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Kulturelle Aneignung in Romanen

Begonnen von Nightingale, 02. Juli 2013, 21:48:54

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Tasha

Ich denke man muss da eben einfach sehr genau formulieren, damit klar wird, wie es gemeint ist und auf welche Bereiche es bezogen ist.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Soly

Zitat von: Natascha am 25. März 2022, 15:16:45
Ich denke man muss da eben einfach sehr genau formulieren, damit klar wird, wie es gemeint ist und auf welche Bereiche es bezogen ist.
Das ist richtig. Sollte man sowieso generell tun oder sich zumindest darum bemühen. ;)

Ich denke aber, solche sprachlichen Feinheiten werden vor allem dann interessant, wenn wir über konkrete Einzelfälle reden. Solange wir abstrakt über das große Thema der kulturellen Aneignung sprechen, lässt sich über das allgemeingültige "aufpassen, was wir in Bezug worauf wie formulieren" hinaus kaum eine Erkenntnis treffen. :)
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Tasha

Ist halt bei bestimmten Themen besonders wichtig. Sonst wirkt so ein thread wie dieser in fünf Jahren möglicherweise schlimm.
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

AlpakaAlex

Zitat von: Mindi am 25. März 2022, 13:55:14
Ich glaube, China ist ein schwieriges Thema. Ich will nicht behaupten, dass wir durch die Weltmachtstellung, die China mittlerweile hat, berechtigt sind, uns an ihrer Kultur zu bedienen. Das eine ist die Regierung, das andere die Menschen und ihre Identität.

China ist heute ein global Player und zu einer ernstzunehmenden Großmacht geworden. Heute ist die chinesische Wirktschaft dem Westen schon in vielen Bereichen eine Naselänge voraus. Viele unserer Industriezweige sind abhängig von Vorprodukten aus China. Um ehrlich zu sein sehe ich uns als abhängiger von China als anders herum. Chinas Wirtschaft verleitet dazu, sie auf Augenhöhe zu betrachten, da immer mehr Länder der Welt wirtschaftliche Abhängigkeiten zu China haben und China seit Jahren (oder schon Jahrzehnten?) quasi afrikanische Länder kolonialisiert. (Infrastruktur und Unterstützung gegen Rohstoffe)
Das es mit China gerade durch Chinas wirtschaftliche Vormachtsstellung alles ein wenig komplizierter ist, stimmt absolut. Allerdings dürfen wir auch nicht vergessen, dass diese Vormachtsstellung in erster Linie erarbeitet wurde, indem China als Land seine Arbeitskraft sehr, sehr billig (und zu sehr schlechten Arbeitsbedingungen) ans Ausland verkauft hat und dahingehend eben auch ausgenutzt wurde. Und was spreche ich hier eigentlich im Präteritum? Eigentlich hält das bis heute an.

China und Afrika ist auch ein sehr kompliziertes Thema - was vor allem dadurch erschwert wird, dass China in diesem Kontext ganz anders handelt, als es der Westen getan hat. Kurzum: Ja, es ist eine Form von Neokolonialismus, allerdings tatsächlich eine, wovon Afrika häufig mehr Profitiert - weil China, anders als der Westen, tatsächlich für Rohstoffe und Arbeit zahlt. Chinas Interesse an Afrika ist vor allem, dass China sein eigenes China braucht. Der Westen hat China lange Zeit dafür ausgenutzt, dass es in China gebildete Menschen gab, die komplexe Arbeit billig verrichten konnten. Was vor allem im Kontext mit der IT sehr wichtig wurde. Mittlerweile sind die Lohnniveaus in China aber gestiegen - und die Chines*innen haben einige eigene große Unternehmen, die solche Dinge herstellen (und auch die späteren Punkte in der Herstellungskette übernehmen. Und jetzt braucht China eben gebildete Leute, die helfen, die frühen Schritte zu übernehmen. Und da hat Afrika halt vor allem zwei Vorteile: a) Die Rohstoffe sind direkt vor Ort. b) Die Lohnniveaus sind extrem niedrig. Das heißt, gerade finanziell lohnt es sich für China, die Leute vor Ort in Afrika auszubilden und sie die Sachen abbauen und direkt vor Ort (geringe Transportwege ftw) aufbereiten zu lassen, bspw. zu Computerchips.

Die Sache ist, dass die afrikanischen Länder davon - anders als vom westlichen Kolonialismus - tatsächlich profitieren, weil China ihnen eben die frühen Arbeitsschritte lässt und bezahlt, Universitäten und dergleichen baut. Das macht das Thema "China und Afrika" halt furchtbar kompliziert.


