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Figuren mit Persönlichkeit statt langweilig oder platt

Begonnen von Cailyn, 24. Februar 2016, 09:43:06

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Cailyn

#30
Hallo Schneerabe

Vielen Dank für deine Antwort.

Das Beispiel mit dem BadBoy, der plötzlich gewandelt ist, liess mich etwas schmunzeln. Ja, das wäre dann wirklich schlecht geschrieben. Diese Wandlung gibt es natürlich schon, aber das muss von langer Hand aufgebaut werden. Plausibler finde ich da schon eher, dass so eine Figur sich mal in einer bestimmten Hinsicht verändert. Bei Romantasy könnte das aufgrund einer Frau sein, mit der er dann seine liebenswürdige Seite aufleben lässt, jedoch in anderen Belangen wäre er immer noch der coole Stinkstiefel. So etwas würde ich akzeptieren. Aber vom Baddy zum Goodie... nein, das kauft man dem dann nicht ab.

Hier übrigens noch meine Lieblingsfiguren aus der Buchwelt:
- Harry Hole aus den Jo Nesbö-Krimis (weil er ein komplizierter Antiheld ist, der sich wirklich nur sehr langsam verändert und auch immer wieder mal einen Schritt rückwärts macht)
- Arya Stark aus GOT, weil bei ihr das kindliche mit diesem widersprüchlich Erwachsenen, Abgebrühten so wunderbar beschrieben ist.
- Jamie Fraser aus Outlander, und das obwohl er total klischiert ist, aber ich kann mich an ihm nicht genügend ergötzen - Frauentraum schlechthin.
- Galowglass aus der Romantrilogie von Deborah Harkness. So einen möchte ich gerne als besten Kumpel haben. Er ist ein gutherziger Grobian, freiheitsliebend, rebellisch und gleichzeitig ein unglaublich loyaler Freund gegenüber jenen, die er mag.
- Eddy, Protagonistin aus Anida von Susanne Gerdom, welche mit ihren ironischen Gedankengängen meine Leseabende erheiterte
- Karl Schmidt aus Magical Mystery von Sven Regener, weil er als der kämpferischste Antiheld ist, von dem ich je gelesen habe
- Uthred aus der Saga von Bernard Cornwell. Er ist auf Rache aus und überzeugt mich, dass es so sein muss. Das gelang bislang noch keiner Figur.

Vic

Ich mag Figuren, die "aktiv" sind und deren Handlungen ich nachvollziehen kann (auch wenn sie ganz dämliche oder schreckliche Dinge tun). Am schlimmsten sind für mich "passive" Figuren die ewig lange leidend in der Ecke liegen und sich von der Handlung hin und herschubsen lassen.
Auch nichts anfangen kann ich mit Einzelgängern, die immer nur für sich bleiben wollen.
Ich mag Charaktere, die intelligent sind (wobei es ja durchaus verschiedene Arten von Intelligenz gibt ;), die sich zu helfen wissen, die sehr leidenschaftlich für oder gegen etwas sind und die versuchen sich mit anderen zu arrangieren.

Cailyn

Interessant, wer wen warum bevorzugt.
Bei mir zum Beispiel ist Intelligenz überhaupt nicht wichtig, damit eine Figur spannend ist. Aber du schreibst ja, dass du Intelligenz als variabel ansiehst und es in deinem Sinne auch mehr mit Engagement zu tun hat.
Ja, passive Charakteren sind schwierig zu mögen. Ich mag mich jetzt auch nicht erinnern, jemals eine passive Figur gemocht zu haben.

canis lupus niger

Auch ein Simpel kann ein Charakter sein, an dessen Erlebnissen man regen Anteil nimmt. Nur müssen dann die Ereignisse eben anspruchsvoll und interessant gestaltet sein. Über eine langweilige und platte Persönlichkeit, auch noch mit langweiligen Erlebnissen will garantiert keiner lesen!

