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Kulturelle Aneignung in Romanen

Begonnen von Nightingale, 02. Juli 2013, 21:48:54

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Mondfräulein

Teile der chinesischen Bevölkerung werden in China nicht unterdrückt oder diskriminiert (China ist ein vielfältiges Land und nicht homogen genug, um einfach zu sagen ,,Chines*innen werden in China nicht unterdrückt"). Das bedeutet aber nicht, dass das hier im Westen auch der Fall ist. Als chinesische*r Autor*in in China über chinesische Mythen zu schreiben ist nochmal etwas anderes als hier im Westen zu versuchen, einen Verlag dafür zu finden. Wenn wir hier also über den deutschen Buchmarkt reden, sollten wir uns nicht nur darauf konzentrieren, ob chinesische Autor*innen ins Deutsche übersetzt werden, sondern ob Autor*innen mit chinesischen Wurzeln auf dem deutschen Buchmarkt die Chance bekommen, ihre Geschichten zu erzählen. Die Ausschreibung eines deutschen Verlages sollten wir auch vor diesem Kontext betrachten.

Es gibt einen Unterschied zwischen kultureller Aneignung und kultureller Wertschätzung. Es geht nicht darum, dass weiße Autor*innen niemals aus anderen Kulturkreisen schöpfen dürfen. Aber ein Akt kolonialistischer Gewalt ist es auch, Teile einer Kultur zu stehlen und aus ihrem Kontext zu reißen (siehe zum Beispiel kolonialistische Raubkunst in Museen). Märchen und Mythen existieren nicht ohne Kontext. Ein Märchen einer vom Kolonialismus betroffenen Kultur zu adaptieren, ohne sich die Mühe zu machen, den kulturellen Kontext zu verstehen und es aus einer rein westlichen Sicht zu betrachten und zu adaptieren ist ein kolonialistischer Akt und hat nichts damit zu tun, eine Brücke zu bauen.

Kultureller Austausch sieht aus westlicher Sicht häufig so aus, dass wir uns einzelne Aspekte einer Kultur herauspicken und uns ohne den kulturellen Kontext, der mit ihnen verknüpft ist, einverleiben. Das ist kein kultureller Austausch auf Augenhöhe. Das was du beschreibst ist leider nicht das, was in den meisten Fällen passiert. Ja, im Ideal baut kultureller Austausch Brücken, aber die ,,Brücken" des Kolonialismus sind nicht für alle da und komplett einseitig.

Wenn ich mich in meinem Buch an Geschichten bediene, die einer Gruppe gehören, die Diskriminierung erfährt, dann ist es wichtig darauf zu achten, für wen ich schreibe. Das gilt, wenn ich eine queere Figur in meine Geschichten einbaue, wenn ich eine Figur mit einer Behinderung einbaue, wenn ich PoC einbaue, wenn ich Aspekte anderer Kulturen einbaue. Sobald ich mich an Geschichten bediene, die nicht meine eigenen sind, sollte ich versuchen, mein Buch auch für die Personen zu schreiben, deren Geschichten ich verwende. Im besten Fall finden sie sich darin wieder und ihnen gefällt die Geschichte. Mindestens aber sollte ich aufpassen, dass sie das Buch nicht verletzt. Wenn es mir egal ist, was Menschen zu sagen haben, deren Geschichten ich verwende, dann sollte ich sie einfach nicht verwenden. Ich sollte ihnen zuhören und versuchen, mein Buch so zu schreiben, dass sie es auch lesen können, ohne verletzt zu werden.

Außerdem finde ich das Narrativ schwierig, dass die Forderung nach mehr Rücksicht Rechten in die Hände spielt und zu mehr Mauern und Diskriminierung führt. Das ist nichts anderes als Victim Blaming.

Der Inspektor

#61
@Mondfräulein Damit wir nicht aneinander vorbeireden, werde ich jetzt jeden deiner Absätze als einzelne Punkte auffassen und zu jedem etwas schreiben. Das ist wahrscheinlich sinnvoller, als auf einen Monolog mit einem Monolog zu reagieren. :)

Absatz 1:
Das ist ein valider Punkt und ich stimme dir völlig zu. AlpakaAlex hat von Internationalität gesprochen, und deshalb habe ich mich ausschließlich darauf bezogen. Dass chinesischstämmige Autoren in Deutschland größere Probleme bei der Verlagssuche haben als andere, ist möglich. Darüber weiß ich aber ehrlich gesagt nicht genug, als dass ich etwas darüber sagen könnte.

Absatz 2:
Auch hier stimme ich dir zu. Sich über den kulturellen Kontext so viel wie möglich bewusst zu machen, sollte auf jeden Fall eine Voraussetzung für solche Projekte sein. Gerade in Hinblick auf Absatz 4.

Absatz 3:
Ich bin mir nicht sicher, wie du das meinst. Wie ich schon in meinem ersten Post angedeutet habe, ist eben die Übernahme und Interpretation von Teilen anderer Kulturen ein Teil von Globalisierung und kultureller Annäherung. In Berlin wimmelt es von Dönerläden, die von oder mit Deutschen betrieben werden (EDIT: genauso wie von Vietnamesen, die Sushi verkaufen oder Türken, die Pizza verkaufen - es ist ein recht zufälliges Beispiel, und es sind nicht nur speziell Deutsche, die das machen). Diese Leute haben unter Umständen wenig Ahnung von türkischer Esskultur, aber haben sie deswegen gestohlen? Richten sie damit einen Schaden an? Vielleicht ist das Bild, was sich ihre Gäste von türkischem Essen machen ein falsches, aber ist das so schlimm? Immerhin essen sie Döner, immerhin bilden sie sich zumindest ein, türkisch zu mögen. Immerhin bleibt die türkische Kultur nicht etwas Fremdes, Unbekanntes und Schlechtes. Das ist für mich kein Fall von Diebstahl, sondern eine Art, eine Brücke zu bauen. Und ebenso sehe ich das mit diesen chinesischen Märchen, aber vielleicht kommen wir hier auch nicht auf einen gemeinsamen Nenner.