Zitat von: Mindi am 25. März 2022, 13:55:14
China wurde u-a. von den Europäern kolonialisiert, aber ich mag mich falsch erinnern - aber wurde Japan nicht auch einst von der USA und den Engländern kolonialisiert, vor der Meiji Ära? Bis sie selbst angefangen hatten vor allen ihre Grenzen zu kolonialisieren?
Tatsächlich nicht. Man hat ihnen nur gedroht und Japan hat sich praktisch selbstständig dann dem kolonialen Druck angepasst. Ich zitiere einmal aus dem Artikel, den ich dazu geschrieben habe:
ZitatEs macht keinen Sinn über japanischen Imperialismus zu sprechen, ohne vorher die Meiji Restauration zu behandeln. Diese beschreibt eine Reihe von Reformen, die ab 1868 durch Kaiser Meiji durchgesetzt wurden.

Diese Reform war vor allem eine Reaktion auf einen Besuch von Matthew C. Perry in Japan. Dieser US-amerikanische Admiral besuchte Japan, um das Land dazu anzuhalten, seine Grenzen für Handel mit den USA zu öffnen. Bis dahin hatte Japan sich komplett gegen die Außenwelt isoliert und es war in der Regel sowohl für Ausländer*innen verboten, sich in Japan aufzuhalten, als auch für Japaner*innen, das Land zu verlassen. Bei Perrys Besuch jedoch hinterließ vor allem das moderne Kriegsschiff, auf dem er anreiste, einen bleibenden Eindruck. Es machte Japan klar, dass sie durch ihre Isolation vom technischen Fortschritt vom Rest der Welt abgeschnitten worden waren. Es blieb die Moral: ,,Wenn wir jetzt handeln, können wir herrschen. Wenn wir es nicht tun, werden wir beherrscht." Gleichzeitig sahen sie sich jedoch gezwungen, um nicht weiter hinterher zu hängen, ihre Häfen für Handel mit den US und dann verschiedenen europäischen Mächten zu öffnen – was auf internationaler Ebene als ,,Schwäche" wahrgenommen wurde.

Es folgten politische Unruhen in Japan, während der Shogun, verschiedene Daimyou und das eigentlich nur mit symbolischer Macht ausgestattete Kaiserhaus miteinander in Konflikt standen. Es gab eine Rebellion, die jedoch aufgrund der Uneinigkeit zwischen den Daimyou niedergeschlagen.

Was folgte, war die Meiji Restauration. Diese begann damit, den Kaiser, der in den letzten Jahrhunderten mehr und mehr zu einer Puppe des Shogunats geworden war, wieder als tatsächlichen Herrscher des Landes zu einzusetzen und im selben Zug das Shogunat abzuschaffen. Gleichzeitig wurde Japan zentralisiert und es wurde sich bemüht ein japanische Identität zu schaffen, nachdem Japan zur Zeiten des Shogunats stark zersplittert gewesen war. Mit diesem Ziel und um technischen Fortschritt verwirklichen zu können, wurde ein staatliches Schulsystem institutionalisiert, in dem die Kinder einheitliches Japanisch, Mathematik und ,,kulturelle Bildung" erhalten sollten.

Ebenso wurden auch neue Gesetze veranlasst, um japanische Ethik in einigen Punkten stärker der westlichen Ethik anzupassen. Im Rahmen dieser Gesetze kamen auch neue Vorschriften zum Thema Sexualität und Ehe, inklusive eines kurzlebigen Versuchs Homosexualität in Japan unter Strafe zu stellen. Dies war vornehmlich dadurch motiviert, vom Westen als ,,gleichwertig" gesehen werden zu wollen.

Zuletzt wurde auch das japanische Militär überarbeitet. Anstatt das Militär weiterhin auf der Samurai-Klasse aufzubauen, wurde eine Wehrpflicht für alle japanischen Männer eingeführt, um so ein stehendes Militär aufzubauen.

Zitat von: Mondfräulein am 25. März 2022, 14:32:53
Ich freue mich auf einen konstruktiven Austausch zum Thema. Ich glaube, wir können alle sehr von dieser Diskussion profitieren. Ich beantworte gerne auch ganz grundlegende Fragen zum Thema, denn jeder betritt die Diskussion mit einem anderen Wissensstand und jeder muss irgendwo anfangen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass nichts davon etwas bringt, wenn wir nicht auch an unserer eigenen Einstellung arbeiten.
Dem kann ich mich anschließen. Ich erkläre auch gerne etwas, wenn Dinge unklar sind.
 

