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Urban Fantasy mit Setting in Deutschland? Wenn ja: wo?

Begonnen von Adalia, 08. Juni 2011, 13:56:36

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Hr. Kürbis

Ich stehe nicht so sehr auf Urban-Fantasy, finde die Verankerung in Deutschland aber ziemlich reizvoll und auch nur logisch. Machen andere Autoren ja auch in ihrer Heimat und werden weltweit gelesen, auch wenn sich für einige Leser dann ein "Aha!"-Erlebnis sicher nicht so leicht einstellt. Da ist es dann eben die Herausforderung an den Autor, die Dinge auch Ortsfremden deutlich vor Augen führen zu können. Gerade deutsche Städte haben ja eine längere Historie als z.Bsp. amerikanische Städte und eignen sich meiner Meinung nach gerade für urbane Fantasy. Da prallen Mythen, Sagen und Legenden auf die moderne Gegenwart und Hexen führen tagsüber Naturkostläden in Straße YXZ und gehen am Abend mit Werwölfen in den Club im Industriegebiet. Da darf auch ordentlich die Realität gebeugt werden, aber man sollte sich eben an der Realität orientieren, wenn man den konkreten Namen einer Stadt nennt.

Alternativ kann man es aber auch auf der "inspired by" Schiene machen, einen realen Ort verwenden aber eben fiktiv interpretieren. Da haben Leser dann auch Spaß dran und werden versuchen, nach dem wahren Vorbild zu forschen. Mein Heimatdorf Kl. Süstedt (ja, so heißt das) könnte man z. Bsp. in Gr. Bitterdorf umtaufen, schon hat man freie Gestaltungsmöglichkeiten und kann trotzdem immer noch ein standortbezogenes Flair erzeugen.

Wo die ganze Sache ziemlich gut geklappt hat, meiner Meinung nach, sieht man bei den "Wächter der ..." Quadrologie von Lukianenko. Russisches Lebensgefühl und die morbide "Schönheit" Moskaus haben sich mir total erschlossen und fasziniert, abseits des ansonsten so dominanten englischsprachigen Raums.

Felsenkatze

#31
Um mal kurz eine Bemerkung meiner Agentin in die lebhafte Runde zu werfen: Urban Fantasy, die man mit Hinblick auf Veröffentlichung schreibt, ist besser nicht in Deutschland anzusiedeln. Der Drang, amerikanische Städte zu nehmen, oder solche Metropolen wie Prag oder London rührt daher, dass die Verlage glauben, Leser brauchen den Hauch "Exotik" in ihren städtischen Settings. Es ist nicht nur die - mehr oder weniger coole - Stadt, die die Attraktivität ausmacht, sondern auch das Gefühl der Fremdheit, des Entdeckens und ein Teil auch aus dem normalen Umfeld Wegträumens. Ich habe damals auch Urban in Deutschland angesiedelt - das ging gar nicht auf dem Markt.

Vielleicht geht es inzwischen besser, und ich kann mir vorstellen, dass deutsche/deutsprachige Städte mit einem gewissen Flair auch gut gehen könnten, aber dann muss man wahrscheinlich auf Berlin, Wien, vielleicht noch München oder so etwas zurückgreifen. Ein Punkt ist nämlich auch: je größer die Stadt desto mehr "Urban Flair". Das ist nämlich auch ein Punkt: nicht alles, was in der Gegenwart spielt, ist - vom Verlag definiert - "urban". Zu "Urban" gehört Großstadt und eine gewisse Düsterheit. In dem Sinne sind Twilight oder Splitterherz - obwohl gegenwärtig - alles andere als Urban Fantasy.

Versteht mich nicht falsch: ich fände Urban in Deutschland ganz toll. Aber es ist vom Markt her nicht eben begünstigt. Kann mir vorstellen, dass es im Jugendbuchbereich nicht so krass ist und Settings in Deutschland da eher angesehen sind.

Prinzipiell würde ich auch eher eine Stadt wählen, wo ich mich zumindest ein bisschen auskenne. Die Kritiken zu Lycidas merken teilweise schon an, dass Marzi London - wie seine Leser es kennen - nicht sehr gut getroffen hätte, und ich kann mir vorstellen, dass es Leser wirklich abschreckt, wenn da völliger Bullshit steht.

