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Wie Bücher zu Klassikern werden. Oder: Von zeitgemäßer Moral

Begonnen von Luna, 24. April 2013, 15:28:23

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Luna

[GREY]
Damit das Thema im Kaffeeklatsch nicht so untergeht, habe ich es abgetrennt und verschoben. Der neue Titel ist von mir.[/GREY]

Ich habe gerade eine Runde um den Block gedreht. Dort befindet sich eine Spielstraße, in der zwei überdimensionale Eisenfiguren von Max und Moritz stehen. Auf einer Bank davor saß ein jugendliches Pärchen und der Junge fragte mich im vorbeigehen, ob die eine Figur ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich antwortete, dass das Max und Moritz sind. Ok, bei künstlerischen Dingen mag man das ja nicht unbedingt erkennen, hätte mir also nichts weiter dabei gedacht, wenn er das gesagt hätte. Aber das folgende ließ mich echt aus dem Latschen Kippen. "Wer ist das denn?", fragte er mich :o.
Echt traurig, wie wenig manche Jugendlichen heutezutage wissen.

Zit

Arme Jugend, kann ich da nur sagen.
(Jetzt habe ich Spiegelstraße gelesen. :d'oh: Zu märchenbelastet.)
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Robin

:o Ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie das ohne die beiden in meiner Kindheit gewesen wäre. Ich meine, die gehörten beim Vorlesen ebenso dazu wie die Kleine Hexe, Mini, das Ich-Bin-Ich...

:wolke: Entschuldigt, ich muss mal eben in Erinnerungen schwelgen.
~Work in Progress~

Ludovica

#3
Dass eine alte Kindergeschichte heute nicht mehr so viel gelesen wird ist traurig ??? So ist die Welt nunmal, und das ist überhaupt nicht negativ, meiner Meinung nach. Alte Geschichten werden vergessen, neue werden erzählt. Oder weiß irgendwer hier, wer Finn und Jake sind? Oder wie das Baby von Cosmo und Wanda heißt? Oder wie die Protas der neuen My Little Pony Serie heißen? Oder die von Fosters Haus für Fantasiefreunde?

Nur weil eine Geschichte alt ist, ist sie noch nicht gleich besser. Klassiker sterben jeden Tag, und neue werden geboren. Und einige dieser Shows (gerade Adventure Time und My Little Pony) sind um einiges progressiver, schöner und tiefsinniger als vieles, was ich als Kind gesehen habe.

Dieses 'Wie kann man das nur nicht wissen, was sind die Jugendlichen doch dumm heute, und wie sollen sie jemals zu anständigen Erwachsenen heranwachsen wenn sie Pippi Langstrumpf und Max und Moritz nicht kennen' ist meiner Meinung nach echt respektlos gegenüber jungen Menschen, die in ihrer eigenen Welt, in einer ganz andere Zeit als der von Max und Moritz aufwachsen...

EDIT: Ich würde hier moderne Kinder-/Jugendbücher aufzählen, wenn ich davon irgendeine Ahnung habe; aber meine Erfahrung auf dem Gebiet ist auf Fernsehserien und die Meta dahinter beschränkt, deshalb nur diese Beispiele.

Robin

Das ist auch wieder wahr. Aber ich denke halt, dass es doch immer wieder ziemlich komisch ist, wenn man so vergleicht, was 'damals' und heute so vorgelesen wird.

Bitte nicht falsch verstehen, ich finde das nicht schlecht. :) Stagnation, egal in welchem Bereich, kann ja auch nur für sehr begrenzte Zeit gut gehen.
~Work in Progress~

Nycra

Naja, das gehört m.E. auch zur Allgemeinbildung, eben weil es ein Klassiker ist. Meine Nichten bspw. kennen Max & Moritz sehr gut und lieben deren Streiche. Damit will ich nicht sagen, dass heutige Geschichten per se schlechter sein müssen.  Es ist einfach ... schade.

Und wenn ich sowas lese, krampft sich mir unwillkürlich der Magen zusammen und ich fühle mich alt.  :'(

Ludovica

Nycra, die jungen Leute sind aber nicht dran Schuld, dass du dich alt fühlst ;) Wenn man sowas merkt, kann man ja auch einfach mal selbst was machen: Nämlich vielleicht jungen Leuten aus seinem Umfeld von den Geschichten erzählen, die man selbst als Kind gelesen hat. Vielleicht interessiert die das ja, und dann lesen die das. Man muss nicht gleich immer ein Urteil über Leute fällen.

