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Charaktergeschichte vs. Handlungsgeschichte

Begonnen von Beate, 20. Mai 2008, 12:52:40

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Beate

Hallo zusammen.

Einen ähnlichen Thread mit dem Titel Charakter vs. Handlung gibt es bereits, allerdings mit einem etwas anderen Inhalt, wie ich ihn hier jetzt vorstellen/diskutieren möchte.
In besagtem Thread geht es darum, was euch eher zum Schreiben animiert/beflügelt, die Charakterisierung bzw. die Innenansicht eines Chars oder die Handlung/der Plot.

Mein Thema ist zwar ähnlich, aber eben doch nicht ganz das.

ich wollte jetzt eher darüber reden, was euch persönlich besser gefällt: Eine Geschichte, bei der ein Charakter im Vordergrund steht und "seine" Geschichte erzählt, z.B. in Form eines Tagebuchs, in der Ich-Perspektive oder ähnliches. Oder ob ihr eher Bücher mögt, bei denen es mehrere Handlungsstränge gibt, viele verschiedene Personen und nicht "DIE" Hauptperson, sondern mehrere, die gleichwertig sind und alle Charakterisiert werden.

Und natürlich auch, wozu ihr tendiert beim Schreiben. Es kann ja z.B. sein, dass ihr selbst lieber "Charaktergeschichten" lest, selbst aber "Handlungsgeschichten" schreibt.


Bei mir ist es so, dass ich beides gerne lese. Ich mag Romane, die aus Sicht einer Person erzählen, wo man auch nur über diese Person erfährt und wenn andere Personen nicht in ihrer Nähe sind, dann weiß man auch nicht, was diese machen. Genauso mag ich es aber auch, wenn es eine komplexe Handlung gibt, mehrere "Hauptpersonen", die auch alle charakterisiert werden.

Mir persönlich liegt beim Schreiben aber die Charakterisierung um einiges mehr. Mein aktuelles Romanprojekt ist zwar eine Handlungsgeschichte, aber ich sehe immer wieder, wie ich an meine Grenzen stoße, da ich gerne Seitenlang nur das Innenleben einer Person beschreibe, aber das geht natürlich nicht, wenn die Perspektive eine andere ist. Außerdem habe ich in diesem Projekt eine Vielzahl von wichtigen Charakteren, die noch nicht alle laut "hallo, hier bin ich" geschrieen haben und nicht all zu viel über sich Preis geben. Manche dagegen sind da, die sich in den Vordergrund drängen wollen, obwohl sie in der Szene grad gar nichts zu suchen haben.


Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt und hoffe, dass der Thread auch aus eurer Sicht ein etwas anderes Thema behandelt ;).

Grüße,
Beate

Ary

Hi,
ich mag am liebsten diese "Charaktergeschichten" - aber ich lese sehr ungern "Ich"-Perspektive. Manches in ich-Form fesselt mich, aber das meiste ist irgendwie nicht so meins, keine Ahnung warum. Wenn ich mich mit dem Protagonisten identifizieren kann (jetzt hätte ich fast "infizieren" geschrieben, aber manche Protagonisten sind wirklich so gut be/geschrieben, dass sie fast infektiös sind), dann stört mich auch die ichperspektive nicht, aber wenn ich zu dem Charakter keinen Bezug finde, stört sie mich sehr.

Plots mit vielen Handlungssträngen/Perspektiventrägern gefallen mir nur so lange, wie alles logisch, nachvollziehbar und nicht zu durcheinander ist. Es muss nicht immer nur ein Hauptcharakter sein, wenn es überschaubar bleibt, erfahre ich auch gern mehr über Nebenfiguren und Nicht-Perspektiventräger.

Beim Selberschreiben versuche ich im Moment noch, mich mit der Anzahl der Perspektiventräger zurückzuhalten und nicht zu viele zu "züchten". ich versuche gerade, mir den auktorialen Erzählstil abzugewöhnen und perspektivisch zu schreiben, in meinem NaNo-Buch habe ich nur aus der Sicht eines Protagonisten zu schreiben (dank meiner Betas hat's auch geklappt), in meinem momentan aktuellen Projekt habe ich schon zwei Hauptperspektiventräger, kann sein, dass es sogar vier werden. Muss aber nicht sein. :)
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

Lavendel

Kann ich gar nicht so genau sagen. Es kommt auf die Geschichte an, die erzählt werden soll. Beides erfordert ganz unterschiedliche Techniken und eine jeweils andere Dramaturgie. Man kann mit verschiedenen Perspektiventrägern andere Effekte erzielen, als mit einem einzelnen Ich-Erzähler - aber beides hat eben etwas für sich. Ich finde auch Bücher mit verschiedenen Ich-Erzählern toll. Da ergeben sich dann wieder ganz neue Möglichkeiten.

Ich denke mal, es ist nicht nur entscheidend, was man persönlich bevorzugt (obwohl das natürlich eine Rolle spielt), sondern auch darauf, wohin man mit der Geschichte möchte.