Absatz 4:
Da stimme ich dir uneeingeschränkt zu. Nichts hinzuzufügen.

Absatz 5:
Victim Blaming ist für mein Verständnis, wenn ich jemandem vorwerfe, für das, was der Person zugestoßen ist, selber Schuld zu sein. Erleuchte mich bitte, inwiefern ich das getan habe. Habe ich jemandem, der diskriminiert wurde, vorgeworfen, selber daran Schuld zu sein?! Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wieso du mir so etwas vorwerfen solltest, denn es hat wirklich nichts mit dem zu tun, was ich geschrieben habe. Ich bin für mehr Rücksicht, sonst hätte ich diesen elend langen Kommentar überhaupt nicht geschrieben.
Oder hast du das geschrieben, weil du witzig findest, dass ich ein "Narrativ" kritisiert habe? Ist das ein zynischer Kommentar, den du mir noch hinterher werfen wolltest? Wenn nein, und davon gehe ich einfach mal aus, dann erklär es mir bitte. Und wenn ja, weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob wir hier auf dem Pausenhof sind oder eine ernste Debatte führen. So etwas ist einfach unangebracht.
"Ich habe die Schlimmste aller Sünden begangen, die ein Mensch begehen kann. Ich war nicht glücklich." -Jorge Luis Borges, Die Reue

Soly

@Der Inspektor ich glaube, das Problem ist nur das hier:

Zitat von: Der Inspektor am 24. März 2022, 16:55:59
Es plädiert dafür, dass Kulturen stärkere Grenzen zwischeneinander ziehen sollen. Es plädiert dafür, dass gegenseitiger Austausch außerhalb eines sehr klar begrenzten Rahmens nicht mehr möglich sein darf. Eine solche Grenzziehung ist Gott sei Dank (!!!) in einer so globalisierten Welt wie der unseren ohnehin nicht mehr möglich. Trotzdem ist das ein Narrativ was besonders politisch Rechte sehr begrüßen und das in seiner Umsetzung zu umso mehr Diskriminierung und vor allem zu mehr Entfremdung der Kulturen untereinander führt. Es führt zu einer Vertiefung der Gräben, die ich angesprochen habe, und das kann unsere Welt nicht gebrauchen.
Es geht nicht um das Ziehen von Grenzen und Gräben zwischen Kulturen. Kulturelle Aneignung zu kritisieren bedeutet ja nicht, jeglichen kulturellen Austausch zu kritisieren.
Schwierig ist nur, wenn ich Elemente einer Kultur aus dem Kontext reiße, ohne wirklich zu verstehen, was sie bedeuten. Denn dann stelle ich diese einzelnen Elemente falsch dar.
Worum es hier vor allem geht, ist die Verantwortung, dass ich andere Kulturen auf eine Weise verstehen muss, damit ich sie auch richtig darstellen kann. Ich sehe nicht, wie das Rechten in die Hände spielt - wir versuchen ja wie gesagt nicht, Grenzen zu ziehen und Kulturen voneinander zu entfremden, sondern es geht um einen kulturellen Austausch, der natürlich auch beinhaltet, gegenseitig kulturelle Elemente zu übernehmen.
Aber, das ist der einzige Knackpunkt, dieser Austausch muss auf Augenhöhe stattfinden. Was leider häufig passiert, ist, dass Elemente einer Kultur eben ohne Kontext und verfälscht dargestellt werden, und dass ist besonders heikel, wenn die eigentlichen Angehörigen dieser Kultur nicht die Möglichkeit haben, diese falsche Darstellung mit derselben Reichweite zu korrigieren. Das ist kulturelle Aneignung und sollte vermieden werden. Jede andere Art von Austausch, bei der sich Mühe gegeben wird, die Dinge richtig darzustellen, und bei der die Angehörigen der entsprechenden Kultur direkt involviert sind, ist gut und zu unterstützen.

Dein zitierter Absatz klingt so - entschuldige, wenn ich das falsch verstehe - als ob du eine direkte Ursache-Wirkung-Beziehung aufstellst zwischen der Forderung nach Austausch auf Augenhöhe und der Diskriminierung von Minderheiten. Und das wäre tatsächlich eine Art von Victim Blaming, wenn du behaupten würdest, wenn Minderheiten eine Plattform für die Darstellung der eigenen Kultur fordern, verursachen sie ihre eigene Diskriminierung.
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Der Inspektor

Okay, @Solmorn, danke für die Vermittlung.

Im Kontext der Nachricht aus der du das zitierst, wundert es mich, dass das tatsächlich aus meinen Worten hervorgehen kann. Ich glaube es ist klar, dass ich so eine Ursache-Wirkung-Beziehung nicht aufstelle. Natürlich führt die Forderung nach mehr Repräsentation nicht zu mehr Diskriminierung, mein Gott... Ganz ehrlich, sollte jemand ernsthaft glauben, dass ich das behaupte, und sollte das tatsächlich alles sein, was von meinem langen Versuch etwas so gut wie möglich abzuwägen und darzustellen hängengeblieben ist, bitte ich die Person inständig, sich den ganzen Post erneut sorgfältig durchzulesen oder mich im allerschlimmsten Zweifel privat anzuschreiben. Aber ich glaube eigentlich wirklich nicht, dass das nötig ist.
"Ich habe die Schlimmste aller Sünden begangen, die ein Mensch begehen kann. Ich war nicht glücklich." -Jorge Luis Borges, Die Reue

AlpakaAlex

@Der Inspektor Es ist eben, wie die anderen schon richtig sagen. Kultureller Austausch setzt Augenhöhe voraus - diese ist aber in den besprochenen Fällen und vielen anderen Fällen nicht gegeben. Denn westliche Kultur und diese entsprechenden Kulturen begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Es ist ein Machtgefälle vorhanden zwischen der westlichen Kultur und der angeeigneten Kultur. Das zeichnet sich auch daran aus, dass in solchen Fällen in der Regel die angeeignete Kultur keinerlei positive Folgen davon trägt - eher im Gegenteil: Nur negative.