Wer weiß, vielleicht hat der Junge, der Luna das gefragt hat, Max und Moritz ja nachher gegoogelt.

Luna

#7
Sehe ich auch so Nycra. Max und Moritz sind eben ein zeitloser Klassiker und gehören mMn zur Allgemeinbildung. Das Problem bei vielen dieser neuen Geschichten und Serien ist, dass sie meist nicht sehr langlebig sind und dann in Vergessenheit geraten. Aber Max und Moritz wurde 1865 veröffentlicht und ist auch heute noch bekannt, na ja, den meisten zumindest, siehe oben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass My litte Pony in hundert Jahren noch jemand kennt.

Ludovica

Zitat von: Luna am 24. April 2013, 16:52:41
Sehe ich auch so. Max und Moritz sind eben ein zeitloser Klassiker und gehören mMn zur Allgemeinbildung. Das Problem bei vielen dieser neuen Geschichten und Serien ist, dass sie meist nicht sehr langlebig sind und dann in Vergessenheit geraten. Aber Max und Moritz wurde 1865 veröffentlicht und ist auch heute noch bekannt, na ja, den meisten zumindest, siehe oben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass My litte Pony in hundert Jahren noch jemand kennt.

1. kann das heute noch keiner wissen, und 2., wie Virginia Woolf einmal sehr nett angemerkt hat: die moderne Welt ist geschaffen, um zu vergehen, und sich neu zu erfinden. Nur, weil gewisses Wissen verloren geht, gehen die Werte, die damit in Verbindung gebracht wurden, ja nicht verloren.

Wobei ich hier auch ein bisschen voreingenommen bin, weil ich Max und Moritz absolut nicht ausstehen konnte  :rofl: Der eine Schulmeister vom selben Autor war allerdings witzig, auch wenn ich den Namen vergessen habe. (Meine ultimative Kindheits-Heldin ist und bleibt einfach Pippi; und wenn die jemand nicht kennt, dann erzähl ich denen halt von ihr.)

Nycra

War auch nie als Vorurteil oder Verurteilen gedacht. Mir wurde von Max und Moritz in der Grundschule vom Lehrer erzählt. Das meinte ich mit Allgemeinbildung. Wenn ich Kinder hätte und die Lehrer würden "Mein kleines Pony" in der Schule unterrichten (sehr provokant gesprochen), würde ich denen was erzählen.

Max und Moritz ist zudem ja nur ein Beispiel. Man kann ja auch Astrid Lindgren oder Michael Ende heranziehen. Es sind eben Klassiker, von denen viele Zitate auch noch im sprachlichen Umlauf sind und allein deswegen bekannt sein müssten. Dass die Kids nichts dafür können, dass sie die Sachen nicht kennen, ist nicht deren Fehler. Ganz klar. Dafür sind die Erwachsenen verantwortlich, die eben dann lieber auf Onkel Fernseher zurückgreifen, als mal selbst ein Märchenbuch in die Hand zu nehmen.

Und klar würde ich einem Jugendlichen/Kind auch von den Geschichten erzählen, wenn Interesse bestünde.

Was die Argumentation mit der Vergänglichkeit angeht. Die Märchen von Grimm und Andersen kennt jeder und die sind deutlich älter. Woran also liegt es, dass die erhalten bleiben und nicht auch in Vergessenheit geraten?

Rhiannon

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe so meine Probleme mit dem Wort "Klassiker". Wer bitte definiert das? Und wenn es die Menge an Lesern ist, wie groß war die wann wirklich?
Und dann wieder die Frage, die Ludovica schon aufgeworfen hat: Ist Max und Moritz wirklich besser, als My little Pony? Ersteres kenne ich Letzteres nicht, weshalb ich mich eines Urteils enthalte, aber wer weiß, vielleicht gilt in vierzig Jahren als ungebildet, wer die Figuren aus dieser Serie nicht kennt.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche Menschen so verzweifelt auf die nicht vorhandene Allgemeinbildung junger Leute eindreschen (die dafür in der Schule Dinge lernen, von denen ihre Eltern keine Ahnung haben), weil ihnen der Wandel Angst macht. In der heutigen Zeit, durch den Einsatz neuer Medien,geht Wandel sehr schnell, ein Elektrogerät kann nach einem halben Jahr schon wieder völlig veraltet sein, während man, überspitzt gesagt, vor zwanzig Jahren noch die Bücher gelesen hat, die Oma als Kind auch las. Und das macht manchen Menschen Angst, nicht mehr Schritt halten zu können, also klammert man sich an das, was man kannte und verdammt die neue Zeit.
Muss das wirklich sein?
Und zu den so genannten "Klassikern", wenn Max und Moritz einer sind, welches Kinderbuch von möglicherweise 1820 haben sie verdrängt? Wer hat damals ganz entsetzt gefragt, warum die Kinder zwar wissen, wer Max und Moritz ist, aber dafür eine andere literarische Figur, die wir heute schon gar nicht mehr kennen, vergessen haben?