Zit

Zitat von: RomyWobei ich ja doch "verlange", dass ein Autor sich an dem Ort, über den er schreibt auskennt und die Beschreibungen dann nicht so 0815 sind, sondern das man auch merkt, dass er sich auskennt. Aber ich finde, dass macht ganz allgemein einen guten Roman aus und trifft ja auch auf High Fantasy zu. Da sollte ein Autor sich ja auch mit dem Ort, über den er schreibt, vertraut gemacht haben, auch wenn dieser seiner bloßen Fantasie entspringt. ;)

Das ist wohl wahr -- vorteilhaft für Autor ist dann auch, dass der Leser Fantasywelten nicht nachprüfen kann. Wenn ich in Band1 nur die Heilige Kirche der Kroaka erwähne und dann im dritten Band 10 Fußminuten entfernt einen Tempel der Scalaren setze, kann mir keiner was. Jetzt beweise aber mal als Leser, dass der ich schon in Band1 von dem Tempel wusste. ;) Die Menschen lassen sich bei Fantasywelten leichter vorführen und Autoren können Unwissen (bzw. Lücken in der Planung) über ihre eigene Welt auch gut vertuschen.

Auf der anderen Seite kann ich aber auch bei Geschichten, die in der realen Welt spielen, türken. Ich muss nicht durch einen echten Regelwald gestapft sein, um zu wissen, wie sich schwüle Luft anfühlt -- da kann ich auch ins nächste Tropenhaus gehen. Wüstenfeeling lässt sich vll. gut nachvollziehen, wenn man schon mal in ziemlich trockenen und warmen Gegenden war. Da reicht vll. ein Urlaub in Mallorca zur Sommerzeit oder ein Besuch im nächsten Kakteenhaus (besser auch im Sommer). Exotische Tiere kann man in so manchem Zoo bestaunen, sonst muss man eben das Internet durchforsten nach Steckbriefen, Filmen, Hördateien. Wichtig ist dabei immer ein gutes Vorstellungsvermögen und so kann man Illusionen bauen, ohne je an einem Ort gewesen zu sein. Aber natürlich hat jede Illusion ihren Schwachpunkt. Die Frage ist aber nur, wie gut ich den als Autor kaschieren kann.

Aber ich komme ab vom Thema. So, Urban Fantasy in Deutschland verkauft sich nicht gut? Du sagst ja selbst, dass vieles unter Urban Fantasy läuft, was gar nicht Urban ist. Vll. bezieht sich diese Aussage nach dem Verlangen nach exotischen Schauplätzen auch nicht aufs Wurzel-Urban, sondern auf Romantic Fantasy (in urbanem Setting)? RF ist ja letztlich das, was als UF verkauft wird. Und Urban ohne Romantic habe ich in letzter Zeit nicht in den Regalen der Buchläden finden können. Mag vll. auch daran liegen, dass vorallem Vampire romantisiert werden und die restliche Riege der "tatsächlichen" Fabelwesen nachzieht.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Adalia

Zitat von: Felsenkatze am 11. Juni 2011, 08:10:51
Ein Punkt ist nämlich auch: je größer die Stadt desto mehr "Urban Flair". Das ist nämlich auch ein Punkt: nicht alles, was in der Gegenwart spielt, ist - vom Verlag definiert - "urban". Zu "Urban" gehört Großstadt und eine gewisse Düsterheit. In dem Sinne sind Twilight oder Splitterherz - obwohl gegenwärtig - alles andere als Urban Fantasy.

Da hast du recht, und ich merke gerade, dass sich bei mir die Definition als "Urban Fantasy" in den letzten Jahren verändert hat. Vermutlich weil ich bisher vorwiegend Leser bin und man dann ja automatisch die Einteilung der Buchhandlungen / Amazon übernimmt. Und da läuft ja - wie Zitkalasa schon angemerkt hat - gerade fast alles unter Urban, solange es in der heutigen Zeit und in unserer Welt spielt.
Meine Geschichte ist dann eigentlich auch keine Urban Fantasy im engeren Sinne  :hmmm: Aber auch keine Romantic Fantasy. Es kommt zwar eine Liebesgeschichte vor, die aber nicht im Mittelpunkt steht. Aber ich bin mir da mit den Genres sowieso oft total unsicher.

