Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: AlpakaAlex am 11. September 2021, 18:51:38

Titel: Dekolonialisierung der Phantastik
Beitrag von: AlpakaAlex am 11. September 2021, 18:51:38
Ich bin jetzt einfach einmal so frei, einen eigenen Thread dafür zu eröffnen (und auch meinen eigenen Blog in diesem Rahmen zu verlinken), weil ich doch immer wieder schockiert bin, wie viel Ignoranz in Bezug auf dieses Thema herrscht.

Die Kolonialzeit war eine Epoche in unserer Menschheitsgeschichte, die von 1492 bis zur Mitte des 20sten Jahrhunderts andauerte, auch wenn ein gutes Argument dafür gemacht werden kann, dass sie eigentlich nie geendet hat. Im Rahmen dieser Zeit haben verschiedene Europäische Mächte - zu denen auch Deutschland gehörte - beinahe den kompletten Rest der Welt unterjocht und die Menschen und auch die Natur dort für ihre Ressourcen ausgebeutet. Dabei wurden Menschen versklavt und ganze Völker ausgerottet, um dem europäischen Machtanspruch zu genügen. Später hat auch die USA dieses Verhalten fortgesetzt und hält, wie diverse andere Länder übrigens auch, bis heute noch solche Kolonien.

Diese Grausamkeiten wurden während des Kolonialismus, aber auch später, durch verschiedene Narrativen Aufrecht erhalten, die im großen und ganzen darauf hinausliefen, dass die europäische, weiße Kultur allen anderen Kulturen überlegen sei, weshalb sie das Recht und sogar die Verpflichtung habe, diese zu kolonialisieren und zu "zivilisieren". Diese Narrativen waren so weit verbreitet, dass sie tief in unserer Kultur verankert sind und bis heute auf subtile Art und Weise propagiert werden. Auch in der Phantastik.

Letztes Jahr habe ich eine ganze Reihe von Artikeln in meinem Weblog mit genau diesem Thema geschrieben: Der Dekolonialisierung der Phantastik (https://alpakawolken.de/dekolonialisierung-einleitung/). Darin lag es mir am Herzen, aufzuzeigen, wo sich diese kolonialen Narrativen und Tropes sich in der Phantastik - im speziellen der Fantasy, da dies eben auch das Genre ist, in dem ich am meisten schreibe - vorkommen.

Ich möchte es euch kurz etwas zusammenfassen, auch wenn die folgende Liste nicht ausgiebig ist und ich natürlich hier einfach nicht so weit ins Thema reingehen kann, wie ich es in den 23 Artikeln konnte, die ich dazu geschrieben habe. (Und es werden noch weitere in Zukunft kommen!) Dennoch eine kurze tl;dr Fassung:

Wie gesagt, das ist nur die tl;dr Fassung. Gesamt habe ich dazu mehr als 100 Seiten geschrieben und über 28 Bücher und 230 Artikel zu den verschiedenen Themen gelesen. (Und ein paar Bachelor und Masterarbeiten, bei denen ich nicht sicher bin, wo ich sie einsortieren soll.) Es ist ein sehr umfangreiches Thema, zudem durchaus auch einige Forschung existiert (Stichwort (Post-)Colonial Studies), das aber gerade in Deutschland oftmals komplett übergangen wird.