Cailyn

Das wäre dann auch interessant zu sehen, wie ein Simpel z.B. auf eine Extremsituation reagiert. Vielleicht würde dann aus dem Simpel ein "Unsimpel"  ;)

canis lupus niger

#35
Zitat von: Cailyn am 10. März 2016, 09:01:58
Das wäre dann auch interessant zu sehen, wie ein Simpel z.B. auf eine Extremsituation reagiert. Vielleicht würde dann aus dem Simpel ein "Unsimpel"  ;)

Wie Bauernjunge Miched in meinem Drachenroman ...  ;D Ist nicht der Schlaueste, spielt auch nur eine Nebenrolle, obwohl er einer der wechselnden Perspektivträger ist, wird übel gemobbt, macht einmal einen tragischen Fehler (unter dem jemand anderes schwer zu leiden hast), macht ein andermal etwas sehr Gutes, von dem aber niemand jemals erfahren wird, und übt am Ende eine enscheidende Schlüsselfunktion aus. Ich fand es cool, dass ein Betaleser zwischendrin mal schrieb, er würde den Charakter nicht mögen, weil der so erbärmlich wäre. Genau so sollte es sein.

Cailyn

Armer Miched. Aber der Leser erfährt schon, dass er auch was Gutes tut?
Ja, manchmal braucht es solche ärmlichen Armleuchter. Die gibt es ja im Leben auch. In einer Nebenrolle ist das sowieso total ok. Wenn es ein Prota wäre, hätte ich aber auch Mühe mit ihm.

Siara

Viele behaupten ja, ein Charakter müsse konsistent sein und dürfe sich in seinem Denken oder Handeln nicht selbst widersprechen. Allerdings machen gerade Widersprüche für mich einen Charakter vielschichtig - solange sie überlegt gesetzt sind. Sicherlich hat jeder Mensch gewisse Prinzipien, reagiert in gewissen Situationen auf eine charakteristische Weise oder hat Angewohnheiten, Unsicherheiten und Vorlieben, die ihn prägen. Aber niemand handelt immer nach Plan, immer so wie erwartet. Der ruhige und schüchterne Kellner im Café kann an einem Tag plötzlich gesprächig und gut gelaunt sein, nur um am nächsten wieder schweigend die Tische zu wischen. Die unternehmungslustige Mitbewohnerin kann sich an einem Tag in ihr Zimmer zurückziehen und einfach die Zeit allein genießen. Die eingebildete Ziege in der Schule kann, als die Neue ausgegrenzt wird, sich ihrer annehmen und mitfühlend sein. Natürlich muss es für diesen Ausbruch aus dem Gewohnten immer einen Grund geben, eine bestimmte gemachte Erfahrung oder etwas, das unmittelbar vorher passiert ist und Einfluss auf die Stimmung genommen hat. Trotzdem: Wenn jemand "vielschichtig" ist, bedeutet das eben, dass gewisse Schichten die meiste Zeit über verborgen sind. Um das deutlich zu machen, muss man sich hin und wieder in den Vordergrund treten lassen.

Eine andere Sache ist für mich das Weglassen von Erklärungen, die ebenfalls zur Lebendigkeit eines Charakters beitragen können. Bei Perspektivträgern gilt das nicht, schließlich sehen wir die Welt durch ihre Augen und wollen wissen, warum sie wann wie denken und fühlen. Aber bei Nebencharakteren will ich gar nicht unbedingt wortwörtlich vorgekaut bekommen, warum er eine Entscheidung trifft oder eine Verhaltensweise an den Tag legt. Ich benutze gerne das Bild eines Eisberges, dessen mehrere Spitzen aus dem Wasser ragen. Man sieht zwar nur die Spitzen, kann aber mit ihrer Hilfe erahnen, wie die Form des großen Ganzen darunter aussieht. Wenn man im realen Leben Menschen begegnet, hat man ein solches verborgenes Ganzes vor sich, das man sicherlich nie vollkommen durchschauen kann. Aber während man sie kennen lernt, tauchen immer mehr Spitzen des Eisberges auf. Man entwickelt ein Gefühl für ihr Wesen.
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

Cailyn

Finde ich auch, Siara. Menschen sind so komplex, dass sie nicht immer genau so oder so sind. Nur denke ich, dass man beim Schreiben es doch so darstellen sollte, dass der Leser weiss, dass es Absicht war und nicht eine Unstimmigkeit. Wenn eine schüchterne Figur plötzlich aufbraust, würde ich es so formulieren, dass der Leser es als Absicht erkennt. z.B. würde ich schreiben: "Der sonst so schüchterne Junge, stampfte auf und ..." Erklären muss man es bei einer Hauptfigur nicht, aber die bewusste Absicht müsste erkennbar sein.

