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Substanzlose Charaktere - Der Bestseller-Geheimtipp?

Begonnen von Alana, 08. Februar 2012, 22:21:23

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Debbie

ZitatWie weit kann ich gehen bzw, kann man das überhaupt machen, oder stößt das den Leser ab?

Wenn Veröffentlichung für dich kein Thema ist, hast du absolute Narrenfreiheit  :snicker:
Ansonsten sieh es aus Sicht des Lesers - und da du mit einer Veröffentlichung ja auch ein gewisses Maß an Erfolg anstrebst, ist deine "Anfälligkeit" für Mainstream doch ein großer Vorteil. Du bist selbst ein "Durchschnittsleser" (wie ich übrigens auch), und kannst damit gut beurteilen, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen  ;)

Alana

Veröffentlichung ist immer ein Thema, da bin ich ehrlich, aber ich will trotzdem das Buch erstmal so schreiben, wie es mir gefällt. Dann sehe ich weiter. Vor allem, weil genau dieses Thema der Auslöser für mich war, das Buch anzufangen.
Alhambrana

Debbie

Das hört sich spannend an - falls du mal auf der Suche nach Beta-Lesern bist...  ;)

In Orson Scott Card's "Character & Viewpoint" gibt es ein Kapitel darüber, wie man "unsympathische" oder auch "moralisch verwerfliche" Charaktere zu Sympathieträgern macht - vielleicht ist das ja was für dich?

Alana

Danke für den Tipp und für das Angebot.  :knuddel:

Ich werde jedenfalls in den Büchern, die ich lese, mal vermehrt darauf achten, wie sich Plot und Charaktere an Komplexität zueinander verhalten. Dieses Verhältnis finde ich nämlich sehr interessant.

Übrigens: Ich meinte mitnichten, dass ein gut ausgedachter Charakter 1000 Eigenschaften haben muss, unendlich viele Spleens und dergleichen. Sondern ich meinte, dass etwas an ihm ist, das im Gedächtnis bleibt, abgesehen von seiner Motivation, die Welt zu retten.
Alhambrana

Runaway

Zitat von: Debbie am 09. Februar 2012, 22:31:24
In Orson Scott Card's "Character & Viewpoint" gibt es ein Kapitel darüber, wie man "unsympathische" oder auch "moralisch verwerfliche" Charaktere zu Sympathieträgern macht - vielleicht ist das ja was für dich?
Ich hab schon erlebt, daß die das von selbst machen. Eine meiner stärksten Figuren, wie ich grad festgestellt habe, ist eine Borderlinerin mit multipler Persönlichkeit, die, um ihrer Opferrolle zu entfliehen, gemeinsame Sache mit einem Serienkiller macht.
Nein, höher gegriffen hatte ich da grad nicht vorrätig! ;D
Der Punkt ist: Die Frau ist komplett krank im Kopf. Total. Die macht Sachen... die sind nicht schön. Und trotzdem, als sie plötzlich vor meiner Heldin einen Switch hat und dann plötzlich die andere Persönlichkeit in Form eines verängstigten kleinen Mädchens vor ihr steht... da hat man Mitleid. Man versteht, wie es dazu kommen konnte.
Und das macht die Sache noch viel gruseliger.
Aber ich gebe zu: Es hat gedauert, diese Figur zu entwickeln. Ein Sympathieträger wird sie wohl nie, aber obwohl man sie hassen müßte, tut man es nicht. Ist auch ein echter Drahtseilakt!

Judith

Hm, ich habe das Gefühl, dass hier "substanzlose" bzw. "wenig charakterisierte" und "schwache" Figur teilweise gleichgesetzt wird.
So hat etwa Hohlbein in fast allen seinen Jugendromanen völlig substanzlose Figuren. Die könnte man alle wild durch die Romane tauschen und hätte kein Problem, weil die alle kaum Ecken und Kanten haben und immer einem bestimmten Typ entsprechen.
Wenn ich die jetzt mit der hier oft genannten Bella vergleiche ... Bella ist nervig und vom Verhalten her schwach, aber ich finde doch, dass sie recht klar charakterisiert ist. Dass sie sich treiben lässt, unemanzipiert ist und oft wenig eigenen Willen zeigt, macht sie noch nicht zu einer substanzlosen Figur.
Und umgekehrt können ja auch "starke" (sowie moralisch verwerfliche) Figuren sehr wenig charakterisiert sein.

