erwachsenen sind gleich. Warum sollte gerade ich dann anders sein? Ich bin nichts besonderes.

Nur manchmal, da stehe ich am Fenster und ich schaue hinaus, wenn es gewittert, und dann stelle ich mir vor, dass ich doch irgendwo etwas Besonderes bin. Ein bisschen herumträumen will selbst ich einmal dürfen.


Zitat von: Fluide am 17. September 2023, 12:51:33Du hattest ja eine schwierige Zeit nach dem Unfall mit deinen Eltern. Wie bist du eigentlich hier gelandet und möchtest du hier bleiben? Gibt es hier Menschen, die du magst und denen du vertraust? Welche und warum? Was wünschst du dir am allermeisten? Was fürchtest du am allermeisten? Denkst du manchmal noch an deine Eltern? Vermisst du sie oder dein altes Zuhause? Hat dir schon jemand gesagt, dass es ein Unfall war, für den du nichts kannst (denn das war es!) oder weiß gar keiner, wie es zu ihrem Tod gekommen ist? Magst du mal beschreiben, wie ein normaler Tag hier für dich abläuft?
Ich wollte nicht, dass das passiert. Dass sie sterben. Ich wollte nur, dass sie mich in Frieden lassen, das ist alles. Jetzt sind sie tot. Und nur ich weiß, dass das meine Schuld war. Ich bin ein Mörder, und niemand weiß es. Ich muss nicht ins Gefängnis dafür. Aber die Leute haben verstanden, dass ich ein Freak bin, und jetzt bin ich hier, im Zirkus, bei den Freaks. Ich versuche nicht mehr, wegzulaufen. Ich bin so oft weggelaufen, und jedes Mal ist es danach schlimmer geworden als davor. Mein Onkel, das war immerhin noch Familie. Die Großtante, bei der ich danach war, auch, aber sie hat mich nicht behalten wollen. Im Waisenhaus haben wir gehungert und gefroren. Im Arbeitshaus haben wir gehungert und gefroren und den ganzen Tag lang in der Fabrik geschuftet. Jetzt, der Zirkus - ich habe Angst, was danach kommen könnte. Ich kann mir nichts Schlimmeres mehr vorstellen.

Ich bin im Zirkus, aber ich bin kein Akrobat. Ich werde nur ausgestellt, im Tingeltangel. Sie nennen mich »Der Junge, der dreimal vom Blitz getroffen wurden«. Ich muss in einem Glaskasten sitzen, wie in einem Käfig, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, damit die Leute die Male an meinem Körper besser sehen können. Dabei sind das nicht einmal mehr die echten Male. Sie sind nur aufgemalt. Der Direktor wollte sie mir tätowieren lassen, das ist einfacher, als sie jeden Tag neu aufzumalen, aber Yestin hat ihn davon abgehalten. Yestin ist mein Freund, der erste, von dem ich das behaupten würde. Er ist blind, aber er sieht die Zukunft, und er hat in meine Zukunft geschaut und dann dem Direktor gesagt, dass die Male von selbst wiederkommen werden und es dann nur ein Durcheinander gäbe, wenn sie außerdem tätowiert wären.

Ich glaube, das hat er nur gesagt, um mir zu helfen. Aber dass er die Zukunft sieht, das stimmt wirklich. Er hat zwei Karten für mich gezogen und mir gesagt, dass ich sie mir merken soll. Auf der einen ist ein Magier abgebildet und auf der anderen ein Turm, der vom Blitz getroffen wird, und da hatte ich schon Angst, er verrät den Leuten, was ich bin und was ich getan habe, aber er hat versprochen, mich zu beschützen. Mich hat noch nie jemand beschützt. Und ich will gerne einmal ein Magier werden. Yestin meint, das bin ich. Und der Turm mit den Blitzen, das ist meine Gabe. Ich will ihm das gerne glauben. Ich kann diesen Blitz in mir fühlen. Das ist beinahe, als wäre ich lebendig. Aber in mir fühle ich mich ganz tot.

Aber hier - ich hasse den Zirkus, also den Tingeltangel, und den Direktor, und die Leute, die kommen und mich anstarren. Manchmal bin ich froh um den Glaskasten, weil die Leute sonst versuchen würden, mich anzufassen, und so können sie das nicht. Das ist furchtbar. Aber es ist schön, Freunde zu haben. Wenn ich kann, bin ich bei Yestin. Ich mag auch seine anderen Freunde, Lula und Androw. Sie sind ein bisschen wie Eltern für mich, aber wie Eltern, die einen nicht anschreien oder schlagen. Androw kümmert sich auch um Yestin, wenn der betrunken ist. Ich mag keine Betrunkenen, aber Yestin tut mir leid. Er hat mir gesagt, dass er trinken muss, weil seine Gabe ihm keine Wahl lässt. Ich bin froh, dass ich seine Gabe nicht habe. Meine ist anders, und irgendwann wird sie mir gehorchen. Dann kann ich entscheiden, wer vom Blitz getroffen wird - und vor allem, wer nicht.

Wenn ich das hätte steuern können - dann wären sie nie gestorben. Yestin sagt, es ist nicht meine Schuld. Das sagt er, um nett zu mir zu sein, und darum tue ich so, als ob ich ihm das glaube. Manchmal wünsche ich mir, der Zirkus würde auch vom Blitz getroffen. Aber ich hätte zu große Angst, dass meinen Freunden dort etwas passieren könnte. Und dass Yestin dann denkt, ich habe das mit Absicht gemacht, und ich hätte gewollt, dass ihm etwas passiert. Das will ich nicht. Das habe ich noch nie gewollt. Ich will, dass mir alles egal sein kann. Dass ich nicht mehr daran zurückdenken muss, was ich getan habe.

Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann wäre es, meine Gabe kontrollieren zu können. Und den Zirkus zu verlassen, als ein mächtiger Magier. Dann würde ich Yestin mitnehmen, damit er nicht mehr wahrsagen muss und nicht mehr trinken - dann könnte ich einmal etwas für ihn tun, weil er so viel für mich getan hat. Ich weiß nur nicht, ob er das will. Er ist ja ganz gern im Zirkus, denke ich. Er wird nicht ausgestellt oder angegafft, da ist das etwas anderes, und es gibt nicht so viel, was er sonst machen kann, wo er blind ist. Das gilt für die meisten Freaks hier. Wenn sie den zirkus nicht hätten, wären sie im Armenhaus, oder in einer Anstalt, und das will hier keiner.

Manchmal denke ich an meine Familie zurück. Dann mache ich mich stumpf, bis es aufhört. Ich will nicht dorthin zurückdenken müssen. Ich will ein Magier sein. Aber ich weiß, in Wirklichkeit bin ich ein Monster.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Tasha

Ich habe es jetzt nur geschafft den Traum zu lesen, aber den fand ich auch wieder sehr eindrucksvoll und kann ihn mir auch gut als echten Traum vorstellen muss ich sagen. Er hat diese Dringlichkeit und Verzweiflung, die man in echten Träumen auch öfter fühlt.
Schön, dass die Traumsequenzen uns einen tieferen Einblick in die Charaktere und ihre Gedankenwelt bieten konnten!
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)