Kaeptn

#79
Zitat von: AlpakaAlex am 25. März 2022, 16:46:50
Die Sache ist, dass die afrikanischen Länder davon - anders als vom westlichen Kolonialismus - tatsächlich profitieren, weil China ihnen eben die frühen Arbeitsschritte lässt und bezahlt, Universitäten und dergleichen baut. Das macht das Thema "China und Afrika" halt furchtbar kompliziert.

Das hat zwar nur am Rande mit dem Thema kulturelle Aneigung zu tun, aber die chinesische Regierung betreibt in meinen Augen ganz klar Wirtschaftsimperialismus, und dass die Afrikanischen Staaten am Ende viel davon haben, wage ich mal zu bewzeifeln. Die Seidenstraßen-Projekte schaffen viele Abhängigkeiten und treibt afrikanische Staaten in die Staatspleite.

Zitat aus einem Spiegel-Artikel (https://www.spiegel.de/ausland/afrika-chinas-expansion-auf-dem-kontinent-treibt-laender-in-eine-neue-schuldenfalle-a-8c2b890c-233c-4b43-9a18-1c15691355c9, leider PayWall)
ZitatSambia droht gar die Zahlungsunfähigkeit.  [...] Das kollektive Misstrauen wächst auch deshalb, weil manche auf Pump finanzierte Mammutprojekte maßlos überteuert und nutzlos sind.

Womit ich den europäischen Kolonialismus in keiner Weise schönreden und auch nicht sagen will, dass man sich deshalb chinesische Kultur aneignen darf. Nur solltest du dein Bild von der chinesischen Regierung(!) vielleicht mal überdenken. Xi Jin Ping ist ein rücksichtsloser Autokrat, dem es nur um den Nutzen für Partei und Staat geht. Von den Uiguren, Tibet oder dem Niederknüppeln der Demokratiebewegung in Hong Kong wollen wir mal gar nicht anfangen.

AlpakaAlex

Zitat von: Kaeptn am 25. März 2022, 17:25:28
Das hat zwar nur am Rande mit dem Thema kulturelle Aneigung zu tun, aber die chinesische Regierung betreibt in meinen Augen ganz klar Wirtschaftsimperialismus, und dass die Afrikanischen Staaten am Ende viel davon haben, wage ich mal zu bewzeifeln. Die Seidenstraßen-Projekte schaffen viele Abhängigkeiten und treibt afrikanische Staaten in die Staatspleite.

Womit ich den europäischen Kolonialismus in keiner Weise schönreden und auch nicht sagen will, dass man sich deshalb chinesische Kultur aneignen darf. Nur solltest du dein Bild von der chinesischen Regierung(!) vielleicht mal überdenken. Xi Jin Ping ist ein rücksichtsloser Autokrat, dem es nur um den Nutzen für Partei und Staat geht. Von den Uiguren, Tibet oder dem Niederknüppeln der Demokratiebewegung in Hong Kong wollen wir mal gar nicht anfangen.
Ich habe mich ausführlicher mit dem Thema beschäftigt und halt auch (reddit sei dank) mit Leuten aus den entsprechenden Ländern gesprochen - und halt auch Dokus gesehen, die deren Perspektive zentrieren. Und soweit muss man halt wirklich sagen, dass für die Leute aus den Ländern das Verhältnis zu China als positiv wahrgenommen wird, weil sie seither mehr Bildung, mehr Infrastruktur (v.a. auch Wasser und Strom) und bessere medizinische Versorgung haben. Und das wird eben als sehr positiv gewertet.

Und wie gesagt, absolut kein Zweifel daran, dass es China in erster Linie darum geht, zum einen billige, aber gebildete Arbeitskräfte zu haben und gleichzeitig auch noch Logistik einzusparen durch kürzere Arbeitswege. Aber es muss halt eben gesagt werden, dass soweit beide Seiten etwas davon haben - Selbst wenn China am Ende mehr davon hat.

Ich finde es in diesem Kontext halt auch super kritisch, wenn dann Leute aus kolonialistischen Ländern, die bis heute von der Ausbeutung der ehemaligen Kolonien profitieren und diese Länder auch massiv ausgeraubt haben, ohne je Reparationen zu zahlen (Frankreich lässt sich sogar von seinen Kolonien Reparationen zahlen lol), dass dann so groß kritisieren. Tbh komme ich dabei halt auch nicht drum herum, das Gefühl zu haben, dass westliche Länder vor allem Krämpfe bekommen, weil tatsächlich die ganze Sache die Verhandlungsposition der entsprechenden afrikanischen Länder für ihre Ressourcen verbessert.