Tanrien

Ich lese sehr gerne Charaktergeschichten, auch in der Ich-Form. Ich lese sie sogar am liebsten, weil ich dann einen Charakter habe, auf den ich mich konzentrieren kann und, wenn er mir nicht liegt, das Buch weglegen kann. Wenn es stattdessen mehrere Charaktere sind, überspringe ich manchmal die Kapitel der Charaktere, die ich nicht mag und verpasse dabei Plot - recht unangenehm. Natürlich habe ich auch schon festgestellt, wie ich dann langsam manche Charaktere mehr mochte, je mehr ich von ihnen gelesen habe, rein, um den Plot zu verfolgen, das war aber eher die Ausnahme. Auch ist es selten bis noch nie vorgekommen, dass mich ein nebencharakter so fasziniert habe, dass ich mir eine weitere Perspektive von ihm gewünscht hätte - ich "zwinge" mich sozusagen selbst, den hauptcharakter zu mögen und mich für ihn zu interessieren und das klappt ganz gut.
Eine Reihe, die ich schon länger unfertig gelesen hier liegen habe, wurde von meiner Haltung sehr stark, hm, getroffen - mein Lieblingscharakter stirbt zwei Bücher vor dem Schluss und ich werde mich zwingen müssen, die letzten zwei Bücher zu lesen, weil es mich nicht mehr interessiert. Mit dem Charakter in der "Handlungsgeschichte" ist auch mein interesse am rest und am Plot größtenteils gestorben.

Beim Schreiben allerdings stimme ich Lavendel zu: Das hängt von der Geschichte ab. Ich merke zwar, dass es mich, wenn ich mich Plot-Gedankenexperimenten hingebe, zur Handlungsgeschichte mit mehreren POVs treibt, aber meine Ursprungsidee ist in fast allen Fällen eine Charaktergeschichte und bleibt es in fast allen auch, weil es besser zur Geschichte passt.

felis

Ich lese beides gern und hab auch beides schon geschrieben. Derzeit arbeite ich an einer Geschichte mit vier Hauptprots und diversen wichtigen Nebenprots. Der einzige Unterschied in meinen Augen ist dass die "Handlungsgeschichte" aufwendiger ist, da ich nicht nur einen sondern gleich alle vier entsprechend durchcharakterisieren muss.

Lavendel

Ich finde diese Terminologie 'Handlungsgeschichte' und 'Charaktergeschichte' ganz schön verwirrend. Ich muss jedes Mal überlegen, was jetzt was war. Wir könnten es einfach Geschichte mit einem oder mehreren Perspektiventrägern nennen - das wäre zumindest für mich einfacher.

Im Moment bin ich dabei einen Roman mit mehreren Perspektiventrägern zu Ende zu bringen. Dabei funktioniert es natürlich sehr gut, eine Figur aus mehreren Blickwinkeln zu beleuchten. Und da diese Blickwinkel nicht unbedingt übereinstimmen, ist das natürlich interessant. Außerdem kann man Charaktere von innen und außen zeigen. Auch da kann es große Unterschiede geben. Außerdem bringen Perspektivwechsel automatisch Tempo in eine Geschichte.
Das ist so ähnlich wie beim Film. Jemand hängt am Abgrund und rutscht langsam ab, während jemand anders sich noch verzweifelt duch eine Horde Feinde kämpft, um das arme Schwein zu retten. Beides für sich genommen ist zwar aufregend - aber es ist noch viel aufregender, wenn zwischen beiden Situationen hin und her geschnitten wird.

Natürlich ist es dann schlecht, wenn man eine Figur nicht mag. Aber bei den meisten Büchern wird ja nicht Kapitelweise gewechselt. Ich habe noch nie deswegen ein Kapitel überschlagen - und drei oder vier Kapitel würde ich erst recht nicht weiterblättern. Wenn es mir so wenig gefallen würde, würde ich schon das ganze Buch weglegen. Vorfreude ist die schönste Freude.

Artemis

Ich lese und schreibe am liebsten handlungs-orientiert mit mehreren Erzählsträngen und einer breit ausgelegten Story, die aus mehreren Blickwinkeln beleuchtet wird.
Nichts ist schlimmer für mich, als ewig durch die Augen des einundselben Charakters zu schauen. Irgendwann gibt es da nichts neues, nichts interessantes mehr, und wenn der Charakter dann eh recht farblos gezeichnet ist, wird das Buch sehr schnell langweilig  :seufz:

Schwierig ist es nur, mehrere Stränge später so sauber miteinander zu verflechten, dass das Ergebnis kein Kuddel-Muddel mit zahlreichen losen Fäden ist. Wenn sich zB die Wege der Stränge zwischendurch kreuzen, muss es ja nicht nur vom Storyablauf, sondern auch von der Zeitspanne her passen - sollen sich also zwei Hauptcharaktere treffen, müssen beide zur selben Zeit am selben Ort sein (logisch  ::)), und das kann sich stellenweise als recht schwierig herausstellen.

