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Das größtmögliche Übel

Begonnen von Silvia, 21. Mai 2007, 12:06:14

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Silvia

In dem einen oder anderen Schreibratgeber bin ich darauf gestoßen, daß man für seine Helden/Konflikte etc. am besten das größtmögliche Übel sucht und irgendwann eintreten (oder fast eintreten) lassen sollte.
Macht ihr das?
Treibt ihr euren Helden gekonnt in den Wahnsinn / bis ans Ende seiner Kräfte - oder darüber hinaus?
Habt ihr schon mal eine Welt / ein Land an den Rand seiner Existenz geführt oder sogar in Schutt und Asche gelegt?
Oder muß es gar nicht jedesmal das Allerschlimmste sein?

Linda

#1
ich finde das ja soo berechenbar.
-Heldenpärchen heiratet am Anfang, man weiß, "das kann nicht gutgehen" einer stirbt rasch, oder es gibt ne böse Scheidung.
-Vater drückt Kind und wuschelt ihm über den Kopf, man weiß, "das kann auch nicht gutgehen" ... Tod, Entführung, etc.
-Neuer Job, neuer Freund = neues Leid.

Finde ich irgendwie abgedroschen, da auf dem zerstörten Punkt meist zu Anfang noch heileweltmäßig, tränendrüsenhaft herumgedrückt wird, damit es auch jeder kapiert.
Interessanter finde ich unerwartete Entwicklungen, quasi schon mal ein Wendepunkt gleich zu Beginn. Was dabei allerdings nicht zu vernachlässigen ist: die Krisis sollte schon auf den Helden zugeschnitten sein und sich logisch entwickeln. Da das aber eine Kunst ist, wird eben lieber auf Standardszenarien aus dem Baukasten zurückgegriffen.

Wie ich das löse:

zB: Die Heldin scheitert beim Versuch, Schamanin zu werden, eine Katastrophe, sie ist am Boden. Doch die wirkliche Katastrophe erwartet sie erst, als sie nach Hause zurückkehrt und das Heim verwüstet, alle tot oder verschleppt vorfindet.
Später warten weitere Überraschungen auf sie.

oder

z.B. Der schreckliche Fall in der Geschichte ist bereits eingetreten, ein Kind ist tot. Wir erleben den Helden im Rinnstein auf dem Zahnfleisch.
Für seine Sippe passiert das Unglaubliche erst noch zu Beginn der Geschichte, ihr symbolisches "Friedenstier" und Statussymbol wird geklaut.
Und beim Versuch, das eine durch eine Reise zu vergessen, das andere zu finden, erfährt der Held gegen Ende des Buches erst das, was sein Weltwild und Selbstbild nun wirklich auf den Kopf stellt. Aber wie jede Krise bietet auch sie eine Chance.

Gruß,

Linda

Artemis

Ich denke auch, dass es einen Wendepunkt geben muss, an dem sich der Protagonist entscheidet: Jetzt muss sich was ändern!
Ob man ihn dafür ins größtmögliche Übel stürzt, hängt meiner Meinung nach von dem Charakter an sich ab.

Kein Mensch ist unendlich belastbar, egal ob körperlich oder seelisch. Körperlich lässt sich durch Ruhe noch heilen, aber wenn jemand seelisch am Boden ist, kriegt man den nur mit der Couch hoch.
Da man in seinen Geschichten nicht die Möglichkeiten hat, nen Seelenklempner zu rufen, wird man den psychisch gestörten Prota wohl nie wieder auf die Beine kriegen.

Man sollte sich immer in die Figur hineinversetzen. Wenn man ihm zum Beispiel seine Familie, seine Freunde nimmt, also alle sind tot, außer ihm, womöglich wird er noch dafür verantwortlich gemacht blabla... Wie würdet ihr dann denken? So nach dem Motto: "Ach, leck mich am A...", und hüpfen singend und preifend unseres Weges?
Oder würdet ihr euch vollkommen zurückziehen, keinen an euch ran lassen, jeglichen Lebensmut verlieren?
Ich denke, jeder Psychologe würde auf die zweite Möglichkeit tippen, weil die meistens eintrifft.

Daher sollte man sich gut überlegen, wie viel man seinem Protagonist zumutet, und seine Reaktion darauf auch sehr realistisch darstellen. Was bringt uns ein Charakter, der gerade seine Familie verloren hat und trauernd durch die Gegend zieht, wenn er plötzlich neue, witzige Gesellen trifft und mit denen feiert und sich die Hucke vollknallt und Friede-Freude-Eierkuchen spielt? Ok, es könnte ein psychischer Knacks sein, dass er durch "gespielte Heiterkeit" über sein Leid hinwegtäuschen will, aber das muss dann auch so rüberkommen!

In einer meiner Geschichten hab ich das auch so gemacht, dass sich meine Protagonistin durch unechte Heiterkeit schützt, damit man sie nicht ständig bedauert und sie an ihre Vergangenheit erinnert. Sie will dadurch verdrängen und kapiert erst sehr viel später, dass Schicksalsschläge Zeit brauchen, um verarbeitet zu werden. Aber durch Reaktionen, Gedanken und ihre Verhalten, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, zeige ich immer wieder, dass sie tief in ihrem Innern von der Trauer zerfressen wird.