Ludovica

#11
Zitat von: Nycra am 24. April 2013, 17:13:39

Was die Argumentation mit der Vergänglichkeit angeht. Die Märchen von Grimm und Andersen kennt jeder und die sind deutlich älter. Woran also liegt es, dass die erhalten bleiben und nicht auch in Vergessenheit geraten?

Märchenforschung ist ein ziemlich großer Zweig der Literaturwissenschaft, und da müsste ich selbst ein bisschen recherchieren, um die genauen Hintergründe zu finden, aber zwei generelle Antworten kann ich dir dafür geben: Weder Andersen noch die Brüder Grimm haben diese Märchen komplett selbst erfunden. Die waren schon Jahrhunderte vorher in verschiedensten Varianten als Volksmärchen im Umlauf, die auf hundert verschiedene Arten erzählt wurden, und die teilweise bis in die Antike zurückreichen. Die Frage, warum DIESE Volksmärchen so lange überlebt haben, kann man wahrscheinlich am ehesten dadurch erklären, dass sie sehr einfach sind, Archetypen bedienen und in der oralen Tradition so gefestigt wurden, dass sie inzwischen ein fester Teil des kollektiven Gedächtnisses sind.

Max und Moritz kann man sehr schlecht mit Märchen vergleichen, eben deshalb weil sie von einem bestimmten Autor zu einer bestimmten Zeit erfunden wurden.

Und EDIT: Rhiannon, du sprichst mir aus der Seele, dankeschön  :knuddel: (und wirklich, jeder der sich für das Thema interessiert, sollte sich mal ein paar Folgen Mein kleines Pony - Freundschaft ist Magie (oder wie der deutsche Titel heißt) und Adventure Time anschauen. Das sind richtig, richtig gute Sendungen)

Kati

#12
Ich denke, "Max und Moritz" mit "My Little Pony" zu vergleichen, ist nicht der richtige Weg. Viel eher vielleicht mit den "Wilden Hühnern" von Cornelia Funke. Die sind ja noch relativ neu und gelten jetzt schon jetzt als allseits bekannte Kinderbücher. Ich denke übrigens auch ganz ketzerisch, dass man kleineren Kindern "Max und Moritz" gerade nicht mehr vorlesen sollte. Die Geschichte stammt aus einer Zeit, als Erziehung noch etwas ganz anderes bedeutete als heute und die Moral dahinter natürlich auch. Damals hat man Kindern Angst gemacht, um ihnen beizubringen, was sie nicht dürfen und das sollte heute völlig überholt sein. Die Aussage "Mach das nicht, sonst wirst du auch zu Korn zermahlen" sollte man seinen Kindern meiner Meinung nach nicht mehr so völlig wertungslos vorsetzen. Ich war zum Beispiel ein sehr ängstliches Kind und hatte Albträume vom "Struwelpeter" und den anderen Geschichten in dem Buch. Und ich denke einfach: Alles hat seine Zeit. Und ich denke, die Zeit dieser "Schwarzen Pädagogik" ist vorbei und das zu Recht.

Das heißt ja nicht, dass man die Geschichten von seinen Kindern fernhalten sollte. Ich werde es so halten, dass ich damit warte, bis meine Kinder verstehen können, dass diese Geschichten aus einer anderen Zeit stammen und, dass ich sie nicht verhungern lasse, wenn sie ihre Suppe nicht essen, wie im Suppenkaspar. Diese brutalen Geschichtchen von Kindern, denen etwas ganz schlimmes passiert, weil sie sich nicht so benehmen wie gewünscht, stammen großteils aus dem neunzehnten Jahrhundert, als Einschüchterung und Demütigung als Erziehungsmaßnahmen galten und das merkt man den Geschichten an – auch ,,Max und Moritz". Und deshalb finde ich, dass die in unserer Zeit nicht mehr kleinen Kindern vorgelesen werden sollten, jedenfalls nicht völlig wertungsfrei. Das sind halt einfach keine hübschen Kindergeschichten, die zur heutigen Art der Erziehung passen.