Danke für den Bericht einer Agenten-Meinung. Das war ja auch mein persönlicher Eindruck beim Lesen einiger Bücher, dass ein "zu deutsches" Setting wenig exotisch wirkt und mich selber dann beim Lesen oft auf den Boden der Realität zurückholt (wobei man ja eigentlich das Gegenteil erreichen will).
Habe jetzt geplant meine Stadt doch fiktiv zu wählen, aber an mir bekannte Städte anzulehnen. Ich werde auch versuchen, die Namen eher etwas ausgefallen zu wählen, bzw. Personennamen auszusuchen, die nicht typisch deutsch sind, sondern nach Möglichkeit auch international gebräuchlich sind. Für mich ist das jetzt auch ein ganz guter Mittelweg und damit fühle ich mich gerade recht wohl. Ich hoffe nur dass es dann auch beim Schreiben damit klappt noch mehr die Story, und weniger das Setting in den Mittelpunkt zu rücken  ;)

Es kommt mir irgendwie merkwürdig berechnend vor jetzt beim Schreiben schon an eine Veröffentlichung zu denken (wo ich ja auch noch totaler Anfänger bin und sowieso unwahrscheinlich ist, dass es soweit kommt), aber im Hinterkopf habe ich doch den Gedanken, dass man eine fiktive Stadt dann auch eher noch ändern kann. Also auf Wunsch einer Agentur z.B. noch mit relativ wenigen Anpassungen in die USA verlegen kann.

Zit

Ich denke, das Problem sind weniger die Stadt an sich oder Namen als vielmehr die Charaktere selbst. Es ist egal, wo sie arbeiten und wie sie aussehen -- wenn sie den deutschen Lebensgeist teilen, dann sind sie Deutsche. Und wenn das bei allen Charakteren auftritt, wird ein exotisches Setting lächerlich (sofern diese Deutsche nicht gerade im Urlaub sind).
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getting a headache."
Unbekannt

Felsenkatze

@Zit: Es gibt schon Urban Fantasy, die nicht Romantic ist, nur nicht allzu viel, und man muss suchen. Die Lycidas-Sachen würde ich da einordnen, die Dresden Files, (ohne es gelesen zu haben) Auf des Teufels Maskerade, Neverwhere, (streckenweise) Bartimäus ...

Gerade die romantischeren Settings, die jetzt so in sind, scheinen die Großstadt im Sinne von Urban Fantasy nicht zu brauchen, und sind - denke ich - problemlos auch in Deutschland anzusiedeln. Da steht dann die Schwärmerei für den Love Interest ohnehin mehr im Mittelpunkt als irgendwelche abgefahrenen Umgebungen.

Romy

Also ich glaube, ich bin zu idealistisch, um einfach deshalb ein amerikanisches Setting zu nehmen, damit das bei Agenturen und Verlagen besser ankommt.
Wie gesagt, ich würde bei Urban nur einen Ort/Stadt nehmen, wo ich mich auskenne und in Amerika war ich noch nie selbst und finde Amerika ehrlich gesagt auch nicht so wirklich spannend. Ich frage mich immer, was alle daran finden und warum alle immer unbedingt da hin wollen ... Deshalb fällt das für mich jedenfalls schon raus.
Aber in Deutschland gibt es auch so viele schöne Settings, die man nehmen kann und das wäre m.E. auch mal was WIRKLICH Neues und exotisches in der Fantasywelt. Ich will aber auch keine pure Romantasy schreiben und sie nur deshalb in Deutschland ansiedeln zu dürfen, weil das Setting da unwichtig ist, ginge mir ja dann erst recht gegen den Strich.
Wenn nie jemand meinen Urban-Roman veröffentlichen will, weil er in Deutschland spielt, dann sei es so. Nach Amerika wird der allerdings nicht umgesiedelt. Wär ja noch schöner.  :hmhm?:
Wie gesagt, ich bin da wohl zu idealistisch. ;) Und vielleicht auch zu bockig. ;D Aber bevor ich mich verbiegen lasse, verzichte ich doch lieber auf eine Veröffentlichung.