Und ja, ich dachte, ich mache dazu einfach mal einen Thread. Denn ich denke, gerade Phantastik-Autor*innen sollten mehr darüber reflektieren, inwieweit sie koloniale Narrativen in ihren Büchern bedienen.
Titel: Re: Dekolonialisierung der Phantastik
Beitrag von: Soly am 11. September 2021, 19:03:23
Danke für den Thread, für die kurze Überblicksliste und die Links. Ich setze mir die Lektüre von deinen Artikeln ganz oben auf die To-Do-Liste und hoffe, dass ich mich danach in der Position fühle, mich auch fundiert an Diskussionen zu Kolonialisierung zu beteiligen. Bisher hatte ich da wegen mangelnden Hintergrundwissens eher Berührungsängste.
Deshalb, nochmal, vielen Dank für diesen Thread, ich sehe ihn als den Anstoß, den ich gebraucht habe.
Titel: Re: Dekolonialisierung der Phantastik
Beitrag von: Alana am 11. September 2021, 20:21:31
Vielen Dank für den Thread und die Übersicht. Ich habe auch gerade angefangen, mich mit einigen dieser Themen auseinander zu setzen, bei manchen schon länger, und habe mich teilweise auch schon gefragt, woher diese Tropes eigentlich stammen. Dass vieles einem eurozentrischen, patriarchalischen Weltbild entstammt, ist klar. Aber der bei einigen Themen nicht offensichtliche direkte Zusammenhang zum Kolonialismus bzw. die Wechselwirkung ist spannend, da werde ich mich definitiv weiterbilden.
Titel: Re: Dekolonialisierung der Phantastik
Beitrag von: Yamuri am 11. September 2021, 20:37:07
Interessanter Thread, wobei ich das Thema "Aneignung von Land" differenzierter sehe, aber natürlich hat das Konzept während des Kolonialismus besonders viel Schaden angerichtet.

Die Vorstellung, dass Menschen Land besitzen könnten, ist aber wesentlich älter als der Kolonialismus. Bereits die alten Sumerer und Akkader haben sich Land zu Eigen gemacht und ihre Herrschaftsgebiete erweitert. Sie gaben sich sogar die Titel: Herrscher über die vier Weltgegenden und trachteten bereits danach sich die ihnen bekannte Welt zu Eigen zu machen. Es liegt in der Natur vieler Völker der Welt sich die Welt und das Land zu Eigen machen zu wollen. Das kann man nicht ausschließlich dem Kolonialismus zuschreiben. Das ist tief verankert in vielen Menschen.

Die indigenen Kulturen Amerikas kannten dieses Konzept sich das Land zu Eigen zu machen nicht. Für sie, soweit meine Recherchen reichen (man darf mich da korrigieren, denn Amerikanistik habe ich nicht studiert), glauben die indigenen Völker Amerikas, dass man Land nicht besitzen kann, dass es niemandem gehört. Das ist ein Konzept das es in Vorderasien und in Europa aber gab. Bei Afrika weiß ich es nicht, aber ich glaube die Völker dort waren auch eher nomadisch unterwegs und Nomaden haben hier vermutlich eine andere Denkweise.

Aber nicht alles, was scheinbar von den Weißen kommt, ist auch von den Weißen. Man muss hier bedenken, dass die Kelten nie ein Reich hatten, wie z.B. die Römer oder die Griechen. Die Kelten ist ein Sammelbegriff für zahlreiche unterschiedliche Kulturen, die auf dem europäischen Festland ansässig waren. Über die Kontinentalkelten wissen wir nur sehr wenig bzw. wir wissen nur, was uns durch Dritte (die Römer/Griechen) überliefert wurde. Die Stärke der heute als keltisch bezeichneten Völker war es, dass sie Einflüsse anderer Kulturen aufgenommen haben und sie sehr anpassungsfähig waren, gegenüber anderen Kulturen, die in den Raum eindrangen, in dem sie lebten und das Gebiet eroberten.

Wer vor den Kelten in Europa war, weiß ich leider nicht. Das wäre interessant zu erforschen. Aber grundsätzlich ist zu beachten, das dass was wir heute für unsere Kultur halten, durch Einflüsse entstanden ist. Es ist damit auch zu hinterfragen, wie viel von dem, was wir heute denken, dass es europäische Errungenschaften sind, sind wirklich unsere? Denn zur Zeit der Kelten wurde auch sehr viel von der Kultur dieser keltischen Völker ersetzt durch etwas Neues und das nicht etwa, weil die Kelten eine bewusste Aneignung betrieben hätten, sondern weil die Einflüsse durch Eroberung aus dem römischen Reich zu ihnen kamen und sie der Vermischung nicht abgeneigt waren.

Darüber hinaus wäre es durchaus spannend herauszufiltern inwieweit das, was wir als europäische Narrative bezeichnen nun tatsächlich europäische Errungenschaften sind, oder ob es sich auch um Einflüsse oder die Interpretation von etwas handelt, das bereits vorher da war?