Kraehe

Zitat von: Judith am 09. Februar 2012, 23:26:09
Hm, ich habe das Gefühl, dass hier "substanzlose" bzw. "wenig charakterisierte" und "schwache" Figur teilweise gleichgesetzt wird.

Das habe ich mir auch gedacht, nachdem ich den Thread seit gestern gant gespannt mitverfolgt habe... Bella ist für mich ganz klar keine sympathische Figur. Und als Charakter nicht der Typ, mit dem ich wirklich was anfangen könnte, so in real. Aber sie kommt schon raus. Vielleicht etwas zu deutlich. Und viel zu schwach - das ist der Effekt, der dich dazu bringt, sie packen und schütteln zu wollen. Mich zumindest. Ich finde ziemlich unmöglich, wie sie da charakterisiert ist und was sie für ein Bild übermittelt.Aber das ist dann nochmal eine andere Geschichte.

Ich tendiere im Moment fast dazu zu sagen statt substanzlos gehört für mich eher ein 'schwache/unaufdringliche' Charaktere in den Titel. Oft habe ich eher den Eindruck, dass Point of Views an solche übergeben werden, weil das klar einfacher ist. Sie beobachten schön, spiegeln alles wider und können super Reporter spielen, weil sie selbst nicht wirklich aktiv was beitragen. Oder wenig.
(Und damit habe ich mich im letzten halben Jahr viel auseinander gesetzt, weil ich genau so eine hatte, die eigentlich nur da war, um zu erzählen und sich retten zu lassen...)
Wenn man anspruchsvollere oder stärkere Charaktere schreibt, ist das durchaus schwieriger, weil man nicht eifnach beobachtend erzählen kann. Und das ist ja im Zweifelsfall durchaus begrüßenswert für den Leser, der nicht viel nachdenken will bzw. ncht zu sehr zwischen Chara-Sicht und Objektiver Sicht unterscheiden müssen will, denke ich. Stärkere Charaktere stehen in ihrer Perspektive viel mehr im Mittelpunkt (oder manchmal im Weg), das erfordert ganz andere Herangehensweise. (Und dann ist man wieder bei plot- oder charadriven...)
Und in der Regel kann hinter so einem Chara auch viel stecken. Das ist dann auch schön, zu entdecken. Falls es mal durchkommt ::) Schwierig wird es m.E. mit so einem Chara aber, sobald dem x-beliebigen Leser auffällt, dass er zu passiv und zu wenig funktionell ist, als dass er eine Daseinsberechtigung hätte.
Zumindest bei den genannten Beispielen bisher ist das aber nicht so furchtbar, glaube ich, wenn man sich nicht gezielt mit Charas auseinandersetzt. Und dann funktionieren solche Geschichten für viele Leute ja auch gut.

Was ich mir aber auch als Frage gestellt hatte - viele von diesen Helden - Frodo, Harry, Sonea - die hier genannt wurden, entsprechen in gewissen Grundzügen einem gewissen Typ, finde ich. Und eine gewisse Geradlinigkeit, die vielleicht auch auf Zähigkeit als großer Eigenschaft aufbaut, braucht es für alle, damit sie in ihrem Umfeld funktionieren. Wenn man sich mal so Heldengruppen anschaut - hier sind ja schon oft die besten Freunde und Nebencharaktere genannt worden - dann findet sich in 'Bestsellerumkreisen' oft nicht nur ein Held, der einem gewissen Typ entspricht (der nicht zwingend substanzlos, vielleicht einfach blass ist), sondern auch eine ganze Konstellation um den Held. Seine Helfer, durch die er erst zum Held werden kann usw.
Da tauchen nicht nur klassische Figurentypen, sondern auch klassische Gruppierungen immer wieder auf. Scheint auch ein fuktionierendes Prinzip zu sein. :hmhm?:

Alana

ZitatIch tendiere im Moment fast dazu zu sagen statt substanzlos gehört für mich eher ein 'schwache/unaufdringliche' Charaktere in den Titel.