Um einmal den Punkt auszuführen: Wenn weiße Autor*innen Geschichten - spezifisch vor allem schlecht recherchierte - Geschichten über andere Kulturen schreiben, bedeutet das für Angehörige dieser Kulturen meist:

  • Dass ihre Geschichten über ihre eigenen Kulturen nicht veröffentlicht werden - immerhin gibt es ja schon Geschichten darüber auf dem Markt
  • Dass Menschen, die nicht der Kultur angehören, falsche Dinge über diese Kultur lernen - schlimmstenfalls soweit gehend, dass weiße Menschen meinen, sie über ihre Kultur korrigieren zu müssen
  • Dass etabliert wird, dass andere Menschen aus ihrer Kultur finanziell profitieren können
  • Man darf zuletzt auch nicht vergessen: Gerade für diejenigen, die eine Enge verbindugn zu ihrer Kultur haben und häufig in ihrer Kindheit Mobbing darüber erfahren, empfinden es häufig als (re)traumatisierend, wenn sich dann eine weiße Person derweil darüber profilieren kann

Wir müssen außerdem sehen, dass das, was wir als "Globalisierung" bezeichnen, letzten Endes nichts anderes ist als Kolonialismus 2.0 - am Ende profitieren in der Globalisierung vor allem westliche Firmen von der Ausbeutung nicht westlicher Länder und vor allem des globalen Südens. Sei es die Ausbeutung der Natur (Bodenschätze usw.) oder eben auch der Arbeitskraft dort. Um es ganz deutlich zu sagen: Der globale Süden profitiert nicht wirklich davon. Eher im Gegenteil: Er verliert. Mit eben einigen wenigen Einzelpersonen als Ausnahmen.

Und ja, es gibt ein paar Szenarien, die kulturelle Aneignung abschwächen können. Eben dann, wenn Leute aus den Kulturen mit profitieren können. Das kann bei Büchern durch bezahlte Sensitivity Readings und Sensitivity Beratung sein. Das kann bei großen Filmprojekten o.ä. auch Gewinnanteile sein (wie bspw. bei Moana und Frozen 2). Aber selbst in dem Fall sollte man eben schon sicher sein, dass man dann auch seinen etwaigen Einfluss dazu verwendet, eine Plattform für Autor*innen/Künstler*innen aus der etwaigen Kultur zu bieten.

Das hieße jetzt bspw. auf den Verlag bezogen: Hätten sie Sensitivity Reader verwendet und hätten sie vielleicht auch geschaut, Geschichten/Romane von Leuten aus den etwaigen Kulturen zu veröffentlichen, dann könnte man sagen, dass es zumindest neutral zu bewerten ist ... Aber soweit ich weiß, ist nichts von beidem passiert.
 

Der Inspektor

#65
@AlpakaAlex Es ging um die chinesische Kultur, und diese befindet sich, wie ich schon geschrieben habe, eben sehr wohl auf Augenhöhe mit der unseren. Es ging nicht etwa um die Navajo-Kultur, bei der das ganz klar anders ist. Ansonsten stimme ich dir zum größten Teil zu und gehe jetzt schlafen.  :)
"Ich habe die Schlimmste aller Sünden begangen, die ein Mensch begehen kann. Ich war nicht glücklich." -Jorge Luis Borges, Die Reue

Mondfräulein

Ich würde an dieser Stelle lieber auf ein paar Artikel verweisen, die das sehr viel besser erklären, als ich es je könnte. Das Thema ist einfach sehr komplex und voller Nuancen.

Der Podcast Rice & Shine beschäftigt sich in einer Folge speziell mit dem Thema kulturelle Aneignung und Essen: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-06/asiatisches-essen-kulinarik-kulturelle-aneignung-rice-and-shine-podcast

Diese beiden Artikel beschäftigen sich nicht direkt mit kultureller Aneignung im Kontext von Literatur, aber ich glaube, dass sie einem ein gutes Verständnis davon geben, was eigentlich das Problem an kultureller Aneignung allgemein ist:
https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/07/
https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/31/welcher-zusammenhang-laesst-sich-zwischen-kultureller-aneignung-und-kulturellem-erbe-mit-blick-auf-die-gegenwart-und-koloniale-kontinuitaeten-herausarbeiten-am-beispiel-der-benin-bronzen

Ebenso will ich nochmal etwas weiter ausholen und ein Negativbeispiel anbringen, weil dann glaube ich verständlicher ist, was ich meine. Als Beispiel nehme ich dafür die Darstellung von Nagini aus den neuen Harry Potter Spin Off Filmen.

In der Originalreihe ist Nagini einfach nur eine Schlange, genauer genommen eine Boa Constrictor (glaube ich zumindest, auf jeden Fall eine große Würgeschlange), die normalerweise in Südamerika beheimatet ist. Sie ist das Haustier des Antagonisten Voldemort. In den Spin Off Filmen wird enthüllt, dass Nagini ein Maledictus ist, eine Frau, auf der ein Blutfluch landet, der sie irgendwann in ein Monster verwandeln wird, sie kann dem Fluch nicht entkommen. Er wird von Mutter zu Mutter weitergegeben. Sie wird in einem Zirkus als Attraktion gefangen gehalten. Nagini wird im Film von einer koreanischen Schauspielerin gespielt. Die Autorin hat enthüllt, dass Nagini auf einem indonesischen Mythos beruht. Dort gibt es die Naga, ein Schlangenwesen bzw. eine Schlangengottheit, zu der es verschiedene Darstellungsformen gibt. Dieser Mythos gibt es in Indonesien, er stammt aber ursprünglich aus Indien.