Hätte es historisch gesehen so etwas wie Gerechtigkeit gegeben, hätten die kolonialistischen Länder Reparationen an ihre ehemaligen Kolonien gezahlt (und hätten diesen auch erlaubt, selbst ihre verdammten Grenzen zu ziehen, so dass nicht diverse Landstriche komplett destabilisiert worden wären ...) Dann hätten diese ehemaligen Kolonien Chancen gehabt, sich selbst technologisch aufzubauen und Wohlstand zu erlangen. Das ist jedoch nie passiert. Stattdessen wurde auch nach dem vermeintlichen Ende des Kolonialismus ausgebeutet.

Ist die Situation mit China gerade toll? Nein, ist sie nicht. Aber aus der Sicht der betroffenen ist sie eben das geringere Übel und bietet eine Chance auf eine bessere Zukunft.
 

Andersleser

#81
Einmal ganz unabhängig von der aktuellen Diskussion wollte ich mal einen Link zu einem Interview einwerfen, in dem über Kulturelle Aneignung gesprochen wird. Hier wird tatsächlich ein betroffener Mensch gefragt: warum, wieso, weshalb, und was denn nun so problematisch ist, wenn es (wie in aktuellen Medien) um eine Frisur geht. Weil es im Grunde ja um sehr viel mehr als das geht. Da wird auch ganz gut erklärt, warum eine Sache bei Person A in Richtung der Aneignung geht, bei Person B aber nicht. Weil Person A es einfach nur cool findet, sich aber null damit auseinandergesetzt hat, und Person B aber tatsächlich sich damit beschäftigt hat und supportet. Jedenfalls wollte ich das hier mal reinsetzen, weil ich denke, dass dieses Interview einem schon näherbringen kann was das Problem sein kann. Mir jedenfalls hat es tatsächlich verständlich erklären können, was bei erwähnter Frisur das Problem ist, denn mit war das so nicht klar und ich hätte es so sicher nicht so gut erklären können.
Hier der Link:
https://www.br.de/puls/themen/welt/kulturelle-aneignung-cultural-appropriation-100.html

Mondfräulein

Zum Thema finde ich auch dieses Video sehr interessant: https://www.youtube.com/watch?v=o9lLvRLjVC8 Darin werden die kulturellen und politischen Hintergründe erklärt und das ist glaube ich sehr wichtig, um zu verstehen, warum viele damit überhaupt so ein großes Problem haben.

Cairiel

#83
Ich habe lange über das Thema nachgedacht und möchte doch etwas dazu schreiben. Zunächst einmal danke fürs Hochholen und diskutieren! Ich habe alle eure Beiträge gelesen und bin mir der Thematik sehr viel bewusster geworden, als ich es vorher war. Das allein betrachte ich für mich schon als Gewinn und denke, dass es auch anderen hier so geht.

Zitat von: AlpakaAlex am 24. März 2022, 15:28:43
Also, der Machandel-Verlag hat eine ganze Reihe von Ausschreibungen zum Thema "Märchen aus Kulturkreis X" gemacht. Viele davon waren zentraleuropäische Kulturkreise und effektiv klassische europäische Märchen (Grim, Anderson und so weiter), womit es kein wirkliches Problem gibt. Dann gab es russische Märchen, was ... Hmm, dazu gleich mehr. Denn dazu habe ich meine Meinung seit letztem Jahr ein wenig geändert. Aber was eben auch dabei war, waren Chinesische Märchen und Märchen aus dem arabischen Kulturkreis.

Und genau da ist eben das Problem: Sowohl die arabische Kultur, als auch die chinesische sind Opfer des Kolonialismus. Und speziell auf dem internationalen Markt dürfen diese Kulturen sich selbst kaum ausdrücken oder über ihre eigene Kultur schreiben. Das gilt natürlich besonders auch für Deutschland. Wir haben in Deutschland kaum Geschichten von arabischen oder chinesischen Menschen, die ihre eigenen Mythen und Märchen aufarbeiten. In dieser Grundvoraussetzung dann einen Wettbewerb machen, in dem ein Publikum aus in erster Linie weißen Autor*innen dazu aufgefordert wird, sich diese Mythen und Märchen anzueignen, ist halt einfach nur sehr respektlos und eine extrem privilegierte Haltung.

Dabei hätte es halt auch coole Möglichkeiten gegeben, was damit zu machen. Man hätte halt auch gezielt arabische und ostasiatische Autor*innen anschreiben können und sie für die Antho einladen können. Das wäre richtig cool gewesen und hätte eben auch geholfen diese Autor*innen ins Rampenlicht zu rücken. (Auch wenn nicht in Bezug auf kulturelle Aneignung, weil es damit nichts zu tun hat, aber: Man denkt halt, wie bei Urban Fantasy Going Queer gezielt queere Autor*innen rausgesucht wurden.)

