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Mein apathischer Ich-Erzähler

Begonnen von Coppelia, 21. März 2008, 07:38:55

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Coppelia

Hier hab ich mal das Thema geparkt, weil ich es mehr für ein handwerkliches Problem halte.

Es ist wohl weniger ein Problem der Ich-Perspektive, weil der streng personale Erzähler dassselbe Problem aufweisen würde, sondern mehr der Tatsache, dass ich nur einen Erzähler im Roman hab. Über den Sinn und Unsinn des Ich-Erzählers will ich nicht diskutieren, denn der Ich-Erzähler für diesen Roman ist meiner Meinung nach eine sehr gute Wahl.
Vielleicht hilft es mir ja schon, drüber zu reden.

Mein Prota ist ein oberflächlicher, humorvoller, charmanter und intriganter Typ. Solange es ihm gut geht, macht er einfach nur Spaß. Aber während der Handlung erlebt er einige Schicksalsschläge, sodass er schließlich erkennen muss, dass er nicht nur alles verloren hat (Familie, Besitz und, ganz schlimm, die Weinberge! Der Weinanbau war irgendwie identitätsstiftend für ihn), sondern dass sich sogar die Welt um ihn geändert hat.

Und da fängt mein Problem an. Durch seine Erlebnisse steht der gute Mann unter Schock, und eigentlich müsste er sehr leiden. Aber das will er nicht. Es liegt an dieser Figur, denn andere Figuren habe ich schon fürchterlich leiden lassen. *g* Meine Figur ist sonst sehr geschwätzig, aber mitteilen, wie schlecht es ihr geht, möchte sie mir nicht. Denn dann würde sie ja sozusagen merken, dass es ihr wirklich schlecht geht, und das würde sie sehr unangenehm finden. Lieber verdrängt sie alles, was passiert ist. Und so entsteht der Eindruck, dass sie alles einfach so wegsteckt. In gewisser Weise stimmt das auch. Durch sein sonniges Gemüt ist mein Prota recht widerstandsfähig, aber irgendwann ist Schluss. Ich wollte, dass seine Freunde ihn in seinem Elend etwas aufbauen, aber wie sollen sie das, wenn ich ihn nie überzeugend richtig "down" bekomme?

Meine Testleser (und auch ich selbst) meinen, ich könnte ihn benommen und apathisch darstellen. Na ja, warum nicht. Aber das Problem ist: Da ich seine Perspektive nicht verlassen kann, ist es nicht möglich zu schreiben, dass er stumm dasitzt, nicht zuhört, aus glasigen Augen vor sich hinstarrt usw., obwohl er es bestimmt tut. Man kann ja auch schwer schreiben, dass der Perspektiventräger etwas nicht mitbekommt.
Da es zwei von den vier Personen, die zusammen unterwegs sind, noch schlimmer erwischt hat als ihn, bietet es sich nicht so an, dass sie zu ihm sagen, er sehe traurig aus und täte ihnen Leid. Sie haben eigene Probleme.

Ich weiß also nicht mal, ob meine Schwierigkeit darin begründet liegt, dass sich mein Prota weigert, Leid zu empfinden, oder dass ich unfähig bin, dieses Leid auszudrücken (auch weil die Figur nicht kooperiert), oder ob ich in der Perspektive gefangen bin. Vielleicht eine Mischung aus allem.

Wie kann man bei einem fröhlichen Ich-Erzähler Leid passend ausdrücken? Vielleicht habt ihr Lust, meinen Gedanken etwas auf die Sprünge zu helfen. Eine Betaleserin hat mir schon für eine bestimmte Szene sehr geholfen  :vibes: , aber das Problem zieht sich auch noch weiter durchs Buch.

Lavendel

Tja, ich kenne deine Figur ja nur sehr vage, da fällt es schwer, da was Konkretes zu sagen. Aber es gibt ja immerhin einen zuverlässigen und einen unzuverlässigen Erzähler. Und es gibt gewisse Indizien, die einem verraten, dass der Erzähler nicht die Wahrheit sagt. Vielleicht könntest du mit sowas arbeiten? Es ist jetzt schwer da jetzt konkrete Beispiele für dich zu finden.
Im Prinzip hieße das, er tut weiterhin so, als ginge es ihm gut, auch vor sich selbst, nur dass du ab und an mal einen Hinweis darauf einstreust, dass er sich und deinen Leser/innen nur was vormacht.