Ich bin außerdem der Meinung, dass etwas, das alt ist, nicht unbedingt gleich gut sein muss. ,,Aber es ist doch ein Klassiker" macht eine Geschichte nicht besser oder wertvoller als eine moderne Geschichte und was in hundert Jahren von unseren Geschichten übrig ist, das können wir heute gar nicht sagen. Vielleicht sind es wirklich die ,,Wilden Hühner", vielleicht ist es eine andere Geschichte. Vielleicht ist es ,,Twilight"? Denn am Ende sind Klassiker auch meist die Bücher, die zu ihrer Zeit beliebt waren oder so sehr gehasst, dass man sich an sie erinnert. Das ist aber kein Prädikat dafür, dass es gute Geschichten sind.

EDIT: Zu den Märchen. Wie Ludovica sagte, stammen die Märchen nicht wirklich aus der Feder der Grimms. Die Geschichten sind auch nicht auf einen bestimmten Raum beschränkt. Mein Lieblingsmärchen der Grimms ist der "Singende Knochen", der auf einer Sage beruht, die nicht nur in Deutschland zu finden ist. Das Motiv, das ein aus den Knochen oder Haaren eines Ermordeten gemachtes Instrument den Mörder verrät, gibt es genauso im britischen Raum, in Polen, in Serbien und im skandinavischen Raum. Das sind uralte Legenden, die die Grimms im neunzehnten Jahrhundert bloß festgehalten, aber nicht erfunden haben, Geschichten, die sich schon seit hunderten von Jahren halten. Und noch eins: Märchen sind niemals für Kinder gedacht gewesen. Wie das Wort "Märchen" schon sagt, sind es Mären, Berichte über phantastische Begebenheiten, die die Leute unterhalten sollten oder ihnen von alten Begebenheiten berichten sollten, aber sie waren eben nicht als Kindergeschichten geplant. Und bloß, weil ein Kind keine Märchen vorgelesen kriegt, heißt das auch nicht, dass es dumm ist oder werden wird. Ich habe Märchen als Kind gehasst, heute finde ich sie total spannend und lese sie gerne. Weil ich den historischen Kontext kenne, den ich als Kind natürlich nicht kannte und deshalb Angst vor den Geschichten bekommen habe.

Ludovica

Zitat von: Kati am 24. April 2013, 17:28:25
Ich denke, "Max und Moritz" mit "My Little Pony" zu vergleichen, ist nicht der richtige Weg. Viel eher vielleicht mit den "Wilden Hühnern" von Cornelia Funke. Die sind ja noch relativ neu und gelten jetzt schon jetzt als allseits bekannte Kinderbücher.

Wie gesagt, ich habe 0 Ahnung von modernen Kinderbüchern, aber danke dass du da so ein schönes Beispiel bringst  ;D Ich könnte definitiv damit leben, wenn meine Kinder irgendwann ihre Kindheit mit Büchern von Funke in Verbindung bringen würden. (Auch wenn ich hoffe, dass wir nie kleinen Kindern Twilight vorlesen werden :-X)

Kati

Das mit Twilight war jetzt auch eher allgemein gemeint.  :) Schließlich gelten auch Jane Austens Liebesromane heute als richtige Klassiker und total gute Bücher, während sie damals zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zwar auch schon sehr beliebt waren, aber halt belächelt wurden und als "Weiberromane" verschrien wurden. Heute liest aber fast jeder Englischstudent einmal Austen, obwohl das reine Unterhaltungsromane waren. Und deshalb bin ich fast sicher, dass in hundert Jahren auch Meyers Twilight als literarisch anspruchsvoller Klassiker betrachtet werden wird.  ;) Allerdings waren nicht nur Austens Romane reine Unterhaltungsromane, auch ganz viele Gothic Novels aus dem fin de siècle, in die wir heute viel reininterpretieren, waren zur Unterhaltung gedacht und wurden auch so rezipiert und gelesen. Vielleicht werden die Englischschüler in hundert oder zweihundert Jahren aus "Twilight" und den "Hunger Games" Informationen über unsere Gesellschaft ziehen, so wie wir das heute mit "Dracula" und co. machen? Das ist ein spannender Gedanke, finde ich.