Hm, ja da könntest du recht haben. Was ich eigentlich meinte ist, dass sie keine Eigenschaften haben, die sie von anderen Charakteren dieser Art unterscheiden, keine Charakteristika, die hervorstechen. Das hat sich mir als substanzlos dargestellt, aber ich gebe zu, dass ich mich da ungenau ausgedrückt habe. Ich konnte es allerdings selbst nicht so recht einordnen, bis ich eure Beiträge gelesen habe. Bis hierher fand ich die Diskussion sehr spannend und ich sehe jetzt auch etwas klarer.

Was du über den Helden und die Konstellation sagst, finde ich auch interessant und auch sehr wahr, für viele Bücher. Harry gibt das ja sogar selbst ganz offen zu ;D und ich meine auch Frodo sagt einen Satz, den man so deuten kann.
Jetzt frage ich mich, ob es auch andersrum geht. Starker Prota, schwacher Sidekick.

Auskoppeln würde ich evtl. ganz gerne die Mörderdiskussion, ich bin mir nur nicht sicher, ob es das schon gibt oder ob wir da vielleicht im Bösewichter-Thread drüber diskutieren könnten.

Alhambrana

Steffi

Ich habe vor kurzem die Hunger Games Reihe von Suzanne Collins verschlungen und war völlig überrascht, wie kantig und eigenwillig die Hauptfigur ist (und das als Mädchen - die müssen doch oft bloß als nettes Love Interest herhalten). Katniss ist misstrauisch, launisch, hat keine interessanten Hobbies und kann kalt und manipulativ sein, und ich fand es großartig. Es hat mich fast gewundert, dass die Bücher trotzdem solche Bestseller geworden sind und die Antwort liegt wahrscheinlich einfach darin, dass Frauz Collins einfach wirklich ganz toll schreibt. Spannend von der ersten bis zur letzten Seite mit einem World Building, das mir vor Freude Tränen in die Augen treibt. Sie hat eine tolle Geschichte zu erzählen. Und Katniss, mit ihrer latenten Paranoia und Bindungangst, passt in diese Welt einfach gut rein.

Anderes Beispiel: Kvothe aus "Der Name des Windes" ist nun wirklich kein Sympathieträger aber auch hier liegt der Sachverhalt ähnlich: Patrick Rothfuss kann einfach zum Niederknien gut schreiben. Seine Welt ist so vielschichtig und interessant, dass es mir fast egal ist, wer mich dadurch führt :-)

Und: bei beiden Autoren kommen die Hauptfiguren mit ihren Maschen nur begrenzt durch. Ihre menschlichen Fehler machen sie verletzbar, und sie müssen durchaus die Konsequenzen ihres Tuns ertragen. Das macht sie wiederum sympathisch.
Sic parvis magna

Franziska

Ich denke, man wird immer Beispiele für beides finden. Und ich denke auch, dass es einen Unterschied zwischen normal (z.B: Harry) und charakterlos gibt. Bei Harry gibt es ja doch eine Menge, was ihn als Person auszeichnet.
Man muss sich eben fragen, für wen man schreibt. Ich merke gerade, dass es mich tierisch langweilt, wenn ich einen Chara habe, der zu normal ist. Ebenso langweilen mich Charaktere die mir selbst ähneln, was nicht daran liebt, dass ich mich selbst langweilig finde, sondern dass ich mich selbst eben kenne. Letztens ist mir aufgegangen, dass ich meine Probleme mit einem Text dadurch beheben kann, dass ich meine Chara mit mehr Persönlichkeit ausstatte. Ob das dann ankommt? Ich weiß es nicht. Aber es gibt ja durchaus viele Charaktere, insbesondere Ich-Erzähler in Jugendbüchern, die rotzfrech sind und den Leser gerade dadurch mitziehen, dass sie sich so ausdrücken, wie sie es sich selbst nie trauen würden.

Kraehe

@Alana: *pro Mörder-Diskussion an anderem Ort*
Die Konstellationen - funktionieren wohl vielerorts einfach. Ein enorm starker Chara mit einem schwachen Anhängsel daneben ist auch irgendwann nervig, glaube ich. Ich glaube, dass der ganz schnell ganz viel Sympathie einbüßt. Oder aber dass sich alle über den Nebenchara aufzuregen anfangen ohne Ende. Ich schätze mal, es ist leichter (und spannender) von außen, bzw. aus 'milderer' Perspektive einen starken Chara zu betrachten, als aus seiner Perspektive jemand anderen. Geh ich nochmal drüber nachdenken... (aber ich würde sagen, dass da ganz schnell der Eindruck entsteht, die Nebencharas seien eben mal platt daneben gestellt worden, damit es nicht wie eine one-man-show aussieht, obwohl es so wirken wird.)

