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Gestaltdialog

Begonnen von Alaun, 02. Juni 2009, 09:47:49

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Alaun

Hallo,

kennt ihr das Prinzip des Gestaltdialogs? Man verwendet es z.B. in Coachingprozessen oder in der Psychotherapie. Für mich hat sich das Prinzip allerdings auch als sehr sinnvoll erwiesen, wenn ich nicht genau wusste, was meine Figuren machen wollen /sollen. Oder, wenn die Figur selbst es gar nicht wissen kann.

Ein Beispiel: Meine Protagonistin wird irgendwann von bestimmten Techniken der Heilkunst und Magie "erwählt". Sie wählt also nicht selbst, womit sie arbeiten möchte, sondern Magie und Heilkunst wählen sie.

Normalerweise hätte ich mir im Sinne eines Gestaltdialoges vorgestellt, dass meine Protagonistin mir gegenübersitzt und mich mit ihr unterhalten. Im Laufe eines solchen Gesprächs kommen dann oft neue Einsichten ans Licht, die Figuren erzählen einem, was sie machen möchten oder für sinnvoll halten. (Klingt freaky? Ausprobieren, es funktioniert :jau:)

Im Fall meiner Protagonistin habe ich einfach noch zwei weitere Stühle in die Runde gestellt und Heilkunst und Magie draufgesetzt. Die beiden haben sich dann am Gespräch beteiligt. Es war also weit mehr als ein Dialog, genau genommen.  ;D
Auf diese Weise konnte ich auskaspern, was der magische Anteil möchte und was der Anteil der Heilkunde möchte. Daraus ergaben sich dann verschiedene Möglichkeiten für meine Figur - die dann übrigens auch noch ein paar Wörtchen mitzureden hatte...

Habt ihr schon mal mir diesem Prinzip gearbeitet? Oder verwendet ihr ähnliche Techniken, wie z.B. ein schriftliches Interview mit eurer Figur führen? Mich würde einfach interessieren, was bei euch so funktioniert, wenn ihr nicht sicher seid, was eure Figuren wollen.

Ich bin schon pfitzgespannt auf die Antworten!
Liebe Grüße und einen schönen, sonnigen Tag,
*Alaun

Joscha

Bei wichtigeren Figuren, denen ich mehr Tiefgang verleihen möchte, mache ich meistens so eine Art Psycho-Test. Ich habe dann verschiedene vorgefertigte Szenarien (meistens Dialoge über ein bestimmtes Thema, z.B. wie sie sich selbst charakterisieren würden und Sachen in der Art), in die ich dann die verschiedenen Figuren nacheinander hineinsetze und schaue, wie sie reagieren. Nicht-personale Gesprächsteilnehmer habe ich jedoch noch nie gehabt.  :)

Grüße
Joscha

Jara

#2
Ich benutze diese Taktik auch ganz gerne.

Meist lade ich meine Protas und Antas und eventuell wichtige Nebenfiguren zum Kaffeetrinken ein.
Schon alleine ob sie lieber Kaffee oder Tee trinken interessiert mich brennend.
Häufig sind das aber Einzeltherapien. Das heißt einer nach dem anderen.
(Wenn sie denn wollen. Ich hatte auch schon Protas, die waren so geheimnisvoll, dass sie nicht mal mit mir darüber sprechen wollten.)

Zugegeben im Dialog und in Absprache untereinander können sich Figuren auch ganz gut charakterisieren.
Allerdings passieren dabei manchmal seltsame Dinge, wie dass mein Prota und mein Anta mir mitteilen, dass sie viel lieber ein Paar wären als gegeneinander zu kämpfen und dann Händchen haltend aus der Tür schlendern :gähn:.
:no:

Also bleiben sie entweder alleine oder ich stecke sie mit den Leuten "ihrer Seite" zusammen. Da erlebe ich die weniger bösen Überraschungen.