Franziska

ich  versuche gerade was zu schreiben, was in den USA spielt, es ist im Plot angelegt, aber jetzt habe ich gemerkt, dass es da gar nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe mir übr google earth und street view angeguckt, wo es spielen konnte. Eigentlich sollte es Florida sein, aber ich brauche für die geschichte ein mehrstöckiges Haus und die Leute scheinen da nur in Bungalows zu wohnen. Aber was mich am meisten gewundert hat: Diese Freistehenden Häuser, ohne jeglichen Garten. Kurz: ich weiß alles wie es da ist nur aus Serien. Aber es sieht wohl nicht überall so aus, wie bei Desperate housewives. Von daher ist es wirklich einfacher, etwas hier spielen zu lassen, wo man es kennt.
Die Frage hieß ja eigentlich, wo in Deutschland. Ich glaube auch, dass vor allem Großsstädte interessant sind, weil es ja eben "urban" ist. Aber eine Geschichte, die in einem Ort mit richtig altem Ortskern spielt, und das vermischt mit modernen Elementen fände ich auch interessant, aber vielleicht eher für eine Story, wo es eine parallele Fantasywelt gibt.
Also ich würde sagen, es sind auf jeden Fall Berlin, Hamburg, München und Köln interessant. Urban Fantasy ihm Ruhrpott könnte ich mir auch vorstellen. Wie das allerdings wirklich bei den Lesern ankommt, und wie die Verlage das beurteilen ist noch mal wieder was anderes.

Adalia

Nochmal danke an euch alle für das Feedback. Der Plot ist jetzt fertig und die ersten 60 Seiten habe ich in meinem Urlaub in den letzten beiden Wochen getippt.
Und ich habe mich getraut  ;) Die Geschichte spielt in Heidelberg, mit kleineren Modifikationen, und ohne dass die Stadt dabei plotrelevant im Vordergrund steht. Dennoch mit einem ganz klar deutschen Setting.
Mal sehen, wie das im Gesamten dann wirkt, aber im Moment fühle ich mich dort schon sehr wohl  :) Meine arme Protagonistin wird dann also in Heidelberg erleben, wie ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Und das gleich zweimal  :d'oh:

Ivy

Auch wenn ich leider viel zu spät für sinnvolle Tipps dran bin - ich finde es klasse, dass du dich traust und deine Geschichte in Heidelberg spielt!

Deutsches Setting, warum denn auch nicht? Es muss nicht immer Amerika sein!
Irgendwann wird das auch langweilig und ich kann auch nicht verstehen, warum da immer alle hin möchten...

Und Heidelberg hat so viel zu bieten.
Ich bin schon gespannt und drücke dir ganz fest die Daumen ! 
I support we need diverse books !

Rika

Ui, Urban Fantasy mit deutchem Setting, bravo!


Mal abgesehen davon, daß ich pesönlich das gerade sehr attraktiv finde - über einen Ort zu schreiben, den mensch kennt macht es sehr viel leichter, den Ort sich im Buch dann auch "echt" anfühlen zu lassen. Wenn mensch den Ort nicht kennt, läuft mensch auch immer Gefahr, daß Leser, die ihn kennen sich an den Kopf fassen bie allem, was ihnen als falsch auffällt...
Wie geht's den der Heidelberger Geschichte inzwischen?

Adalia

Zitat von: Rika am 24. August 2011, 15:55:03
Wie geht's den der Heidelberger Geschichte inzwischen?

Oh je, ich habe gehofft, das fragt niemand.  :rofl: Ich hing an einer Stelle und kam nicht so richtig in Fluss.
In diesem Moment drängte sich mir - brutal und aufdringlich - ein zweites Projekt dazwischen, das mich sofort so richtig gepackt hat. Die ursprüngliche Idee liegt jetzt also erst einmal auf Eis.

Aber die gute Nachricht für alle Fans von Heidelberg als Setting: Das zweite Projekt fiel mir wohl nur ein, weil ich schon so mit Heidelberg als Schauplatz geliebäugelt habe. Denn das ist jetzt ein "richtiges" Heidelberg-Buch, bei dem das Setting sehr im Vordergrund steht. Wobei es etwas ganz anderes ist als das, was ich bisher geschrieben habe. Eher humoristisch, und ein Jugendbuch. Mal sehen was draus wird  ;) Ich habe jetzt ca. 30.000 Wörter davon geschrieben und komme gut voran.