Es gibt so viele Probleme mit der ganzen Sache, dass ich wahrscheinlich nicht alle aufzählen kann. Erst einmal haben wir eine koreanische Schauspielerin, einen indonesischen Mythos und einen indischen Namen. Asien ist groß und ein rassistisches Stereotyp ist es, so zu tun, als wäre Asian ein Monolith und kein großer Kontinent mit vielen verschiedenen Kulturen. Außerdem hat der eigentliche Naga-Mythos gar nichts mit dem zu tun, was die Autorin im Film daraus macht. Die einzige asiatische Frau im Film ist jemand, der dazu verdammt ist, zur treuen Dienerin und zum Besitz eines bösen, weißen Mannes zu werden, was weitere rassistische Stereotype bedient. Nagini hat mit dem Naga-Mythos letztendlich aber auch nicht mehr viel gemeinsam. Die Autorin hat den Namen des Mythos benutzt und einfach gemacht, was sie wollte. Sie hat sich nicht mit der Kultur auseinandergesetzt, aus der der Mythos kommt (und mit dem Mythos auch nicht so wirklich), sondern einfach das genommen, was ihrem Zweck dient, ohne sich der Problematiken bewusst zu werden, und auch noch eine ganze Menge Rassismus hinzugefügt.

Folgende Artikel habe ich darüber gelesen, falls sich jemand weiter informieren möchte:
https://scroll.in/article/896331/with-her-nagini-casting-twist-jk-rowling-has-once-again-ignored-history-and-chosen-appropriation
https://www.slj.com/story/the-trouble-with-nagini-accusations-racism-new-fantastic-beasts
https://bookriot.com/naginis-portrayal-as-an-east-asian-woman-is-deeply-problematic
https://theswaddle.com/the-faux-progressivism-of-j-k-rowling

Das Problem ist, dass wir erkennen müssen, dass wir hier nicht auf Augenhöhe diskutieren. Das ist ja der ganze Punkt. Es redet niemand von kultureller Aneignung, wenn britische Autor*innen einen deutschen Mythos adaptieren oder anders herum. @AlpakaAlex hat das schon sehr gut erklärt. Diese Augenhöhe müssen wir erst einmal versuchen wiederherzustellen. In unserer westlichen Kultur ist kulturelle Aneignung stark normalisiert, deshalb ist es umso wichtiger, dass wir Angehörigen marginalisierter Gruppen zuhören.

Das Thema ist insgesamt sehr komplex und hat viele Nuancen. Man kann nicht pauschal sagen "Das geht und das nicht". Es kommt immer auf den Kontext an. Wichtig ist aber, dass wir diese Debatte zulassen und dass wir versuchen, unsere Perspektive zu ändern und zu lernen, unsere weißen Denkstrukturen abzulegen. Damit meine ich zum Beispiel die Ignoranz gegenüber der Problematik, dem Beharren auf einer weißen Deutungshoheit, den Trotzreaktionen darauf, wenn man falsch liegt. Weiße Menschen (ich schließe mich da mit ein) neigen zu oft dazu, Diskriminierung erstmal zu leugnen, nur weil sie uns persönlich noch nie verletzt hat.

Vielleicht würde es helfen, in diesem Thread mehr Beispiele mit Einordnungen von PoC zusammenzutragen? Es gibt ja mittlerweile sehr viele Artikel und Stimmen zum Thema, besonders im englischsprachigen Bereich. Ich finde es immer leichter, das Thema zu verstehen, wenn es anhand von konkreten Beispielen erklärt wird. Dann wird auch klar, dass es nicht um pauschale Verbote aka "niemand darf je wieder Reis essen" geht.

Zitat von: Der Inspektor am 24. März 2022, 22:44:46
Victim Blaming ist für mein Verständnis, wenn ich jemandem vorwerfe, für das, was der Person zugestoßen ist, selber Schuld zu sein. Erleuchte mich bitte, inwiefern ich das getan habe. Habe ich jemandem, der diskriminiert wurde, vorgeworfen, selber daran Schuld zu sein?! Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wieso du mir so etwas vorwerfen solltest, denn es hat wirklich nichts mit dem zu tun, was ich geschrieben habe. Ich bin für mehr Rücksicht, sonst hätte ich diesen elend langen Kommentar überhaupt nicht geschrieben.
Oder hast du das geschrieben, weil du witzig findest, dass ich ein "Narrativ" kritisiert habe? Ist das ein zynischer Kommentar, den du mir noch hinterher werfen wolltest? Wenn nein, und davon gehe ich einfach mal aus, dann erklär es mir bitte. Und wenn ja, weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob wir hier auf dem Pausenhof sind oder eine ernste Debatte führen. So etwas ist einfach unangebracht.

Zitat von: Der Inspektor am 25. März 2022, 00:01:02
Im Kontext der Nachricht aus der du das zitierst, wundert es mich, dass das tatsächlich aus meinen Worten hervorgehen kann. Ich glaube es ist klar, dass ich so eine Ursache-Wirkung-Beziehung nicht aufstelle. Natürlich führt die Forderung nach mehr Repräsentation nicht zu mehr Diskriminierung, mein Gott... Ganz ehrlich, sollte jemand ernsthaft glauben, dass ich das behaupte, und sollte das tatsächlich alles sein, was von meinem langen Versuch etwas so gut wie möglich abzuwägen und darzustellen hängengeblieben ist, bitte ich die Person inständig, sich den ganzen Post erneut sorgfältig durchzulesen oder mich im allerschlimmsten Zweifel privat anzuschreiben. Aber ich glaube eigentlich wirklich nicht, dass das nötig ist.

Das war kein zynischer Kommentar und definitiv nicht witzig gemeint. Ich erkläre dir das gerne und ich kann am Ende natürlich nicht sagen, ob du es so gemeint hast oder nicht. Aber ich habe es aus deinem Beitrag herausgelesen und Solmorns Gedanken gehen in eine ähnliche Richtung. Insofern würde ich dich auch bitten, meine Kritik an deiner Formulierung nicht so einfach wegzuwischen.