Ich habe übrigens mittlerweile ein wenig Bauchschmerzen mit russischen/osteuropäischen Themen, weil ... Es ist kompliziert. So gesehen waren diese Kulturen nicht von Kolonialismus betroffen, allgemein werden die Kulturen als "weiß" gelesen, aber sie werden eben dennoch auch diskriminiert. Stichwort Antislawinismus und so. (Und full disclosure: Das betrifft mich halt auch mit, weil meine Familie väterlicherseits tschechisch ist und ich mütterlicherseits halt auch mit russische Wurzeln habe.) Aber dabei ist das Machtverhältnis definitiv noch einmal ein anderes, als bei der Aneignung aus kolonialisierten Kulturen.
Ich habe nie über diese Problematik nachgedacht, deshalb erstmal danke fürs Augenöffnen. Nach reiflicher Überlegung frage ich mich aber, ob es sich bei diesen konkreten Anthologien wirklich um einen Fall von kultureller Aneignung handelt. Von dir beschriebene Fälle wie Navajo verstehe ich voll und ganz, es gibt definitiv no-go Kulturen für so ein Unterfangen. Oder no-go kulturelle Elemente, wie manche Frisuren, wie in dem Video von Mondfräuleins Link sehr gut dargestellt, um einen kurzen Schwank zu machen. Und es wäre der beste Weg gewesen, Menschen aus den jeweiligen Kulturkreisen vorher zu fragen, was sie von der Idee und später von den einzelnen Geschichten halten. Der Knackpunkt ist in meinen Augen - wen fragt man? Wer "darf" das bestimmen? In anderen Völkern gibt es bestimmt oft ebenso viele verschiedene Meinungen wie in Deutschland. Es ist natürlich ein anderer Standpunkt, da das bayerische Volk nie unterdrückt, verfolgt, diskriminiert wurde. Dementsprechend betrachte ich als Bayer das gerade sehr aus meiner Warte. Aber ich würde mich sehr unwohl fühlen, wenn ich diese Entscheidung für alle Bayer:innen treffen sollte. Und andersherum wäre ich ziemlich grantig, würde ich erfahren, dass ein anderer Bayer die Verwendung von bayerischen Kulturelementen - beispielsweise auf dem Oktoberfest, wo zumindest an den Wochenenden mehr Nicht-Bayer:Innen zumeist in Lederhosen und Dirndl herumlaufen als Ortsansässige - verbieten würde. Den würde ich fragen, "Wer bist du, dass du glaubst, für uns alle die Verwendung unserer Kultur durch Fremde verbieten zu dürfen?" - Wie gesagt, ich räume absolut ein, dass ich das vielleicht aus dem falschen Licht betrachte, da ich nicht aus einer historisch irgendwann unterdrückten Kultur stamme.

Zum Beispiel China: Es wurde hier schon viel  diskutiert, aber als jemand, der drei gute bis sehr enge chinesische Bekanntschaften hat, noch einmal ein anderer Punkt: Ich bin mir sicher, alle drei Chinesinnen, die ich näher kenne, hätten nicht das allergeringste Problem mit dieser Anthologie. Bei zweien davon bin ich mir sicher, dass sie sogar über unsere Diskussion hier den Kopf schütteln würden, nach dem Motto "Was macht ihr euch für einen Kopf, natürlich ist es okay". Die dritte kenne ich nicht gut genug, um dazu eine Aussage machen zu können. Dazu muss man sagen, während alle drei direkt aus China stammen und den Großteil ihres Lebens dort verbracht haben, sind sie sehr weltoffene und weit gereiste Menschen, was sicherlich nicht auf alle Chines:innen zutrifft.
Aber reicht das dann, um der Anthologie "die Absolution zu erteilen", oder was müsste man sonst tun? Noch mehr fragen? Und wenn von zehn Chines:innen nur eine dagegen ist und die anderen - wie ich oben - sagen, diese eine Person hätte kein Recht, der Verwendung der Märchen als Vorlage zu widersprechen? (Vorausgesetzt, die Märchen stammen aus demselben Kulturkreis wie besagte Chines:innen, China ist ja groß und hat mehr als eine Kultur).
Das gleiche auch mit Russland und den arabischen Ländern, auch von dort kenne ich Menschen, die mit Sicherheit kein Problem damit hätten. (Andersherum denke ich würde man bestimmt irgendwann einen russischen/chinesischen/arabischen Menschen finden, der der Verwendung der Märchenvorlagen widerspricht, wenn man nur lange genug herumfragt.) Ich habe mir vorgenommen, meinen sehr guten russischen Freund danach zu fragen, wenn ich ihn das nächste Mal treffe, aber ich denke, ich kenne seine Antwort - "ihr Deutschen und eure Probleme". Ich wage zu behaupten, dass das Thema "kulturelle Aneignung" in weiten Teilen der z. B. russischen, chinesischen oder arabischen Bevölkerung nicht wirklich diskutiert wird. Leider.