HauntingWitch

Zitat von: Siara am 11. März 2016, 15:24:19
Ich benutze gerne das Bild eines Eisberges, dessen mehrere Spitzen aus dem Wasser ragen. Man sieht zwar nur die Spitzen, kann aber mit ihrer Hilfe erahnen, wie die Form des großen Ganzen darunter aussieht. Wenn man im realen Leben Menschen begegnet, hat man ein solches verborgenes Ganzes vor sich, das man sicherlich nie vollkommen durchschauen kann. Aber während man sie kennen lernt, tauchen immer mehr Spitzen des Eisberges auf. Man entwickelt ein Gefühl für ihr Wesen.

Dieses Bild wird übrigens auch im Geschäftsleben beim Thema Kommunikation gerne verwendet. Da geht es aber meistens eher darum, dass eine bestimmte Verhaltensweise bzw. Antwort des Gegenübers nur den oberen Teil des Eisberges darstellt, also das über dem Wasser. Nur, unter dem Wasser ist der Eisberg um ein Vielfaches grösser. Das stellt in diesem Bereich all die Dinge da, die eine Person zwar beeinflussen, die sie aber nach aussen nicht zeigt.
Wir hatten da mal ein schönes Beispiel in einem Kurs. Der Bauleiter hat einen Handwerker zusammengestaucht, weil dieser die Arbeit nicht richtig gemacht hatte. Daraufhin ist dieser ebenfalls ausgerastet (oberer Teil des Eisbergs). Der Handwerker indessen, war nicht ganz bei der Sache, weil er zuvor einen Streit mit seiner Frau hatte, weil seine Firma finanzielle Probleme hatte (unterer Teil des Eisbergs). Der Bauleiter quälte sich schon seit zwei Jahren mit dieser unmöglichen Baustelle, bei der einfach alles schief ging und jeder Fehler einen riesigen Rattenschwanz nachzuziehen schien (unterer Teil des Eisbergs).
Ich fand das total spannend, weil man das direkt auf Romanfiguren übertragen kann. Wenn man so etwas in einem Roman schreibt, erlebt der Leser vielleicht den Dialog zwischen den beiden und erfährt ein bisschen etwas über ihre Gefühle oder ihren Charakter. Aber die ganzen Probleme unter diesem Streit, die unmittelbar mit den Charakteren selbst zu tun haben, muss man gar nicht erklären, jedenfalls nicht in dieser Szene.

Das mit den Widersprüchen halte ich für einen Trugschluss. Menschen sind doch widersprüchlich! Man kann glauben, jemanden zu kennen und eines Tages tut er etwas, das einen völlig verwirrt und ratlos zurücklässt. So etwas häufiger vor, als man denkt.

Trippelschritt

Selbstverständlich kann man einen widersprüchlichen Menschen darstellen und sogar zum Protagonisten machen, wenn diese Widersprüchlichkeit eine bestimmte Funktion innerhalb des Plots hat. Wenn sie willkürlich ist, wird sie beliebig und Beliebigkeit ist das Tod jeder Geschichte. Dass es jede Menge widersprüchliche Menschen in der Welt gibt, stimmt zwar, aber heißt das wirklich, dass wir es deshalb auch in unseren Geschichten so halten sollten? Da fallen mir die Dialoge ein. In wirklichkeit sprechen die Menschen nicht so, wie Schriftsteller ihre Dialoge schreiben. Gut so, denn nichts ist langweiliger als Leuten beim Reden zuzuhören.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Siara

#41
@Trippelschritt: Es stimmt natürlich, dass Realismus nicht ausreicht, um einer Begebenheit im Roman Daseinsberechtigung zu verschaffen. Andernfalls würden wohl vorwiegend ziemlich langweilige Bücher entstehen. Aber in diesem Thread ging es ja darum, was Figuren vielschichtig, lebendig und interessant macht. Eine Figur ohne Widersprüche stelle ich mir leicht durchschaubar vor, und dadurch auch nicht sonderlich aufregend. Vor allem passiert es leicht, dass solche Figuren in Klischees abrutschen. Der edle Ritter. Die Rebellin. Der strenge Vater. Die ruppige Köchin. Solche Stereotypen werden für mich erst durch Ecken und Kanten zu tiefgründigen Charakteren, und zu diesen Ecken und Kanten gehören auch Widersprüche - in ihrem Wesen und/oder in ihrem Verhalten. Das ist für mich Daseinsberechtigung genug. Für den Plot muss es in meinen Augen gar nicht unbedingt Relevanz haben.
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Culham