Zitat von: Der Inspektor am 24. März 2022, 16:55:59
Du fragst dich vielleicht, wieso ich mich für diesen Punkt so sehr einsetze. Bin ich einfach spitzfindig? Nein, ich mache das, weil mir dieses Narrativ unglaublich zuwider ist. Es plädiert dafür, dass Kulturen stärkere Grenzen zwischeneinander ziehen sollen. Es plädiert dafür, dass gegenseitiger Austausch außerhalb eines sehr klar begrenzten Rahmens nicht mehr möglich sein darf. Eine solche Grenzziehung ist Gott sei Dank (!!!) in einer so globalisierten Welt wie der unseren ohnehin nicht mehr möglich. Trotzdem ist das ein Narrativ was besonders politisch Rechte sehr begrüßen und das in seiner Umsetzung zu umso mehr Diskriminierung und vor allem zu mehr Entfremdung der Kulturen untereinander führt. Es führt zu einer Vertiefung der Gräben, die ich angesprochen habe, und das kann unsere Welt nicht gebrauchen.
Ich werfe dir natürlich nicht vor, dass du das möchtest. Im Gegenteil weiß ich, dass du für das Gegenteil kämpfen willst, aber es ist trotzdem sinnvoll manchmal Dinge zu hinterfragen, für die man argumentiert. Kulturelle Vermischung und das gegenseitige Aufgreifen kultureller Elemente ist nicht an sich falsch oder schlecht.

Du unterstellst erst einmal, dass es darum geht, stärkere Grenzen zwischen den Kulturen zu ziehen. Das ist falsch. Erst einmal herrscht, wie schon erklärt, ein Machtgefälle. Eine Kultur bedient sich häufig von einer anderen, durch den Kolonialismus ist besagtes Machtgefälle entstanden. Dadurch können Angehörige der Kultur zum Beispiel nicht mehr so von ihrer Kultur profitieren, Weiße dafür aber schon (z.B. Inder*innen werden für das Tragen eines Bindis angefeindet, bei Weißen gilt das als Boho und chick; Weiße nehmen ein traditionell asiatisches Gericht und tun so, als hätten sie es neu erfunden oder als hätten sie es verbessert und machen dabei die asiatische Küche schlecht; massenproduzierter Schmuck traditioneller Machart überflutet den Markt und macht es Angehörigen der Kultur schwer, ihren eigenen Schmuck zu verkaufen; Kulturen werden als Faschingskostüm dargestellt, rassistische Stereotype werden verstärkt; koloniale Raubkunst füllt die Museen ohne dass über Kontext der Beschaffung oder die Kultur hinter den Artefakten aufgeklärt und informiert wird). Das Bild einer Grenze geht von zwei gleichberechtigten Kulturen aus, die sich nicht vermischen sollen. Vielmehr geht es aber darum, dass eine Kultur sich Aspekte einer anderen einverleibt und sie stiehlt. Es geht also letztendlich um Schutz und Respekt.

Das hat auch nichts damit zu tun, dass kultureller Austausch nicht mehr stattfinden soll, denn der setzt ja eine Gleichberechtigung voraus. Eine Kultur nimmt und die andere bekommt nichts davon zurück. Man kann nicht von kulturellem Austausch reden, wenn einer Kultur eigentlich überhaupt nicht zugehört wird. Es geht nicht darum, dass kultureller Austausch unterbunden werden soll, denn der Austausch, von dem du redest, findet überhaupt nicht statt. Das führt somit auch nicht zu Entfremdung, denn wie, wenn einer Kultur nicht zu gehört wird? Durch den Kolonialismus ist sie schon entfremdet, weil sie dehumanisiert wurde, weil sie vieler Dinge beraubt wurde, unter anderem ihrer Stimme. Der "kulturelle Austausch", den wir hier kritisieren, betrachtet und wertet andere Kulturen grundsätzlich durch eine westliche Linse, ohne ihre Perspektiven mit einzubeziehen und das ist ja das ganze Problem daran.

Das Victim Blaming findet hier statt, weil du einerseits aus irgendeinem Grund entschieden hast, das mit rechten Strömungen zu vergleichen, was ich ziemlich unmöglich finde, denn um all das, wovon du hier redest, geht es ja wie gesagt nicht. Du verstehst völlig falsch, was das eigentliche Ziel dahinter ist und negierst die Problematik, die wir versuchen zu erklären. Letztendlich schließt du mit:

Zitat von: Der Inspektor am 24. März 2022, 16:55:59
Trotzdem ist das ein Narrativ was besonders politisch Rechte sehr begrüßen und das in seiner Umsetzung zu umso mehr Diskriminierung und vor allem zu mehr Entfremdung der Kulturen untereinander führt. Es führt zu einer Vertiefung der Gräben, die ich angesprochen habe, und das kann unsere Welt nicht gebrauchen.

Du sagst direkt, dass "das Narrativ" in seiner Umsetzung zu mehr Diskriminierung führt. Wir sprechen davon, dass PoC gerne weniger kulturelle Aneignung hätten, grob gesagt. Und du unterstellst, dass das zu mehr Diskriminierung führt, gibst also den Opfern die Schuld.

Bezüglich China: In Deutschland sind Menschen mit chinesischen Wurzeln eine von Marginalisierung und Diskriminierung betroffene Minderheit. Man kann diese Problematik nicht immer nur aus globaler Perspektive betrachten, weil das außer acht lässt, dass die Situation in jeder Kultur unterschiedlich ist. In China selbst gibt es diese Problematik vielleicht nicht, hier aber schon und weil wir hier im Forum vor allem über den deutschen und nicht den chinesischen Buchmarkt diskutieren, weiß ich nicht, warum das jetzt so relevant für die Diskussion ist.

AlpakaAlex

Das stimmt schlicht und ergreifend nicht. KEIN EINZIGES nicht-weißes Land ist auf Augenhöhe mit dem Westen. Selbst Japan nicht, was wortwörtlich das einzige nicht-weiße Land war, dass tatsächlich nie in irgendeiner Form Opfer des Kolonialismus wurde und im Gegenteil selbst kolonialisiert hat und anders als China sogar einen sehr großen kulturellen Export hat.