Wegen alledem tue ich mich schwer, diese Anthologien aus diesen Kulturkreisen als problematisch zu sehen - weil ich mir anhand meiner Erfahrungen mit Menschen aus diesen Kulturen sicher bin, dass viele von ihnen kein Problem damit hätten. Wie gesagt, der schönste Weg wäre es gewesen, wenn der Verlag vorsichtshalber nachgefragt hätte. Fragen kostet nichts und ist immer netter und respektvoller als einfach hingehen und nehmen, selbst wenn man meint, es sei okay. Man weiß es halt nicht sicher, bis man gefragt hat.
Wie gesagt, das betrifft ausdrücklich nicht alle Kulturen, siehe die ganze vorherige Diskussion.

Soly

#84
Für den gesamten folgenden Beitrag eine
CN: weiße Außenperspektive

Zitat von: Cairiel am 23. April 2022, 11:51:26
Der Knackpunkt ist in meinen Augen - wen fragt man? Wer "darf" das bestimmen? In anderen Völkern gibt es bestimmt oft ebenso viele verschiedene Meinungen wie in Deutschland.
...
Zum Beispiel China: Es wurde hier schon viel  diskutiert, aber als jemand, der drei gute bis sehr enge chinesische Bekanntschaften hat, noch einmal ein anderer Punkt: Ich bin mir sicher, alle drei Chinesinnen, die ich näher kenne, hätten nicht das allergeringste Problem mit dieser Anthologie. Bei zweien davon bin ich mir sicher, dass sie sogar über unsere Diskussion hier den Kopf schütteln würden, nach dem Motto "Was macht ihr euch für einen Kopf, natürlich ist es okay".
Das ist exemplarisch für das generelle Problem, das mit dem Begriff der Kulturellen Aneignung einhergeht. Kulturelle Aneignung beschreibt ja grob den Prozess, dass Teile einer kulturellen Identität von einer Dominanzkultur für die eigenen Zwecke genutzt, ihrer ursprünglich Bedeutung beraubt und kommerzialisiert werden. Aber nicht alle Menschen, die grundsätzlich einem Kulturkreis angehören, verstehen diese Kultur auch als Teil ihrer Identität, ergo die Nutzung eines Stücks der Kultur als Kulturelle Aneignung.

Deshalb würde ich die Frage, wer das bestimmen darf, mal ganz einfach beantworten mit: niemand.
Es ist leider nicht möglich, eine deutliche Grenze zu ziehen, was unter Kulturelle Aneignung fällt und was nicht - schon allein deshalb, weil das voraussetzen würde, dass alle Angehörigen einer bestimmten Kultur die Bedeutung und Verwendung sämtlicher Bestandteile ihrer Kultur vollkommen homogen wahrnehmen. Wenn ich etwas als Kulturelle Aneignung bezeichne, laufe ich grundsätzlich Gefahr, selbst die betreffende Menschengruppe zu homogenisieren und auf ein Label zu reduzieren.

Zitat
Aber reicht das dann, um der Anthologie "die Absolution zu erteilen", oder was müsste man sonst tun? Noch mehr fragen? Und wenn von zehn Chines:innen nur eine dagegen ist und die anderen - wie ich oben - sagen, diese eine Person hätte kein Recht, der Verwendung der Märchen als Vorlage zu widersprechen?
Ich würde sagen, das ist eine Entscheidung, die sich nicht treffen lässt. Schon gar nicht von uns Weißen, die wir nur von außen auf die Kultur und ihre Verwendung in dieser Anthologie blicken können. Und eigentlich auch nicht von den Angehörigen, zumindest nicht absolut, sondern höchstens probabilistisch.

Um zu beurteilen, ob oder dass es sich bei der Anthologie um Kulturelle Aneignung handelt, müssten wir die Bedeutung und Relevanz der verwendeten Märchen kennen, sowie den breiteren kulturellen Kontext, in dem sie geschaffen wurden und aus dem ihre Bedeutung stammt. Und wir müssten beurteilen können, inwiefern diese Märchen und ihre Bedeutung in der Identität der Angehörigen dieser Kultur verankert sind.
Das können wir nicht.