Coppelia

Hm, ja. Richtig "unehrlich" ist mein Prota gar nicht. Er sagt schon das, was er selbst findet, nur muss man das als Leser kritisch sehen. Wenn er anständige und rechtschaffene Personen schlechtmacht, kann er sie meist wirklich nicht ausstehen, obwohl er natürlich weiß, dass sie ihm moralisch überlegen sind.
So ist es wahrscheinlich auch, wenn er leidet: Er fühlt sich wirklich nicht so, als hätte er ein Problem, auch wenn er genau weiß, dass er eins hat.

ZitatIm Prinzip hieße das, er tut weiterhin so, als ginge es ihm gut, auch vor sich selbst, nur dass du ab und an mal einen Hinweis darauf einstreust, dass er sich und deinen Leser/innen nur was vormacht.
Denke ich auch ... aber was könnte das sein?

Wölfin

Vielleicht könntest du ja so ganz banale Dinge nehmen, um zu zeigen, dass es ihm eigentlich nicht gut geht und dass ihn etwas beschäftigt.
Trinkt er zum Beispiel seinen Kaffee normalerweise immer mit Milch vergisst er diese nun gelegentlich.
War er vorher sehr ordentlich, lässt er nun auch mal die eine oder andere Kleinigkeit liegen.

Es könnte ihm dann ja auch auffallen: Der Kaffee schmeckt anders als sonst. Wieso liegt das denn immer noch dort?

Vielleicht hilft dir das ja ein bisschen weiter..

Liebe Grüße
Okami

Lisande

Okamis Idee gefällt mir gut. Ansonsten könntest Du ihn vielleicht in irgendeiner Situation völlig von der eigentlichen Erzählung abschweifen lassen - zum Beispiel, wenn er gerade einen Wein trinkt, ihn anfangen lassen, über seine (verlorenen) Weinberge zu schwadronieren und woran man denn gerade merkt, dass der Winzer, der DIESEN Wein gekeltert hat, keine Ahnung oder eine schlechte Hanglage hatte.

Vielleicht nicht das beste aller Beispiele, weil man dafür zumindest ein bisschen Ahnung von Weinbau haben muss, aber was ich damit meine ist: zeig, dass er sich unterschwellig Gedanken über das macht, was er verloren hat. Du kannst nicht schreiben, dass er mit glasigen Augen da sitzt, weil er das selber nicht merkt? Egal, dann zeig dem Leser halt, womit er sich in diesem Moment tatsächlich beschäftigt. Und wenn ihn dann irgendwas in das eigentliche Geschehen zurückholt, könnte er sich wundern, worum es jetzt gerade beim Gespräch überhaupt geht und warum seine Freunde so pötzlich das Thema gewechselt haben. Dem Leser sollte damit eigentlich klar werden, dass die Unterhaltung weitergegangen ist, während dein Protagonist geistig durch seine Weinberge gewandert ist.

Coppelia

Danke schon mal für eure Antworten! :) Das ist echt nett!

Okamis Idee finde ich auch gut. Leider funktioniert sie dann besonders gut, wenn der Prota in seiner gewohnten Umgebung mit seinem gewohnten Rhythmus ist, und das ist dummerweise nicht so. Er befindet sich mitten in einer ungewöhnlichen Situation, die ihn zum Handeln zwingt. Deswegen tut er auch Dinge, die er sonst nicht tut. Man kann sein Handeln also schwer im Gegensatz zu seinem sonstigen Handeln darstellen.

Das Gesprächsabschweifen hab ich schon verwendet, ich denke auch, dass es gut funktioniert.

Und er wandert wirklich geistig durch die Weinberge ...

Auch wenn das jetzt nicht so klingt, als wäre ich schon glücklich, hilft es mir sehr, darüber zu sprechen. :)

Silabaron

#6
Hallo Coppelia,

wenn ich alles richtig verstanden habe, dann beschreibst Du ein typisches Beispiel von "Verhalten gegen Aussage". Die Aussage deines Protag's lautet ja: Mir geht es gut. Wenn dem aber nicht so ist und wenn er alles wegsteckt, so wie Du weiter oben schreibst, dann will er ja die Tatsachen nicht wahrhaben. Aber irgendwie nagt es ja doch an ihm und das kann er nur durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen (Vielleicht könnte man auch "kompensieren" sagen?). Ob er das bewußt oder unbewußt macht. sei mal dahingestellt.