Es ist eigentlich sehr einfach: Stell dir zwei Fragen. 1) Ist das Land negativ vom Kolonialismus betroffen gewesen? 2) Leiden heute Leute mit Abstammung aus dieser Kultur an Rassismus/systemischer Diskriminierung? (Bonuspunkt, wenn vor allem auch das Ausleben ihrer Kultur mit Diskriminierung verbunden wird.) 3) Wird das Land heute weiterhin von westlichen Staaten ausgenutzt?

An sich reicht schon ein "Ja", um dir sicher sein zu können, dass kein Austausch auf Augenhöhe möglich ist. Im Bereich China kannst du allerdings alle drei mit "Ja" beantworten.

Ich würde dir an dieser Stelle echt einmal anraten, einigen in Deutschland lebenden, chinesischstämmigen Personen zuzuhören. Und vielleicht dein Wissen über Kolonialismus in Asien, speziell Ostasien ein wenig aufzupolieren. Denn auch wenn China größtenteils (abseits von ein paar Inseln) nie eine westliche Kolonie war, wurde China massiv negativ vom Kolonialismus beeinflusst.

EDIT: @Mondfräulein hat mich geploppt und sehr viele gute Links gegeben.
 

Der Inspektor

Ich widerstehe jetzt mal dem Drang, noch einmal lang und breit auszubreiten was meine Position ist, denn so kommen wir nicht weiter. Ich möchte niemandem absichtliches Unverständnis unterstellen, also gehe ich davon aus, dass wir offensichtlich einfach extrem weit aneinander vorbeireden, und das tut mir sehr leid zu sehen. Ich habe ursprünglich nicht geschrieben, weil ich jemandem kategorisch widersprechen wollte, sondern weil ich ich im großen und ganzen zustimme und nur in bestimmten Punkten nicht mitgehen kann. Es ging mir nicht um Grundsatzfragen bzgl. klischeehaften und/oder rassistischen Bezügen in westlicher Popkultur (Harry Potter-Beispiel von @Mondfräulein), sondern ausdrücklich darum, dass eine Ausschreibung für chinesische Märchen als rassistisch bezeichnet wurde. Das war die Grundlage meiner Nachricht, und dagegen habe ich versucht zu argumentieren. Leider führt das nicht dazu, dass jemand gewillt wäre, noch einmal ein bisschen seine offenbar vorgefertigte und unveränderliche Meinung zu reflektieren, sondern vielmehr, dass sich Leute einschalten, die mir sofort das erstbeste vorwerfen, was ihnen einfällt. Dass ich Victimblaming betreiben soll, ist, und ich sage es hier ganz deutlich, wirklich eine Frechheit und ein Missbrauch dieses Begriffs sondergleichen. Ich habe den Argumentationsgang von @Solmorn nachvollzogen, aber es ist ein derart verschwurbelndes Verständnis meiner Position, dass es mich wirklich fassungslos zurückgelassen hat.
Naja, aber letzten Endes "geht es ja gar nicht um das, was Der Inspektor sagt", und insofern ist es sowieso besser, wenn ich den Mund halte und mich mal informieren gehe. Das ist ohnehin das Beste Argument gegen Kritik. Putin führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Darum geht es doch gar nicht. Es ist eine Friedensaktion, hat er selber gesagt.

Um meiner psychischen Gesundheit willen werde mich nicht mehr zu diesem Thema äußern. Es war ein Fehler zu denken, dass man hier argumentativ tatsächlich weiter kommen könnte. Scheinbar ist das im Tintenzirkel nur (noch?) sehr begrenzt möglich, und das ist sehr schade.
"Ich habe die Schlimmste aller Sünden begangen, die ein Mensch begehen kann. Ich war nicht glücklich." -Jorge Luis Borges, Die Reue

Mondfräulein

Ich habe dir erklärt, wo ich in deinem Beitrag Victim Blaming lese. Ich glaube dir, dass du das vielleicht nicht aussagen wolltest, aber so ist es nunmal rübergekommen. Anstatt dass du einsiehst, dass du den Post vielleicht schlecht formuliert hast (aka nicht so, wie du ihn meintest) bist du jetzt sauer, dass man dir so etwas unterstellen könnte und schon wieder geht es nur um die Gefühle der Person, die verletzt und angegriffen hat, anstatt um die Gefühle der Personen, die von so einem Statement angegriffen und verletzt wurden. Du schmetterst meine Kritik an deinem Post ab und wirfst mir vor, dass ich dir einfach das erstbeste vorwerfe, was mir einfällt und versuchst so, meine ganze Argumentation und Absicht zu diskreditieren, anstatt wirkliche Argumente vorzubringen. Es geht mir nicht darum, dass ich etwas Schlechtes in deinem Post lesen will. Ich hätte auch viel mehr Lust auf einen konstruktiven Austausch. Aber vielleicht könntest du mal darüber nachdenken, dass nicht immer die anderen gemein und unfair sind, wenn sie deinen Post nicht so verstehen, wie du ihn verstanden haben willst. Vielleicht kann man ja wirklich etwas Victim Blaming aus deiner Formulierung herauslesen. Aber wenn du nicht verstehen willst, warum das so ist, wirst du denselben Fehler wahrscheinlich immer wieder machen und das finde ich schade.

Du bist mit der Intention in den Thread gekommen, um unsere "vorgefertigten" und "unveränderlichen" Meinungen zu ändern und ums zum Reflektieren zu bringen, aber du bist selbst nicht bereit, deine eigene Meinung und deine eigenen Formulierungen zu reflektieren. Du schlägst beleidigt um dich, anstatt einen Schritt zurückzutreten und darüber nachzudenken, ob du das vielleicht doch doof formuliert hast. Ich bin immer bereit meine Meinung zu ändern und anzupassen, aber keins deiner Argumente ist wirklich gut genug dafür und ehrlich gesagt habe ich all diese Argumente schon gehört. Ich beschäftige mich nicht erst seit gestern mit dem Thema und keines deiner Argumente ist neu, deine Argumentationsstruktur ist nicht neu, deine Trotzreaktion ist nicht neu.