Natürlich bedeutet das nicht, dass die Anthologie völlig unproblematisch ist. Wir können sie weder verurteilen noch ihr "die Absolution erteilen". Das meine ich mit probabilistisch.
Indem die Anthologie explizit die Verwendung traditioneller chinesischer Märchen fordert, bewegt sie sich auf einem Terrain, in dem sie das Risiko besitzt, dass Menschen sich angegriffen, verletzt, oder eines Teils ihrer Identität beraubt fühlen, und indem sie genau dieses Risiko nicht adressiert, macht sie sich in meinen Augen angreifbar.
Ich denke, sobald man dieses Gebiet betritt, ist man in der Verpflichtung, dieses Risiko zu beachten und wenigstens offen anzusprechen. In meinen Augen gibt es zwei Wege, damit umzugehen:
1) Angehörige fragen, aber nicht nur "Ist das okay - ja oder nein?", weil das eben nicht ausreicht, um die Sachlage zu beurteilen. Sondern ein möglichst breites Grundwissen anrecherchieren, welche Elemente es gibt, welche Bedeutung sie haben, in welcher Beziehung sie zueinander stehen, in welchem Kontext man sie verwenden kann und nicht verwenden sollte, welche tendenziell etwas freier gehandhabt werden können, und von welchen man besser ganz die Finger lässt. Auf die Weise kann man die Wahrscheinlichkeit für eine Verletzung minimieren. Edit - Was der Verlag dem Hinweis von @Yamuri zufolge anscheinend so oder ähnlich gemacht hat!
2) nicht machen. Ich weiß, das lädt zu der Frage ein "Was darf man denn dann überhaupt noch?!!", aber es geht mir nicht um Verbote, sondern die eigenverantwortliche Entscheidung. Wenn man die Wahrscheinlichkeit sieht, Menschen aus Unwissenheit zu verletzen, aber nicht den Aufwand eingehen will, sich zu jeder Eventualität zu belesen, ist es auch eine elegante Möglichkeit, es einfach bleiben zu lassen und Leute stattdessen ranzulassen, die einen persönlichen Zugang zur betreffenden Kultur haben.
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Mondfräulein

Ich kann Solmorn da nur zustimmen. Ergänzend wollte ich nochmal einwerfen, dass es auch einen Unterschied zwischen Chines*innen gibt, die in China aufgewachsen sind und Personen, die in Deutschland aufgewachsen sind und chinesische Wurzeln haben. Ohne für eine der Gruppen sprechen zu wollen, sehe ich immer wieder, dass solche Themen in den Ländern, in denen die Kultur Teil der Mehrheitsgesellschaft ist, einen anderen Blick auf so ein Thema haben als hier in Europa oder in den USA, wo diese Kultur eben kein Teil der Mehrheitsgesellschaft ist. Ein Beispiel, das mir einfällt, ist die Debatte um das Tragen von Kimonos. In Japan selbst sehen das viele anscheinend sehr viel lockerer als japanischstämmige Personen im Westen. Aber das ist ja auch wieder nur logisch: Das Tragen eines Kimonos in Japan geschieht in einem ganz anderen Kontext als hier im Westen. Dennoch würde ich mir selbst nie anmaßen zu entscheiden, welcher Person ich jetzt glauben kann und wem nicht. Ich kann nur versuchen, möglichst viele Quellen zu konsultieren.

In den wenigstens Fällen heißt es bei diesem Thema "Nein, Weiße sollten das niemals machen". Häufig ist es eher ein "Weiße sollten das nicht machen, ohne sich der kulturellen Bedeutung bewusst zu sein" oder "Weiße sollten solchen Schmuck nur tragen, wenn sie ihn von Leuten gekauft haben, die der Kultur auch angehören". Es gibt selten ein klares "Ja" oder "Nein". Kontext ist der Grund, warum kulturelle Aneignung ein Problem ist und deshalb entscheidet Kontext häufig auch, ob es sich um kulturelle Aneignung oder kulturelle Wertschätzung handelt.

Im Fall der Anthologie würde ich aus meiner weißen Sichtweise heraus auch sagen, dass die Ausschreibung selbst eine Umgebung schafft, in der kulturelle Aneignung leicht möglich ist. Hier wäre es bestimmt sinnvoll gewesen, Personen, die den entsprechenden kulturellen Hintergrund sowie die Expertise haben, so etwas zu beurteilen, in irgendeiner Weile zu involvieren. Entweder beratend vor der Ausschreibung selbst oder zum Beispiel bei der Auswahl der Beiträge.