In einer anderen Story wurde der Protagonist für den Tod eines Mädchens verantwortlich gemacht, weil er einen Fluch in sich trägt. Er fliegt aus dem Dorf und wandert voller Schuldgefühle und Selbstmitleid durchs Land, die auch bei neuem Kontakt mit anderen nicht aufhören. Ich lasse ihn nie lachen und zwinge ihn stets dazu, dass er sich selbst an das erinnert, was hinter ihm liegt. Das raubt ihm nach und nach jeden Lebenswillen, was ihn zu einem psychisch labilen Charakter macht, den man nicht mal mit Samthandschuhen anfassen kann. Erst mit der Zeit lernt er dann, wieder Vertrauen zu sich und anderen zu haben, andere an seiner Seite zu akzeptieren und sein Schicksal hinzunehmen. Er beginnt zu kämpfen, statt sich ewig zu bedauern, und das ändert dann sein Leben.

Manja_Bindig

Ja.
Ja, ich gehöre zu den Menschen, die ihren Charas immer das größte Unglück widerfahren lassen, das es für sie geben kann - das allerdings dann punktiert. Mehrere Übel hintereinander weg nehmen die Spannung und der Leser fragt sich irgendwann nur noch: "Mein Gott, bei so viel Pech - warum nimmt der sich nicht nen Strick?"
Zwischen zwei Übel gehört eine nicht-üble Zeit.

Und die kann ich immer noch durch kleine alltagsdraman verübeln. Zum Beispiel kapuute Stühle, akuter Geldmangel, keine Butter da, Essen versalzen - das sind die Dinge, die in Serie geschehen können. :)
Meine charas empfindesn solche Geschehnisse im Moment natürlich als schlimmes Übel... :)

Aber ich treibe sie tatsächlich sehr gern auf den Abgrund zu - aber nicht alle springen.

Jen

Das klingt wie eine realistische Herangehensweise - man sollte es auf keinen Fall mit dem Übel übertreiben.
Ich persönlich setze gerne ein "Übel" an den Anfang, das die Situation für den Protagonisten über den Haufen wirft - sodass ich dann mit dem Heraufziehen eines neuen, größeren Übels aufwarten kann, das den Prota zwingt, das "Anfangsübel" erstmal hinter sich zu lassen. Wie groß dieses größere Übel schließlich ist, hängt davon ab, wieviel ich meinem Helden noch zumuten kann, ohne dass er - realistisch gesehen - psychologische Hilfe nötig hätte. ;D

Feuertraum

Heute habe ich irgendwie den Tag meiner "Ich kapiere nichts"-Phase (ich hoffe, ich kann das meiner Erkältung in die Schuhe schieben). Aber ich das, was Linda schreibt nicht dasselbe was Silvia schreibt, nur in andere Worte gekleidet ?

Ich kenne das ganze auch dahingehend, dass der Held nicht gleich von vornherein in die größtmöglichste Choose reingeritten wird, sondern wie bei einem Computer(rollen)spiel auch sich erst mit "kleinen Widrigkeiten", dann mit größeren Problemen und schließlich in die totale "Katastrophe" hineinschliddert.

Allerdings muß ich gestehen, dass ich diese Kunst nicht beherrsche  :(

LG

Feuertraum
Ein Bekannter von mir liebt Bier so sehr - ich bekam als Schutzimpfung gegen Corona Astra Zenica, er Astra Pilsener ...

Linda

#6
@Feuertraum

Ich glaube, der Unterschied liegt hier:

Silvia zitiert die Schreibbücher und fragt, ob wir (wie geraten) das größtmögliche Übel über unsere Figuren schütten.

Ich hingegen erläutere, dass diese Regel meiner Meinung nach oft eher fad umgesetzt wird und ich mich daher dafür entscheide, den Figuren unterschiedlichen Problemen zu stellen. Also nicht immer gleich das für den Leser naheliegenste zum Erzproblem zu küren, sondern (ihm und dem Helden) unterschiedliche Anforderungen zu stellen.

Denn ich als Leser fühle mich auch unterfordert, wenn ich einen Plot nach 20 Seiten durchschauen kann ;-) und versuche das, nach Möglichkeit zu vermeiden. Denn sobald ein Problem auf dem Tisch liegt, schwingt auch die (vermeindliche) Lösung mit. Der böse Eroberer wird vertrieben, der Rivale besiegt, das Kind gerettet, die Liebe gefunden ... Ein bisschen mehr Überraschung darf es dann schon sein, finde ich. Weshalb ich die "größtdenkbaren" Übel zumeist abgegriffen finde.