Das Problem mit der Ausschreibung ist, dass sie zu Cultural Appropriation einlädt. Ja, vielleicht waren da letztendlich auch ein paar gute Beiträge dabei, aber erfahrungsgemäß auch sehr viel Mist. Das Problem ist, dass sich der Verlag in diesem Fall der Problematik bewusst sein sollte, bevor er die Ausschreibung beginnt. Er hätte zum Beispiel chinesischstämmige Autor*innen bevorzugen oder gezielt anschreiben können, denn ihre Geschichten zu veröffentlichen hätte wirklich eine Brücke zwischen den Kulturen gebaut. Er hätte in der Ausschreibung auf die Problematik aufmerksam machen können, um zumindest zu zeigen, dass er sich ihrer bewusst ist. Stattdessen sieht es wie eine Einladung zu Cultural Appropriation aus und ehrlich gesagt schreckt das ab. Für mich sieht das aus, als hätte sich der Verlag nicht genug mit der Thematik auseinandergesetzt und das lässt darauf schließen, dass die Beiträge dementsprechend ausgewählt werden. Selbst wenn ich als Autorin eine richtig gute und unproblematische Geschichte hätte, würde ich sie nicht einreichen, denn ich müsste Angst haben, dass sie neben ziemlich problematischen Geschichten erscheint.

AlpakaAlex

@Der Inspektor Ich finde es halt schon auf gewisse Art sehr ironisch, dass du von Mangelnder Reflektion sprichst, während du hier selbst so deutlich so absolut unwillens bist zu reflektieren. Nein, es ist nicht etwa so, als ob du dich blöd ausgedrückt hättest, nein, natürlich sind alle anderen Schuld, dass sie deine Beiträge falsch interpretieren. Merkst du das wirklich nicht? Merkst du nicht, wie unreflektiert du bist?

Sowohl @Mondfräulein, als auch ich, haben uns mit dem Thema Kulturelle Aneignung und Kolonialismus wirklich tiefergehend beschäftigt - auch soweit, dass wir vor allem Texte von Betroffenen zu dem Thema gelesen und uns mit Betroffenen unterhalten haben. Ich persönlich habe Bücher um Bücher über den Kolonialismus und seine Folgen gelesen und wie diese Folgen bis heute anhalten.

Natürlich bin ich durchaus bereit, meine Meinung zu überdenken. Wenn man mir gute Argumente bringt. Die hast du nicht gebracht. Dein Argument lässt sich reduzieren auf: "China ist davon nicht betroffen, weil ich das so sage!" Und es tut mir leid, dir das so mitteilen zu müssen: Aber das Argument ist sehr, sehr schwach.
 

Mindi

#71
Ich glaube, China ist ein schwieriges Thema. Ich will nicht behaupten, dass wir durch die Weltmachtstellung, die China mittlerweile hat, berechtigt sind, uns an ihrer Kultur zu bedienen. Das eine ist die Regierung, das andere die Menschen und ihre Identität.

China ist heute ein global Player und zu einer ernstzunehmenden Großmacht geworden. Heute ist die chinesische Wirktschaft dem Westen schon in vielen Bereichen eine Naselänge voraus. Viele unserer Industriezweige sind abhängig von Vorprodukten aus China. Um ehrlich zu sein sehe ich uns als abhängiger von China als anders herum. Chinas Wirtschaft verleitet dazu, sie auf Augenhöhe zu betrachten, da immer mehr Länder der Welt wirtschaftliche Abhängigkeiten zu China haben und China seit Jahren (oder schon Jahrzehnten?) quasi afrikanische Länder kolonialisiert. (Infrastruktur und Unterstützung gegen Rohstoffe)

Ich will nicht behaupten, dass wir uns der chinesischen Kultur bedienen dürfen (dürfen wir nicht), nur weil sie heute wirtschaftlich auf der Überholspur sind. China ist mehr als seine (Produktions-)Großstädte. China ist mehr als eine Regierung, gerade wenn wir ihnen das "nehmen", was vor allen den Menschen "gehört", die (noch) nicht vom Wirtschaftswachstum profitieren: Die Menschen und ihre Wurzeln, ihren Glauben, ihre Legenden und Mythen.

Keine Ahnung, was ich damit sagen will. Ehrlich nicht. Ich finde einfach nur, dass China ein schwieriges Beispiel ist und dass wir das Land auch nicht in einem historischen Vakuum betrachten betrachten können. Nicht, wenn das Land, dass einst Opfer der Kolonialisierung war, heute selbst Länder wirtschaftlich kolonialisiert.


Eine Rückfrage @AlpakaAlex bezüglich dieser Aussage:
ZitatSelbst Japan nicht, was wortwörtlich das einzige nicht-weiße Land war, dass tatsächlich nie in irgendeiner Form Opfer des Kolonialismus wurde und im Gegenteil selbst kolonialisiert hat und anders als China sogar einen sehr großen kulturellen Export hat.
China wurde u-a. von den Europäern kolonialisiert, aber ich mag mich falsch erinnern - aber wurde Japan nicht auch einst von der USA und den Engländern kolonialisiert, vor der Meiji Ära? Bis sie selbst angefangen hatten vor allen ihre Grenzen zu kolonialisieren?
"When we are asleep in this world, we are awake in another." - Salvador Dalí