Ich will es einmal an einem Beispiel festmachen:

Dein Protag steht vor einem Restaurant, zündet sich eine Zigarette an und ein Freund kommt vorbei:

Freund: "Hey, wie geht es dir?"
Protag: "Mir geht es supercool gut" --> seine Aussage.

Hier reden die beiden eine Weile miteinander, dann tritt dein Protag die Zigarette aus, fummelt sich eine neue aus der Packung, zittert vielleicht beim Anzünden, raucht anschließend, als wäre es seine erste Zigarette an dem Tag. --> Verhalten

Freund: "Dir geht es wirklich gut?"
Protag: "Aber ja doch. Supercool gut ... endlich ist die Last der Weinberge von meinen Schultern genommen. Soll sich doch jemand anders darum kümmern ... Ach, ist doch eh alles egal " Er winkt ab. "Komm doch mit rein. Ich lad' dich auf einen Drink ein. "  --> und hier zur Verstärkung noch einmal die Aussage gepaart mir ein wenig Verhalten, das wieder zeigen soll, dass es ihm ja vielleicht doch nicht so gut geht.

Ich hoffe, das hilft dir weiter.

Noch etwas anderes. Du schreibst:

Zitat von: Coppelia am 21. März 2008, 07:38:55
Mein Prota ist ein ... charmanter und intriganter Typ.

Schließt sich charmant und intrigant nicht gegenseitig aus? Ich meine, jeder kennt doch  Leute, die intrigant sind. Aber auf mich wirken die nie charmant. Eher: Nackenhaare aufstellen, Gespräch einstellen und warten bis er/sie wieder verschwunden ist. Liege ich da falsch?

Liebe Grüße,

Dieter.

THDuana

Hallo Coppelia,

du könntest auch versuchen, in Träumen zu zeigen, was los ist. Ich meine, selbst wenn deine Figur die eigene Traurigkeit überspielt, so vermag er immer noch nicht, sein Unterbewusstsein zu steuern. Du musst ja nicht gleich alles in den Träumen aufrollen, nur vielleicht immer wieder kleine Sequenzen, mit denen er vielleicht auch selbst kaum etwas anzufangen weiß, oder es als einfache Träume ablegt.
Die anderen haben zwar Probleme, aber vielleicht machen sie ihn auch darauf aufmerksam, dass er sich im Schlaf nicht immer so rumwälzen soll, sie könnten sonst kein Auge zu machen, oder er solle beim laufen nicht immer so trödeln, sie kämen ja sonst auch nicht voran.
Dann kann er das ja abstreiten, vielleicht sich erst nicht eingestehen und ab einem bestimmten Zeitpunkt sich langsam dabei ertappen.
Hm? :hmhm?:

Coppelia

Hiho,

Zitatwenn ich alles richtig verstanden habe, dann beschreibst Du ein typisches Beispiel von "Verhalten gegen Aussage". Die Aussage deines Protag's lautet ja: Mir geht es gut. Wenn dem aber nicht so ist und wenn er alles wegsteckt, so wie Du weiter oben schreibst, dann will er ja die Tatsachen nicht wahrhaben. Aber irgendwie nagt es ja doch an ihm und das kann er nur durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen (Vielleicht könnte man auch "kompensieren" sagen?). Ob er das bewußt oder unbewußt macht. sei mal dahingestellt.
Ja, genau, das trifft es.
Das Beispiel mit dem Rauchen ist sehr schön. In einer Szene wird wirklich geraucht, da werde ich mal versuchen, es so ähnlich einzubringen.  Danke!

ZitatSchließt sich charmant und intrigant nicht gegenseitig aus?
Nö, das denke ich nicht. Zumindest bei ihm klappt es ganz gut. ;)

An Träumen hab ich mich auch schon mal versucht. Und warum baue ich eigentlich nicht noch einen mehr ein? Meine Leute schlafen immer so traumlos. ;) Auch danke dir, Duana. Dass sie ihn am Morgen anmeckern, weil er so rumgelärmt hat, ist auch sehr gut. Muss ich mir gleich mal notieren.