Widersprüchlichkeiten in der Figur sind wichtig. Und ich sehe es auch so, dass es tödlich ist, diese alle haarklein zu analysieren (wozu ich manchmal neige). Der Leser ist nicht dumm und möchte manchmal auch ein kleines Geheimnis haben. Meines Erachtens ist aber trotzdem  manchmal wichtig zumindest in einen Nebensatz anzudeuten, dass anderen dieser Widerspruch auffällt, sie sich wundern oder so. Damit nicht der Eindruck entsteht der Schriftsteller habe keine Ahnung was er tut... (Zumindest so lange bis der Leser dem Schriftsteller vertraut).

Zum Thema passive Figuren. Man hört immer, dass Figuren aktiv sein müssen. Dem stimme ich grundsätzlich zu. Trotzdem ist eine meine Hauptfiguren zaudernd, ängstlich und selbstunsicher, grübelnd und an sich selbst verzweifelnd. Es wird sich im Verlauf bessern, aber nie ganz verschwinden (was unrealistisch wäre). Damit das funktioniert muss die Handlung und die Nebenfiguren interessant sein... Ist ein Versuch. Ich fand dass auch solche Figuren mal vom Schicksal als Hauptakteur ausgesucht werden sollten. Ich hoffe sehr dass es funktioniert.

FeeamPC

Platte Charaktere sind meist einfach nur Charaktere, über die wir zu wenig wissen. Andererseits ist der Reiz auch weg, wenn der Leser von vorneherein alles über den Charakter auf dem Silbertablett präsentiert kriegt.
Es mus genügend im Dunkeln bleibven, damit auch im letzten Kapitel, in dem der Charakter noch auftaucht, eine Überraschung möglich ist für den Leser. Nicht unbedingt etwas völlig Neues (der Held entpuppt sich als Bösewicht), sondern zum Beispiel eine Eigenschaft, die der Charakter anfangs hatte, nachvollziehbar verlor im Verlauf der Geschichte (er hat ursprünglich an das Gute im Menschen geglaubt, ist aber durch seine Erlebnisse davon abgekomme) und die dann plötzlich wieder aufflackert (überraschend handelt er noch einmal nach diesem schon verloren geglaubten Ideal), und der Geschichte damit eine neue Wendung gibt.

Damit hat nicht nur der Leser eine logisch nachvollziehbare Überraschung, sondern oft auch der Autor und damit der Charakter selbst.

Trippelschritt

@ Siara
Vielleicht habe ich mich zu knapp ausgedrückt. Aber mir ging es darum, dass Widersprüchlichkeit nicht automatisch zu dreidimensioneln, interessanten Figuren führt. Und dass Widersprüchlichkeit kein Schriftstellerischer Wert an sich ist, nur weil Menschen in der realen Welt auch immer widersprüchlich ist.  Es gibt außer Widersprüchlichkeit noch unzählige andere Wege zu großartigen Figuren und wenn ich auf Widersprüchlichkeit setze als meine von mir gewählte Möglichkeit, dann kommt es meines Erachtens ganz enrscheidend darauf an, wie ich diese Möglichkeit umsetze. Und wenn Widersprüchlichkeit für meinen Prota wähle, dann sollte ich sie nicht mehr für andere Figuren wählen, weil ich dann die von mir geplante Wirkung abschwäche.
Wenn ich mich richtig erinnere - ich schaue gleich noch einmal nach - entstand die Diskussion aus einem Widerspruch, dass Figuren in sich konsistent oder kohärent sein sollen. Und diesen Widerspruch sehe ich leider überhaupt nicht. Aber vielleicht gab es da Schwierigkeiten mit den Begriffen. Es ist nicht ganz einfach, da präzise zu bleiben, so dass mich das nicht wundern würde.

Kurzum: Wiedersprüchlichkeit in einer Figur ist ein interessanter Ansatz, wenn man weiß, damit umzugehen. In keinem Fall gelingt es mir einfach dadurch, dass ich eine Figur so anlege, dass sie voller Widersprüche ist, interessante Figuren zu produzieren. Diese kleine Warnung wollte ich formliert haben.

Liebe Grüße
Trippelschritt