Wie Joscha habe ich auch noch nie Metaphysisches wie Magie zu mir eingeladen. Da wüsste ich ja gar nicht, wie ich eine Unterhaltung anfangen soll ;D

Waffelkuchen

#3
Wenn ich mir unsicher bin, wie sich ein Charakter in einer Szene verhält (Was meiner Meinung nach immer ein Zeichen dafür ist, dass ich mich noch nicht gut genug mit ihm beschäftigt habe. Schande über mich.  :-\ ), versuche ich oft, die Szene aus seiner Ich-Perspektive zu schreiben. Das klappt meistens recht gut.   
Das schriftliche Interview benutze ich für solche Fälle auch hin und wieder. Meistens läuft es aber auf gedankliche Zwiegespräche hinaus. So à la:
- "Jetzt rück schon raus mit der Sprache! So schwer ist es doch nicht: Entweder, du knallst ihm jetzt eine, oder du brichst in Tränen aus, oder du rennst aus der Kneipe. Vielleicht machst du auch alles drei. Starr mich doch nicht an, als wär ich ein Schaf! ... Wie, du willst einfach lauthals lachen und dann in Ruhe deinen Braten essen?!"

Die Idee, in so ein Interview auch auch nicht-personale Gesprächsteilnehmer einzubinden, finde ich genial. Sollte ich so einen Fall mal haben, muss ich das unbedingt ausprobieren.  ;D
Joscha, als du das Wort "Szenerien" erwähnt hast, hatte ich eine Idee. Es wäre sicher mal interessant, seinen Charakter in bestimmte Szenen zu werfen und zu schauen, wie er reagiert- völlig unabhängig davon, ob so eine Szene in der Geschichte überhaupt vorkommt. So was wie: Was tut er, wenn das Haus des Nachbarn in Flammen steht? Was tut er, wenn er an einer Konferenz teilnimmt, die gerade dem Nachbarland den Krieg erklären will? Wenn man ihm die Augen verbindet, quer durch den Wald fährt und ihn dann aussetzt, findet er zurück?
Man könnte ihn davor ja mal fragen, wie er reagiert, ihn dann reinversetzen und dann schauen, wie es so mit seiner Selbsteinschätzung aussieht... :hmmm:             

Edit:
@Jara: Unvorhergesehene Dinge... Das erinnert mich jetzt daran, dass meine Co-Autorin mir von Anfang an gesagt hat: "Dieser Typ ist homosexuell." Meine Antwort: "Nein, ist er nicht." Das ging dann drei Jahre lang so, bis er mir eines Tages in einem gedanklichen Interview erklärt hat, dass er sich deswegen so ätzend verhält, weil er in den Hauptprota verschossen ist...  :gähn:
Das vor meiner Co zuzugeben, hat mich ein ziemliches Stück Stolz gekostet.  ;D
Ich heb mein Glas und salutier dir, Universum / Dir ist ganz egal, ob und wer ich bin
Du bist ungerecht und deshalb voller Hoffnung / Ich setze alles, warte auf den Wind
Fremde - Max Herre, Sophie Hunger

Shay

ZitatJoscha, als du das Wort "Szenerien" erwähnt hast, hatte ich eine Idee. Es wäre sicher mal interessant, seinen Charakter in bestimmte Szenen zu werfen und zu schauen, wie er reagiert- völlig unabhängig davon, ob so eine Szene in der Geschichte überhaupt vorkommt.
Das ist eher meine Strategie, wobei ich das eigentlich nicht absichtlich mache. Reine Interviews führe ich mit meinen Charas nie, aber ich habe den Grundsatz, daß keine Idee zu blöd ist, als daß man sie nicht mal ausspinnen könnte. Ich unterscheide da zwischen kanonischen Ideen, die dann für alle Zeiten festgeschrieben sind, und unkanonischen, die einfach nur Rumspielerei sind. Da kommt es dann schon mal vor, daß ein Mittelalter-Fantasy-chara zu Wet T#Shirt-Contest muß oder so. Ich hab da selten diesen Aha-Effekt "So, jetzt hab ich was gelernt", aber man lernt seine Figuren unbewußt sehr gut dabei kennen und wenn man es dann braucht, dann ist das Wissen einfach da.

maggi

Ich hab so etwas in der Art schon häufiger probiert, aber irgendwie klappt es bei mir nie so richtig. Könnte daran liegen, dass mir das Figuren erschaffen von allen Aspekten am leichtesten fällt. Am Ende sitze ich dann immer da, schau mir an, was ich geschrieben habe und denke "na toll, das wusste ich alles schon vorher".

Schreiberling

Zitat von: maggi am 03. Juni 2009, 16:31:30
Am Ende sitze ich dann immer da, schau mir an, was ich geschrieben habe und denke "na toll, das wusste ich alles schon vorher".

Da geht es mir oft ganz anders. :) Ich lerne bei vielen Szenen immer neue Sachen über meinen Char und denke mir dann, dass das total offensichtlich war, ich nur noch nie darauf gekommen bin.

Alana

#7
Die Methode kannte ich nicht, aber ich könnte mir das sehr gut vorstellen.
Ich lasse gern meine Charaktere selbst entscheiden.
Ich glaub, ich werde das mal testen, vielleicht komme ich dann endlich mit meinem Plot weiter.

@Josha: Was sind das dann so für Fragen?
Alhambrana

Joscha

Ach, alles mögliche. Am wichtigsten natürlich, wie sie sich selbst charakterisieren und sehen würde.  Eigentlich geht es gar nicht so sehr darum, was ich frage, sondern wie sie darauf reagieren bzw. wie sie auf mich reagieren. Wenn jemand beispielsweise schon bei der Frage »Wie heißt du?« mich anschnauzt, was mich das denn angehe, weiß ich schon mal etwas mehr. Aus weiteren Fragen ihrerseits schließt sich dann auch die Neugier/Gleichgültigkeit und wenn jemand empfindlich reagiert, wenn man ihn nach seinem Liebesleben fragt, weiß man auch dass derjenige nicht ganz so offen ist. Kurz gesagt stelle ich Fragen und ziehe aus den Reaktionen Rückschlüsse auf den Charakter, nicht unbedingt aus den Antworten.

Romy

Eigentlich mache ich selten richtige Interviews, die ich dann auch aufschreibe. Im Kopf führe ich natürlich häufiger mal Zwiegespräche mit den Protas, oder stelle sie mir in unterschiedlichen Situationen - auch Alltagssituationen - vor.
Richtige Interviews mache ich eigentlich nur, wenn ich das Gefühl habe, ich kenne den/die Prota noch nicht genug. Wobei, die meisten sachlichen Infos, die er mir erzählen könnte, kenne ich eigentlich an der Stelle schon, wobei weitere Details natürlich immer interessant sind. Aber es geht mir da eher wie Joscha, dass mich in erster Linie die Reaktion des Protas interessiert. Auf welche Frage gibt er gern Auskunft, auf welche weniger gern? Muss man ihm alles aus der Nase ziehen, oder ist er sehr mitteilsam? Wie spricht er? Höflich oder grob? Nutzt er eher Umgangssprache oder artikuliert er sich gewählter?

Der Letzte, den ich Anfang des Jahres interviewt hab, war so ein offener, lieber Kerl, der mir alle Fragen ausführlichst beantwortet hat. Er ist aber auch sehr kommunikativ und charmant und kommt meistens prima mit Menschen aus und hat seiner Autorin gerne weiter geholfen. Man kann sehr gut mit ihm arbeiten und es war eine Freude, sich mit ihm zu unterhalten.  :D
Der Nächste, den ich wohl mal befragen müsste, wird eher verschlossen und brummelig reagieren, das wird eher ein Krampf, das weiß ich jetzt schon.  :-\ Aber obwohl ich schon so lange mit ihm arbeite und seinen Lebenslauf und alles andere Relevante eigentlich weiß, habe ich immer noch das Gefühl, sein Innenleben nicht gut genug zu kennen, deshalb wäre ein Interview eigentlich mal nötig ...