@Steffi: Ja, mit Kvothe wollte ich vorhin auch schonmal ankommen. Der Typ ist so ein starker Kerl und hat mich im zweiten Band sehr zu nerven angefangen. Das fand ich stark - weil sich alles trotzdem so gut lesen ließ (Rothfuss hat es wirklich drauf). Und weil mir vorher kaum so bewusst war, wie gut man ein Buch trotz/wegen einem so nervtötenden allwissenden alleskönnenden Charakter finden kann. Bis ich aber kapiert hatte, dass genau das Kvothe charakterisiert und zu ihm macht, habe ich auch ein wenig gebraucht. Dann fand ich das toll.
Aber solche Bücher - auch Panem, was ich bald lesen möchte - sind glaube ich, mal in Relation zu den anderen, die sich so als Bestseller finden, selten. Zumindest selten so bekannt und gefragt in der breieten Masse. Oder? (*Beispiele suchen geh*)

Steffi

@Krähe: ich würde jetzt mal die waghalsige Theorie anbringen, dass nur wenige Autoren so gut sind, dass sie eine an sich nervende, unsympathische Figur über hunderte von Seiten den Plot tragen lassen können, ohne die Leserschaft zu vergraulen. *versteck*

Du hast ja so Recht mit Kvothe. Aber ich find es toll, dass er mit seiner Art eben auch immer wieder auf die Nase fällt. Z.B. als ihm die Bibliothek wegen seiner Dummheit verschlossen bleibt.
Sic parvis magna

Kraehe

@Steffi: Da kann durchaus was dran sein. :hmmm: 

Kvothe könnte für meinen Geschmack öfter oder tragischer auf die Nase fallen, in Relation zu allem, das er mal eben mit Links meistert. Aber das ist dann eine andere Debatte :innocent:

Alana

@Krähe: Das mit der One-Man-Show könnte durchaus stimmen, da muss ich mal drüber nachdenken.

Panem zeichnet sich in meinen Augen in vielerlei Hinsicht als sehr ungewöhnlich aus. Ich fand das Ende toll (genauso, wie den gazen Rest), weil es zum Buch passt, weil die Charas einfach total kaputt sind, was nach dem was sie erlebt haben nur logisch ist. SC hat damit allerdings sehr viele Leser verprellt, die sich wohl ein richtiges Happy End erwartet hatten.
Katniss fand ich manchmal anstrengend, aber nicht im negativen Sinne. Es hat eben einfach mit dem Rest harmoniert.
Alhambrana

Khalisa

Ich klinke mich jetzt hier einfach mal ein, weil ich diese Diskussion gerade enorm spannend finde.
Momentan stehe ich nämlich genau vor dem Problem mir die Charaktere aus meinem Projekt anzusehen und noch einmal gründlich zu charakterisieren.
Festgestellt habe ich dabei, dass fast alle Nebenfiguren, insbesondere die mit antagonistischen Zügen, bedeutend besser durchdacht sind als meine Protagonistin.

Absicht war das nicht - es ist mir nur schlicht nicht aufgefallen. Ich überlege gerade woran das liegen könnte. Eine Vermutung ist es, dass (zumindest bei mir - Anfängerfehler?) meine Protagonistin gnadelos dafür gebraucht wird die Handlung zu tragen und sich in bestimten Situationen schlicht so verhalten muss, wie die Handlung / Romanidee das vorgibt.
- ich bin gerade dabei das zu überarbeiten!  ::)
Möglicherweise leiden gerade in Fantasy-Romanen Protagonisten unter diesem Problem?

Ich lese ja auch sehr gerne Krimis und da gibt es zur Zeit eher den Trend schrullige, sehr eigenbrötlerische Figuren zu verwenden. Teilweise tritt die Aufklärung eines Verbrechens sogar hinter die persönlichen Probleme der Hauptfigur zurück (z.B. bei Arnaldur Indridason)
In einem Fantasyroman, ich muss jetzt dazusagen, dass ich hauptsächlich High Fantasy lese, geht das nicht so einfach. Da muss immer ein großes Ganzes dahinter stehen (Weltrettung etc.)