Aber irgendwie gibt es da ja auch einen Unterschied, was ich am Ende mit den Informationen mache. Ich informiere mich vor allem, um meine eigenen Entscheidungen zu reflektieren und einschätzen zu können. In manchen extremen Fällen kann ich vielleicht schon sagen "Das klingt problematisch" oder "Das klingt unproblematisch", aber in den meisten Fällen weiß ich auch nicht, wie ich etwas beurteilen soll. Insofern kann ich die Ausschreibung nicht abschließend beurteilen, sondern nur sagen "Das klingt, als könnte es ein Problem werden" und "Das sind die Maßnahmen, die ich vielleicht ergriffen hätte".

Yamuri

Tatsächlich sind unter den Autor:innen für die Anthologie auch solche mit ostasiatischeem Hintergrund, die aber unter Pseudonym schreiben. Es ist außerdem eine sehr gängige Praxis von Chines:innen, wenn sie in Europa leben, dass sie sich einen europäischen Vornamen zulegen. Umgekehrt wird das aber auch von Europäer:innen erwartet, die länger in China leben und dort arbeiten möchten, dass sie dann eben einen chinesischen Namen tragen und selbstverständlich auch chinesisch lernen und sprechen. Es hat nur leider niemand die Verlegerin gefragt und stattdessen wurde einfach davon ausgegangen, dass nur weil die Autor:innen europäische Namen haben, das alles Europäer:innen sein müssten. Das ist es was ich meine, wenn ich sage: redet mehr miteinander, redet direkt, am Telefon und urteilt nicht anhand oberflächlicher Annahmen. Ich habe bei der Verlegerin nachgefragt und daher weiß ich es. Außerdem ist sogar eine chinesische, sehr bekannte Agentur auf die Verlegerin zugetreten, weil sie den Verlag in Ostasien vertreten möchte. Das geschah noch vor der Anthologie und inzwischen ist auch ein Vertrag entstanden. Das weiß ich, weil die Verlegerin mich kontaktiert hatte, da sie sich zwecks der korrekten Anrede unsicher war und wusste, dass ich mich intensiv mit chinesischen Namen und Sprache auseinandersetze. Es ist also durchaus so, dass sich die Verlegerin gut informiert und nicht einfach mal macht. Aber danach wurde sie von keinem hier jemals persönlich gefragt.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Anj

Danke dir @Yamuri für diesen Beitrag, den ich nur unterschreiben kann.
Wenn wir weniger von dem schlimmsten ausgehen würden sondern mehr nachfragen würden, gäbe es so viel weniger böses Blut, Missverständnisse und falsche Annahmen, bzw. Unterstellungen.
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.

Soly

@Yamuri Okay, das ist sehr interessant und ein wirklich guter Hinweis, danke! Tatsächlich bin ich überhaupt nicht davon ausgegangen, dass ein solcher Austausch stattgefunden haben könnte, weil ich dachte, dann hätte es jemand dazugesagt, aber ich sehe jetzt auch, dass es eigentlich keinen Grund für die Annahme gab.

Dann nehme ich das hier
Zitat von: Solmorn am 25. April 2022, 14:21:13
und indem sie genau dieses Risiko nicht adressiert, macht sie sich in meinen Augen angreifbar.
zurück und behaupte das Gegenteil.

Es ist zwar nach wie vor so, dass so eine Anthologie den Raum für potentielle Aneignung aufmacht, um bei Mondfräuleins Formulierung zu bleiben, aber offensichtlich hat der Verlag das adressiert, so wie du es beschreibst.

Danke für den Hinweis!
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Evanesca Feuerblut

Das Problem ist aber: Okay, in diesem Fall sind Leute zufällig mit der Verlegerin befreundet oder haben zufällig Bonuswissen, weil sie angefragt wurden.
Aber es kann nicht erwartet werden, dass das bei jedem einzelnen Verlag es Leute gibt, die es zufällig wissen oder dass immer irgendwer schon genug Kraft, Mut und Löffel hat, um nachzufragen. Erst recht Betroffene, die für das bloße Nachfragen schon an anderen Stellen verbale Gewalt abbekommen und dann lieber das Schlimmste vermuten, weil die Gefahr dann kleiner ist, enttäuscht zu werden.
Die beste Lösung hierfür wäre Transparenz nach außen hin, dass Schritte unternommen wurden, um ein Werk so sicher wie möglich zu gestalten. Nicht nur in diesem konkreten Fall, sondern generell.
Sonst bleibt die Bringschuld, rauszufinden, ob ein Medium safe ist, wieder bei den Betroffenen/interessierten Allies hängen und das kann ja auch nicht die Lösung sein.