Das Gefährliche bei mir ist, dass ich irgendwann zu viele Erzählstränge hab und mich darin womöglich verheddere. Sobald ein Nebencharakter auftaucht, der seine eigene interessante Geschichte zu erzählen hat, schnappt er sich automatisch einen Strang und ist fortan mit von der Partie. So was kann recht schnell auswuchern  :-\

Krasses Beispiel für einen solchen Erzählstrang-Salat ist für mich die Tetralogie von Tad Williams. In den Büchern befinden sich über10 Handlungsstränge, was dazu führt, dass man nur alle 100 Seiten den einen Charakter trifft, ehe man wieder weggerissen und in die nächsten Stränge geworfen wird. Oft musste ich da zurückblättern, weil ich nicht mehr wusste, was mit dem jeweiligen Charakter als letztes passiert war  :-[
Außergewöhnlich ist aber, mit welcher Kunstfähigkeit und Professionalität der Autor an die Sache rangeht, ohne sich von der geballten Ladung seiner eigenen Geschichte erschlagen zu lassen. Es gehört schon eine Menge Schneid dazu, sich so viele Erzählperspektiven aufzuhalsen  ;) Ist das Ergebnis dann trotz der Masse sauber und rund, kann man als Leser mit gutem Gedächtnis nur schmachtvoll seufzen   :d'oh:

felis

@Artemis welche von Beiden meinst du denn? MST oderOtherland? Otherland höre ich grade und finde es gar nicht "salatig".  ;)

Artemis

@ Felis:
Das Geheimnis der magischen Schwerter heißt der Klotz  :)
4 Bücher á 900 Seiten, geschätzte 100 Charaktere, säuberlich in einem Anhang gelistet, der allein schon ein Buch füllen könnte.

Ein Lebenswerk, so was zu schreiben ...

Tarah

Ich bevorzuge beim Lese wie auch beim Schreiben lieber "Handlungsgeschichten", weil es doch auch ziemlich langweilig werden kann, immer nur auf der einen Person herumzuhacken. Zugegeben, ich kenne gute Bücher, in denen die "Ich"-Perspektive gut(oder auch sehr gut) rüberkommt, aber na ja. Das hängt alles mit der Geschichte zusammen, die man erzählen will.
Blöd wird die Story nur, wenn der Leser (oder gar der Schreiber!) sich in seine Personen nicht mehr reinfindet. Dann macht erstens das Lesen keinen Spaß mehr und zweitens wird das breits gelsene völlig durcheinandergeschmissen.
Trotzdem, ich bleibe bei meinen "Handlungsgeschicten"...

Tarah

felis

@Artemis, dann meinst du mst (=Memory Sorrow and Thorn - der englische Titel der Reihe)

Issun

Ich persönlich finde die Ich-Perspektive eher unangenehm. Sie schränkt den Autor ein (er kann nur die subjektiven Eindrücke einer einzelnen Person schildern) und darunter leidet dann manchmal auch das Lesevergnügen. Sicher gibt es auch Autoren, die damit gut zurechtkommen und das Bestmögliche herausholen. Prinzipiell mag ich aber charakterbezogene Geschichten, in denen individuelle Charas detailgetreu ausgearbeitet werden. Handlungsbezogene Bücher bieten zwar vielleicht mehr Spannungspotenzial, aber bei zig Protas kann man leicht die Übersicht verlieren und meistens blättere ich dann über die Kapitel der für mich uninteressanten Leutchen hinweg. Es hat wohl beides seine Vor-und Nachteile und daher ist es nicht leicht, sich für eine Version zu entscheiden. Nur gegen Ich-Erzählung habe ich gewisse Vorurteile.  ;)

Judith

Wobei das natürlich nicht nur bei der Ich-Perspektive der Fall ist - es gibt ja auch sehr viele Bücher, die zwar in der 3. Person geschrieben sind, aber dennoch nur an einem einzigen Charakter dranbleibt. Harry Potter ist dafür ein typisches Beispiel (abgesehen von drei (?) Anfangskapiteln).

Ich lese eigentlich beides ganz gern, es kommt halt immer aufs Buch drauf an. Guy Gavriel Kay und George R. R. Martin etwa haben viele Charaktere, aus deren Sicht sie schreiben, und ich lese beide unglaublich gern, aber auf der anderen Seite find ich es auch immer wieder mal schön, wenn man sich ganz auf einen einzigen Charakter einlassen und ihn sehr gut kennenlernen kann.
Riesige, komplexe "Epen" erfordern halt meistens mehrere Hauptcharaktere, während geradlinige, eher "einfache" Plots sehr gut mit einer einzigen Hauptperson auskommen.

ZitatWenn es stattdessen mehrere Charaktere sind, überspringe ich manchmal die Kapitel der Charaktere, die ich nicht mag und verpasse dabei Plot - recht unangenehm.
Ich überspringe zwar nie Kapitel, kenne aber das Problem. Gerade bei Romanen mit vielen Perspektiventrägern kann es sehr leicht vorkommen, dass ich einige davon nicht mag und folglich dann mit ihrem ganzen Handlungsstrang nichts anfangen kann (so etwa beim "Lied von Eis und Feuer" mit den Perspektiven von Davos, Aeron Greyjoy und Bran).