Möchtegernautorin

Hmm... <überleg>
Doch... irgendwie tue ich meinen Charakteren auch immer das schlimmste an, was ihnen passieren kann. Ich mag es, wenn sie in einer Krise stecken und sich dann entweder aufraffen müssen oder sonst irgendwie etwas. Da gibt es meistens eine trostlose Zeit, aber wenn die überstanden ist, geht es wieder aufwärts und besser als zuvor. Meistens zumindest, wenn es mir nicht gerade in den Kram passt, dass der Charakter sich in eine melancholische oder depressive Anwandlung hat :)

Aber bei einem kann ich mich rühmen: Kinder und Tiere lasse ich außen vor, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Was genau dem einzelnen passiert hängt von dem Charakter ab. Sieht ja nicht jeder das gleiche als großes Übel an.
Her plants and flowers, they're never the same - Blue and silver, it's all her gain
flying dragons, an enchanted would - She decides, she creates
It's her reality
Within Temptation - "World of Make Believe"

Solatar

In meinen Welten ist alles übel und es wird dann im Laufe der Handlung nur noch schlimmer. Hoffnung? Null. :pfanne: Und...sie springen irgendwann alle über die Klinge. Das Böse siegt.

Feuertraum

@ Linda: Oh, alles klar. Sorry, aber ich hatte es falsch verstanden  :schuldig:

LG

Feuertraum
Ein Bekannter von mir liebt Bier so sehr - ich bekam als Schutzimpfung gegen Corona Astra Zenica, er Astra Pilsener ...

Manja_Bindig

@Jen: Ich bevorzuge auch diese kleinen Übel, die zu schreiben macht WIRKLICH Spaß. (wenn sie dann fluchen wie die Rohrspätze, weil ein Pechtag ist... =^_^= )
Das große Übel eigentlich auch... aber da macht es mehr Spaß, die Folgen im Chara zu beobachten. Das Übel an sich ist ein notweniges Übel.

Geli

mit größtmöglichem Übel in "Schreibbüchern" ist meiner Meinung nach etwas Anderes gemeint.
Denkt an den allseits bekannten Spruch des Einen Rings:
... sie ins Dunkel zu treiben ...

das heißt: das Grauen für die Figuren steigern.

Ich gebe mal ein Beispiel aus dem Alltag.

Du setzt Dich morgens ins Auto und baust einen Unfall
weil Du vergessen hast, die Police rechtzeitig zu überweisen, hast Du keinen Versicherungsschutz
Du stehst von jetzt auf now mit einem Riesenberg Schulden da
weil Du richtig Scheiße gebaut hast und auch noch einen Menschen tot gefahren hast, wirst Du verurteilt und verlierst Deinen Job
Du hast keine Chance, die Schulden je mehr loszuwerden (gut? Schuldenberatung, Schuldenerlass vergessen wir jetzt mal großzügig)
Deine Frau, die all diese Schicksalsschläge mit Dir gemeistert hat, erkrankt jetzt an Krebs
Dann stirbt auch noch Dein Kind.

Das meinen Schreiblehrbücher mit größtmögliches Übel

wie die Romanfigur aus der Nummer wieder herauskommt, ist dann angeblich die Königsdisziplin.

Im Zweifelsfall empfehle ich die Bibel und das Buch Hiob.
Das ist sozusagen der klassische Fall.

Artemis

@ Geli:

Ich glaub, in dem von dir geschilderten Fall wird der Betroffene wohl keinen Ausweg mehr sehen, der die Fuhre noch rumreißen kann. Das sind dann die klassischen Fälle, die sich ins Auto hocken und mit Vollgas gegen den nächsten Baum fahren, oder sie hopsen vom Stuhl, mit nem Seil um den Hals, das unglücklicherweise an der Decke befestigt ist ...

Ich könnte es nicht über mich bringen, über ein solches seelisches Wrack noch ne annähernd realistische Story zu schreiben. Den Typen kann man wohl nur noch in die Geschlossene Abteilung stecken.

Silvia

Das erinnert mich jetzt an einen Science-Fiction-Film, in dem jede, wirklich jede logische und unlogische Misere eine nach der anderen ins Drehbuch geschrieben wurde. Das war schon ein Ketten-Übel. So daß ich mich im stillem schon dafür verfluchte, für diesen Film überhaupt Geld gezahlt zu haben ^^'
(--> Sunshine ... lief erst kürzlich im Kino)
Vor allem wenn man als Zuschauer oder Leser merkt, daß der Autor da mit vollster Absicht immer noch eins draufsetzt, weil das die angesagten Standardübel sind, durch die der Held halt durchmuß ...

Artemis

Sunshine...  :hmmm:  War das nicht der Film, wo die die Sonne wieder entzünden wollen?

Ich hab mich schon bei der Vorschau im Kino so kringelig gelacht, dass mir das halbe Popcorn aus der Tüte geflogen ist  :rofl:
Klar, fliegen wir mal zur Sonne und zünden das hübsche Ding an - hat jemand ein Feuerzeug dabei?  ;D
Und DAS haben sie natürlich in der Umkleidekabine auf der Erde vergessen, so wie immer    V_V

*seufz*