Es geht um fiese Feen auf dem Heidelberger Heiligenberg. Und dazu noch ein paar ganz und gar wahnsinnige Baumdryaden.  :rofl:

chaosqueen

Ha, Heidelberg als Setting? Muss ich lesen! :) Ich liebe diese Stadt, könnte selber aber nichts dort ansiedeln, dafür war ich dann doch zu wenig dort. Ein Freund von mir lebt dort und ich bin mehrfach durch die Altstadt getingelt, kenne den einen oder anderen Vorort und natürlich viel Wald drumherum, außerdem dieses geniale Kneipen/Café-dings im alten Güterbahnhof, von wo aus man einen phantastischen Blick über die Ebene mit Mannheim & Co. hat.

Es gibt meiner Meinung nach noch ein ganz einfaches "Problem", warum deutsche Autoren so oft ihre Romane in Amerika ansiedeln: Amerika ist der größte "Lieferant" für Belletristik (und Filme), die bei uns gelesen (und gesehen) wird. Wir sind als deutsche Leser derart daran gewöhnt, dass Romane und Filme in Amerika spielen, dass wir es nicht mehr bewusst wahrnehmen - und uns aiuch keine Sorgen um den Realitätsbezug des Settings machen, da wir in den wenigsten Fällen schon vor Ort waren.
Ist das Setting in Deutschland angesiedelt, merken wir auf: Huch, das ist aber ungewöhnlich! Manche schreckt das schon ab, das ist dann der genannte Wanne-Eickel-Effekt. Mancher liest es dann ganz bewusst und findet möglicherweise jeden kleinen Fehler (so wie ich im Schwarm in der Kiel-Szene - blöd halt, wenn der Leser zufällig an der Ecke wohnt, an der der Autor ungenau recherchiert hat), was ihm das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit nimmt. Umgekehrt hat man als Autor eben das Problem, dass man sich sehr genau überlegen muss, ob man einen realen deutschen Ort nimmt und verdammt gut recherchiert, oder ob man lieber ein Konglomerat aus verschiedenen Orten nimmt (Klanxdonnerbüll ;D), das beim Leser ein "könnte hier um die Ecke sein"-Gefühl weckt, ohne dass er das Bedürfnis spürt, wirklich hinzugehen und nachzuschauen, ob "Evas Eck" nun auch wirklich an der genannten Kreuzung liegt.

Übrigens scheint das ein fast ausschließlich deutsches Problem zu sein: Ich habe noch nie Romane anderssprachiger Autoren gelesen, die ohne ersichtlichen Grund nicht in deren Heimatland spielten. Entweder lebt der Autor inzwischen in einem anderen Land und lässt seine Romane dort spielen, oder die Handlung erforderte eine Umsiedelung.

Ich finde es sehr schade, dass die Deutschen Autoren und Leser sich anscheinend so wenig mit ihrem Land identifizieren. Ich kenne Ecken in Schleswig-Holstein, die bei mir sofort das Bedürfnis wecken "hier will ich eine Geschichte ansiedeln!", und ich habe mir fest vorgenommen, genau das auch zu tun.
Falls ich am NaNo teilnehme, werde ich entweder meinen Jugendroman nehmen, der seit Ewigkeiten in meinem Kopf herumdümpelt und in Kiel spielen soll, oder aber Schleswig-Holstein mit einem Hauch Phantastik überziehen - wobei mein neuestes Lieblings-Setting eher nach Horror schreit (eine alte Festung, deren Ursprungsgebäude aus dem 17. Jh. stammt, heute sind nur noch die Gebäude aus dem späten 19. Jh. übrig, die teilweise leer stehen und teilweise von Bands und Firmen genutzt werden und irgendwie gruselig aber auch total faszinierend sind. Ich war inzwischen viermal drin und habe so ziemlich jeden Winkel besehen, der zugänglich ist und würde die Verwaltung bitten, mich noch mal mit Kamera reinzulassen, um zum Schreiben dann die genauen Verläufe der Gänge und Treppenhäuser sowie die Lage der Räume vor Augen zu haben).

Und ich persönlich greife eher zu einem Buch, das in Deutschland spielt, als zu einem, das von einem Deutschen geschreiben wurde, aber in Amerika angesiedelt wurde.