Mondfräulein

Ich will ergänzend nochmal erklären, warum mich solche Diskussionen manchmal so frustrieren. Weiße Menschen reagieren oft mit eine starken Abwehrhaltung, wenn sie mit Rassismus konfrontiert werden. Zum Thema empfehle ich dieses Interview mit Robin DiAngelo, denn da wird das besser erklärt, als ich es je könnte: https://www.zeit.de/campus/2018-08/rassismus-dekonstruktion-weisssein-privileg-robin-diangelo Ich bin weiß und ich kenne diese Abwehrhaltung auch von mir selbst. Das abzulegen ist viel Arbeit. Ich bemerke diese inneren Widerstände bei mir immer noch, wenn es um Themen geht, die mich nicht betreffen, sei es Rassismus, sei es Transfeindlichkeit, sei es Ableismus. Instinktiv will ich an meinen bisherigen Ansichten und meinem bisherigen Verständnis der Welt festhalten. Meine eigenen Widerstände zu überwinden ist für mich immer noch Arbeit, aber es hilft ungemein, dass mir das jetzt bewusst ist und ich bereit bin, mir diese Arbeit zu machen. Ich hinterfrage mich: Wird da gerade wirklich zu viel von mir verlangt oder wehren sich meine erlernten Denkmuster gegen Neuerung? Ist das jetzt wirklich überzogene Kritik oder bin ich nur nicht bereit, meine bisherigen Ansichten zu ändern? Es hilft mir auch, wenn ich mir klar mache, dass ich nichts für meine erlernten Denkmuster kann, ich kann nur etwas dafür, wie ich damit umgehe, wenn ich mit neuen Perspektiven konfrontiert werde. Es ist nicht meine Schuld, dass ich in einer von Rassismus und Kolonialismus geprägten Welt aufgewachsen bin, es ist nur meine Schuld, wie ich damit umgehe. Ich kann nicht ändern, wie ich in der Vergangenheit gedacht und mich verhalten habe, ich kann nur ändern, wie ich in Zukunft damit umgehe.

In Diskussionen zu diesem Thema stößt man immer wieder auf dieselben Argumente. Es ist manchmal mühselig, sich immer zu wiederholen, aber ich rede hier ja auch aus einem bestimmten Grund über diese Themen. Erklärarbeit ist Arbeit, sie kostet Zeit und Energie. Ich bin an dem Punkt, an dem ich bin, weil andere sich die Arbeit gemacht haben, mir diese Dinge zu erklären. Ich merke auch, dass mir diese Erklärarbeit deutlich schwerer fällt, wenn es um Themen geht, die mich persönlich betreffen. Ich möchte mein Wissen weitergeben, um anderen zu helfen, die diese Themen wirklich verstehen wollen, so wie Wissen an mich weitergegeben wurde, ich möchte Fragen beantworten, wo ich es kann, und auf entsprechende Ressourcen verweisen, wo ich es nicht kann. Außerdem ist es leider so, dass Weiße am liebsten Weißen zuhören, wenn es um Rassismus geht. Das möchte ich nutzen, um anderen Weißen zu sagen: Hört auf die Betroffenen. Hört auf PoC. Hört ihnen zu und hinterfragt euch selbst. Wenn ich dabei helfen kann, dann tue ich es gerne.

Der Punkt, an dem es für mich wirklich frustrierend wird, ist wenn man in der Diskussion an einen Punkt kommt, an dem eine konstruktive Diskussion endet und der Widerstand gewinnt. Weil dann eben nicht mehr zugehört sondern nur noch abgewehrt wird. Dann kommt man mit Argumenten nicht mehr weiter, egal wie gut und stichhaltig sie sind. Das ist frustrierend, weil ich genau weiß, dass ich an diesem Punkt nichts mehr ausrichten kann. Mein Gegenüber muss seine*ihre inneren Widerstände selbst überwinden. Ich kann das nicht für sie*ihn übernehmen.

Insofern: Ich erkläre so etwas eigentlich gerne und ich helfe weiter, wenn ich das Gefühl habe, mein Gegenüber hört mir zu, zieht meine Argumente in Betracht und möchte etwas lernen. Aber wenn man auf diesen Widerstand stößt und mein Gegenüber nicht bereit ist, sich selbst zu hinterfragen und darüber nachzudenken, wird es schnell frustrierend, auch für mich. Und natürlich lerne ich selbst noch dazu. @AlpakaAlex hat zum Beispiel alleine in dieser Diskussion viele gute Punkte genannt, die mir selbst vorher noch nicht so bewusst waren.

Ich freue mich auf einen konstruktiven Austausch zum Thema. Ich glaube, wir können alle sehr von dieser Diskussion profitieren. Ich beantworte gerne auch ganz grundlegende Fragen zum Thema, denn jeder betritt die Diskussion mit einem anderen Wissensstand und jeder muss irgendwo anfangen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass nichts davon etwas bringt, wenn wir nicht auch an unserer eigenen Einstellung arbeiten.

Tasha

Ich habe mal eine grundlegende Frage. Und zwar habe ich persönlich bei dieser Art von Diskussuion oft Schwierigkeiten damit, dass es, auch wenn es nicht so gemeint ist, so wirkt als würde man*frau die Vormachtstellung der westlichen Welt sehr in den Vordergrund stellen.
Wenn man zum Beispiel betont, dass andere Länder  nicht auf Augenhöhe sind. (Und ich weiß, dass das anders gemeint ist. Trotzdem klingt es für mich schwierig. ) Sprache hat eben auch immer eine große Macht.
Gibt es schon Überlegungen dazu, wie man diese Art von Sprache vermeiden und es besser machen kann? Da würde ich mich sehr über Hinweise/links/Überlegungen freuen. Oder habe ich hier einen Denkfehler?
We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars (Oscar Wilde)

Soly

@Natascha naja, wenn wir über kulturelle Aneignung sprechen, dann haben die westlichen Länder nunmal eine Vormachtstellung. Nicht in dem Sinne, dass sie besser sind, aber in dem Sinne, dass sie (grundsätzlich) mehr Reichweite haben.

Es heißt ja nicht "andere Kulturen sind nicht mit uns auf Augenhöhe", sondern "der Austausch mit anderen Kulturen findet zu oft nicht auf Augenhöhe statt". Damit sagt man nichts über die Kulturen selbst aus, sondern nur über das Dazwischen.
Beantwortet das die Frage?
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.