Wenn man mich fragt, welche Regeln man beim Schreiben beachten soll, ist meine Antwort einfach: Rechtschreibung und Grammatik. Die sind vorgeschrieben, in Stein gemeißelt und unumstößlich. Alles andere, egal was die Schreibratgeber sagen, sind bestenfalls freundliche Hinweise. Sie können für einige der Gral der Wahl sein, für andere nicht. Nicht jede Technik funktioniert für jeden. Und doch gibt es einen Satz, den höre ich von Autoren gebetsmühlenartig wiederholt: Show, don't tell. Zeigen, nicht erzählen. Rauf und runter, als ob man als Autor ins Gefängnis käme, wenn man es anders macht. Die Frage ist nur, warum?
"Show, don't tell" fordert einen Autor auf, dem Leser die Handlung des Buches wie einen Film abzuspielen, zum zurücklehnen und zuschauen. Und ebenso neu wie das Medium Film, im Vergleich zum Medium Buch, ist dieser Slogan auch. Schaut man sich die großen Romane des 19. Jahrhunderts an, Dickens, Dostojewskij, Hugo, Scott, Dumas, hat man es mit Erzählern zu tun. Großen Erzählern. Und obwoho sich heute unsere Lesegrwohnheiten verändert haben, im gleichen Maße, wie sich unsere Sehgewohneheiten verändert haben, sind diese Romane immer noch großartig. Sie werden nicht jedem gefallen, und sie können manchmal schwere Brocken darstellen, aber ihre Qualität ist unumstößlich, obwohl ihre Autoren von "Show, don't tell" noch nie etwas gehört hatten und diese Regel auch nicht einmal instinktiv beherzigt haben. Sie haben erzählt. Und das gut.
Ich will damit nicht sagen, dass mit "Show, don't tell" nicht auch großartige Romane rauskommen können. Erst neulich habe ich im Thread zum Thema "Noir Literatur" beschrieben, wie "The Maltese Falcon" einen Meilenstein der Literatur darstellt, weil er genau dieses "Show, don't tell" erfunden und zugleich zur Perfektion gebracht hat. Was mich stört an der Sache ist, dass zu viele Autoren denken, sie dürften keine Erzähler mehr sein, sie wären gezwungen, die Lektüre zum Kopfkino zu machen. Die Wahrheit ist, niemand wird zu irgendwas gezwungen, und Lesen ist kein Kinoersatz, sondern eine ganz eigene Erlebnisform.
Ich bin eine Erzählerin. Ich drehe meinem Leser keinem Film, ich male ihm mehr Bilder mit meiner Sprache, die direkt wie Sinneeindrücke wirken - zumindest ist das die Absicht. Ich zupfe an den Saiten der großen Gefühle. Und der Kleinen. Ich gebe Schönheit und Wortgewalt und Sätze, die man erst einmal entwirren muss, um sie zu verstehe, ich lasse meine Leser hin und her blättern, um eine Szene in Gänze zu erfassen. Die Bilder sind nicht statisch - es ist nicht so, dass in den Geschichten eines Erzählers sich nichts bewegt; hätte ich nur stille Bilder malen wollen, wäre ich Maler geworden und kein Erzähler. Aber im Vergleich zum klassischen Show-Stil sind bei mir die Eindrücke oft abstrakter, ich kann mich lange an einem einzelnen Geräusch festhalten, einem Schatten, dem Kräuseln einer Lippe.
Ich beschreibe nur wenige Dinge so klar, wie man sie in einem Film sehen würde. Frisuren, Gesichter, Kleidung - meine Figuren haben das alles, aber wo es nicht elementar wichtig ist, halte ich mich nicht lange dran auf. Ich verfasse auch keine endlosen Landschaftsbeschreibungen. Anders als im 19. Jahrhundert schreibe ich für Leser, die alle erdenklichen Ort schon gesehen haben, sei es in echt, auf Fotos und Filmen, oder in der Computernanimation. Ich muss das Rad nicht neu erfinden. Wie die Dinge aussehen, können sich meine Leser auch denken. Was ich ihnen gebe, ist die Wirkung. Ich halte mich nicht lange mit der Burg selbst auf, weil meine Leser schon einmal Burgen gesehen haben, aber ich gebe ihnen das Gefühl, ganz klein zu sein in ihrem Schatten, ohne die Burg nur einmal zeigen zu müssen.
Ich denke nicht, so selbstverliebt ich auch sein mag, dass ich mich in einer Reihe mit Fontante und Dostojewskij stellen darf, aber sie sind ganz klar meine Vorbilder, und ich sehe nichts verwerfliches darin, ihnen nachzueifern. Sicher, das ist unmodern und altmodisch, und wenn es jeder so machen würde, wäre es vielleicht anstreng. Aber ich mag es, ich lese so etwas gerne und ich schreibe so etwas gerne. Ich mag nicht krampfhaft zeigen statt erzählen, wo ich viel lieber erzählen würde. Wenn ich was zu zeigen habe, zeige ich das. Ich habe auch Handlung, meine Bücher sind nicht nur eine psychedelische Diashow, und ich muss meine Leser nicht unter Drogen setzen, damit sie meine Geschichten verstehen können. Ich weiß, dass nicht jeder etwas damit anfangen kann, und das ist okay. Ich mag Individualität, auch - oder gerade - in der Literatur. Und ich mag es, wenn Autoren auch mal was wagen und sich nicht an Konventionen aufhängen, sei es in Sachen Genre, sei es in Sachen Technik.
Alles ist erlaubt, wenn man es gut macht. Allüberall liest man, Sätze müssen kurz und prägnant sein, um zu wirken. Ich tue das Gegenteil und liefere meine Bücher mit einem sprachlichen Kompass aus für diejenigen, die sich in den Bandwurmsätzen verirren. Und für "Show, don't tell" gilt das gleiche: Man kann. Man darf. Man muss nicht. Schreibt, was ihr wollt und wie ihr es wollt, so, dass ihr daran Spaß habt und es euch gefällt. Wenn ihr eure Bücher verkaufen wollt, eine Agentur finden oder einen Verlag: Man verkauft das am besten, das man selbst am meisten liebt. Halbherzig und unter Zwang geschriebenes "Ich darf nicht erzählen, ich muss zeigen, aaarghhh!" wird den Leser nicht mitreißen und den Lektor nicht vom Hocker. Entgegen allem, was die Schreibratgeber schreiben, gibt es nämlich für Erzähltes heute immer noch einen Markt.
Ich kann das so sicher sagen, weil ich genau dieses Feedback von meinem Lektor bekommen habe. Er hat mich als genau das eingekauft, was ich bin: als Erzählerin, weil er genau nach so etwas sucht, Autoren mit starken Erzählstimmen. Beim "Show, don't tell" wird die Aktion in den Mittelpunkt gestellt, die Erzählstimme bleibt dahinter zurück, und schlimmstenfalls wirken die Bücher wie Einheitsbrei in dem Sinne, dass sie von jedem stammen könnten. Aber es ist keine Frage von Richtig und Falsch. Es sind die beiden wesentlichen Elemente, die eine Handlung ausmachen: Aktio und Re-Aktio. Der Zeiger konzentriert sich mehr auf der eine, der Erzähler mehr auf das andere. Beide haben recht, und beide haben eine Daseinsberechtigung.
Wenn euch nach Erzählen ist, dann erzählt. Ihr seid nicht für die Schreibratgeber da, und ihr müsst ihnen nicht sklavisch gehorchen. Schreibt, wie ihr wollt. Hauptsache, ihr macht das so gut, wie ihr irgendwie könnt, und seht zu, dass ihr immer und immer weiter besser werdet.