Sven

Zitat von: chaosqueen am 13. September 2011, 10:22:42
Es gibt meiner Meinung nach noch ein ganz einfaches "Problem", warum deutsche Autoren so oft ihre Romane in Amerika ansiedeln: Amerika ist der größte "Lieferant" für Belletristik (und Filme), die bei uns gelesen (und gesehen) wird. Wir sind als deutsche Leser derart daran gewöhnt, dass Romane und Filme in Amerika spielen, dass wir es nicht mehr bewusst wahrnehmen

Ich denke, es geht sogar darüber hinaus. Würde ich einen Roman in Heidelberg spielen lassen, hätte ich von der Stadt und den Leuten dort überhaupt keinen Schimmer. New York, obwohl ich noch nie dort war, kenne ich viel besser, eben WEIL dort viele Filme und Romane angesiedelt sind. Denke ich an Heidelberg habe ich nur Bilder im Kopf, die meiner Phantasie entspringen. Denke ich an New York sehe ich nicht nur die verschiedenen Gebäude, ich sehe auch die unterschiedlichsten Szenen, von Katastrophen bis , von teureren Wohnungen und Hotdog-Ständen, von gelben Taxis bis zur U-Bahn.
Wie gesagt, ich war in noch keiner der beiden Städten, und doch kenne ich die amerikanische besser, als die deutsche.
Was wohl auch eine Rolle spielt, ist der deutsche Patriotismus. Die Deutschen zieht es immer wieder von hier weg. Wir machen mehr Urlaub im Ausland, als im Inland. Wie soll man da die wirklich coolen Orte kennenlernen? Ebenfalls eine Rolle spielt der Nationalstolz. Man darf nicht auf sein Land stolz sein (man erinnere sich nur mal an die Fahnendebatte, zur Fußball WM hier im Land). Wie sollte man eine Beziehung zu "seinen" Städten aufbauen. Das ändert sich zur Zeit, aber nur langsam.
Darüber hinaus will man ja mit dem Ort ein bestimmtest Gefühl vermitteln. Städte stehen für etwas. Eine Geschichte in New York hat quasi ihre eigene Stimme. Ebenso in London. Zwei Orte, zwei Gefühle. Welches Gefühl vermittelt Heidelberg. Beim Autor? Und vor allem beim Leser?
Ein internationaler Thriller mit Geheimagenten und Explosionen und Spionagegimmiks kommt in Buxtehude nicht gut.
Aber Urban Fantasy kann ich mir in Deutschland sehr gut vorstellen. Es gibt kaum ein Land, das landschaftlich freundlicher und zugleich düsterer wirken kann, als Deutschland.
Beste Grüße,
Sven

Zit

#44
ZitatEin internationaler Thriller mit Geheimagenten und Explosionen und Spionagegimmiks kommt in Buxtehude nicht gut.
Aber Urban Fantasy kann ich mir in Deutschland sehr gut vorstellen. Es gibt kaum ein Land, das landschaftlich freundlicher und zugleich düsterer wirken kann, als Deutschland.

Wg. dem düster: Gestern, nach einer Engebung heraus, entschloss ich mich, mein Dresden doch in die Zukunft zu verlegen. Genre-mäßig wird es wohl in die Nähe von Dark Future gehen, auch wenn sich sicherlich japanische und Comic-Einflüsse nicht verleugnen lassen werden. Multi-Kulti, ganz so wie heute. (Das Urbane kriegt ein bisschen mehr global, sozusagen.) Obs mir gelingt, keine Ahnung.

Was den Thriller angeht: Nebra von Thiemeyer, was ich gerade lese, spielt ja -- zumindest am Anfang -- in Halle und wie es scheint, später auch im Harz (bin irgendwas um Seite 80). Und auf dem Deckel steht eindeutig Thriller. Es geht also auch in Deutschland. Wobei ich ja einräumen muss, dass es ein Wissenschaftsthriller ist und kein Agententhriller. :)
Davon ausgehendend, denke ich, dass in Deutschland, weil wir ja so eine Wissensgesellschaft sind (und gleich vor so vielem Angst haben wie Genmais und weiß der Geier), solche Wiss.-Thr. gerade hier gut anzusiedeln sind, neben Endzeit-Szenarien (aka Postapokalypse). In Deutschland geht es weniger darum, des Deutschen Stolz auf sein Land darzustellen und wie stark wir doch sind, dass wir allem Bösen trotzen (ich sag ma: Captain America) und Deutschland dabei furchtbar zu überhöhen -- sondern des Deutschen Ängste zu beliefern und sie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. In Deutschland funktioniert gut das Was-Wäre-Wenn-Spielchen, nicht das Hau-den-Bösen. :)
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt