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Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Arcor am 12. Januar 2013, 17:19:45

Titel: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Arcor am 12. Januar 2013, 17:19:45
Diese Frage beschäftigt mich gerade sehr, da ich an einem neuen Projekt (vermutlich Dark-Fantasy) herumplotte und der Protagonist und Ich-Erzähler dem Anschein nach ein dunkler Magier sein will und damit jemand, der definitiv nicht gut ist (und ich habe auch nicht vor, ihn im Laufe der Geschichte gut werden zu lassen).

Ich bin beim Schreiben glaube ich kein Kind von Traurigkeit, weder was körperliche noch seelische Gewalt angeht, doch oft wird das von Antagonisten oder Nebenfiguren ausgeführt. Bei Protagonisten war ich da bisher eher zurückhaltend. Da ich meine oben erwähnte Hauptfigur jedoch einmal anders gestalten möchte als alle bisherigen Protagonisten, frage ich mich nun, wo man eine Grenze ziehen muss. Was kann man seinen Haupt-"helden" machen lassen und was geht zu weit? Ab welchem Punkt hört die Figur auf, für den Leser sympathisch und interessant zu sein? Ab wann wünscht man ihr nur noch die Pest an den Hals oder pfeffert das Buch in die Ecke? Denn obwohl die Figur kein "Guter" sein soll, möchte ich auch nicht unbedingt, dass der Leser ihn am liebsten nach fünfzig Seiten am Galgen baumeln sehen möchte, damit er zufrieden ist.

Das Ganze ist sicherlich sehr subjektiv, aber mich interessiert eure Meinung dazu. Was empfindet ihr bei Protagonisten noch als zumutbare Handlung an den Leser und wann ist er über das Ziel hinausgeschossen?
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Sprotte am 12. Januar 2013, 17:23:20
Die drei "klassischen Tabus" in der Reihenfolge der Lesergewichtung, wie ich denke: Tiere (besonders Tierbabys, Hunde und Katzen), Kinder und Frauen.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Robin am 12. Januar 2013, 17:28:54
Das ist eigentlich eine interessante Frage, muss man sagen.

Also ich denke schon, dass ein Protagonist Dreck am Stecken haben darf. Durchaus je nach Situation auch ziemlich viel. Nur, wenn es eskaliert, dann kommt es ja auch wieder als übertrieben und 'god-like' daher. Nicht unbedingt das, was man lesen will. Jedenfalls würde ich es so sehen.

Ich mag Antihelden eigentlich wirklich viel lieber als strahlende Helden, sozusagen. :hmmm: Denn, irgendwie sind die Antihelden für mich viel sympathischer und durchwegs realistischer als die strahlenden Helden mit nur ein wenig Dunkelheit.


Nur so eine erste Meinung dazu, ich muss mir da noch ein paar Dinge durch den Kopf gehen lassen. ;D
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Mogylein am 12. Januar 2013, 17:41:12
Grundlose Grausamkeit, Kinder, Behinderte, Leute an denen eine ganze Familie hängt.
Ich finde es selbst schwierig, eine Grenze zu ziehen, aber wenn ich ein Buch lese, wo jemand völlig ohne Grund in reinster Folter ein behindertes Kind abmurkst... nein.
Wenn man für das, was er tut, Erklärungen hat ("Ohne den Tod dieses Kindes würde er nie von der Magiervereinigung aufgenommen werden und könnte dann nie die Regierung stürzen", whatever) geht das meiste. Aber selbst dann würd ich mich von Minderheiten und Kindern fernhalten und höchstens als gezieltes Mittel einsetzen.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Alana am 12. Januar 2013, 17:46:39
Ich denke, wenn die Identifikationsfläche groß genug ist, dann verzeiht der Leser einiges. Wichtig sind natürlich schon die Hintergründe und was du mit der Geschichte am Ende erreichen willst. Verharmlosung oder Gewaltverherrlichung sind da natürlich nicht weit.
Ansonsten stimme ich Sprotte und Mogylein zu. Ich brauche einen Grund für das, was er tut. Und Folter ist für mich ein absolutes No-Go.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Arcor am 12. Januar 2013, 17:48:37
Zitat von: Robin White am 12. Januar 2013, 17:28:54
Ich mag Antihelden eigentlich wirklich viel lieber als strahlende Helden, sozusagen. :hmmm: Denn, irgendwie sind die Antihelden für mich viel sympathischer und durchwegs realistischer als die strahlenden Helden mit nur ein wenig Dunkelheit.
Das ist ja oft so, dass man den Guten eigentlich langweilig findet, weil er eben nur gut ist. Allerdings ist die Frage, ob man den Antihelden oder auch den Antagonisten nur deswegen interessanter findet, weil ihnen ein Gegenpol gegenübersteht, an dem sie sich reiben können?

Zitat von: Sprotte am 12. Januar 2013, 17:23:20
Die drei "klassischen Tabus" in der Reihenfolge der Lesergewichtung, wie ich denke: Tiere (besonders Tierbabys, Hunde und Katzen), Kinder und Frauen.
Lustig, dass da Tiere weiter vorne stehen.  ;D Aber in ähnliche Bahnen denke ich auch, zumindest, wenn der Charakter keine Reue zeigt. Wenn jemand ein Verbrechen an Frauen oder Kindern begeht und das bereut, sieht das schon vielleicht anders aus, oder? Aber eine Tat aus reiner Grausamkeit, aus Machtstreben oder zum Beispiel auch Neugier ist vielleicht wirklich zu heftig.  :hmmm:

Zitat von: Mogylein am 12. Januar 2013, 17:41:12
Grundlose Grausamkeit, Kinder, Behinderte, Leute an denen eine ganze Familie hängt.
Ich finde es selbst schwierig, eine Grenze zu ziehen, aber wenn ich ein Buch lese, wo jemand völlig ohne Grund in reinster Folter ein behindertes Kind abmurkst... nein.
Wenn man für das, was er tut, Erklärungen hat ("Ohne den Tod dieses Kindes würde er nie von der Magiervereinigung aufgenommen werden und könnte dann nie die Regierung stürzen", whatever) geht das meiste. Aber selbst dann würd ich mich von Minderheiten und Kindern fernhalten und höchstens als gezieltes Mittel einsetzen.
Grundlose Grausamkeit schließe ich auch aus, aber ich stimme dir zu, dass es schwer ist, eine Grenze zwischen grundloser und begründeter Grausamkeit zu ziehen. Rache, ok, das ist klar. Aber danach wird es schwierig.

Zitat von: Alana am 12. Januar 2013, 17:46:39
Ansonsten stimme ich Sprotte und Mogylein zu. Ich brauche einen Grund für das, was er tut. Und Folter ist für mich ein absolutes No-Go.
Folter als No-Go ist schon mal gut, das schreibe ich mir gleich mal auf. Misshandlung und Vergewaltigung dürfte vermutlich in dieselbe Sparte fallen.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Naudiz am 12. Januar 2013, 17:50:38
Das ist lustig, ich habe gestern überlegt, einen ganz ähnlichen Thread aufzumachen  :D

Aktuell lese ich nämlich "Best Served Cold" von Joe Abercrombie, und da kam die Frage in mir auch auf, denn: So ziemlich alle Protagonisten gehen zum Erreichen ihrer Ziele über Leichen. Sprichwörtlich. Denen ist egal, wer draufgeht und wer nicht, solange sie es nicht selbst sind. Brutalität und Grausamkeit sind ihre stärksten Waffen, von denen sie auch kräftig Gebrauch machen.

Allerdings: Sie töten keine Frauen und keine Kinder, und Tiere haben sie bisher auch in Frieden gelassen. Na gut, ein paar Frauen sind schon umgekommen, aber die waren absolut nicht beabsichtigt. Foltern von Frauen allerdings stört sie überhaupt nicht.

Trotzdem sind diese Protagonisten mir hochgradig sympathisch. Warum? Weil sie auch menschliche Seiten haben, Gefühle, Sorgen, und weil ihnen so manches Mal leid tut, wenn sie jemanden involviert haben, der nichts mit ihrem Rachefeldzug zu tun haben. Manchmal versuchen sie sogar, Wiedergutmachung zu leisten. Aber auf jeden Fall haben sie einen Grund für ihre Taten - Hauptfigur Monza und ihr Bruder wurden von ihrem Regenten und Arbeitgeber verraten und ermordet (na gut, Monza nicht, sie ist lebend aus der Sache herausgekommen), weil sie ihm schlichtweg zu beliebt im Volk geworden sind (sie waren sehr erfolgreiche Feldherren, Anführer einer Söldnerarmee). Monza will die sieben Männer, die für den Mord verantwortlich sind, zur Strecke bringen und ihren Bruder rächen. Für mich ein nachvollziehbares Motiv.

Wenn Monza jetzt aber diese Grausamkeiten ohne triftigen Grund verüben würde, würde ich sie zweifelsohne an den Galgen wünschen. In der First Law-Reihe gibt es einen Charakter, Black Dow, der genau so drauf ist - Grausamkeit um ihrer selbst willen und um zu demonstrieren, dass er Macht hat. Den habe ich während des Lesens gefressen  :happs:

Conclusio: Solange die 'Helden' einen nachvollziehbaren Grund für ihr Verhalten haben, kann ich über beinahe jede Schandtat hinwegsehen. Grundlose Gewalt und Grausamkeit stößt bei mir jedoch auf wenig Gegenliebe.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 12. Januar 2013, 18:52:48
Aah, das ist ein tolles Thema  :vibes:.

Ich habe ja in meinem ersten fertig geschriebenen Projekt sozusagen genau dieses Thema in den Mittelpunkt gestellt. Ich war da ein wenig provokant und wollte letztlich sehen, ob es möglich wäre, eine Figur, die absolut Grausames tut, so zu zeichnen, dass sie trotzdem sympathisch wirkt und man alles nachvollziehen kann um dann von dieser Schilderung auch ein wenig die Verurteilung von Taten ohne ihren Hintergrund zu kennen, in Frage zu stellen.
Aber im Vordergrund stand vor allem eben auch das Experiment für mich: Wie weit geht der Leser mit und bezeichnet eine Figur als sympathisch, die Dinge tut, die eigentlich jeden abschrecken würden. Und ich war da auch nicht zimperlich. Meine Protagonistin hat wirklich (fast) alle Tabus gebrochen: Frauen, Kinder, Säuglinge - Tiere waren sogar auch dabei.
Das Ergebnis war wirklich verblüffend: Es gab nicht einen Leser, der das Buch wegen einer unsympathischen Protagonistin weggelegt hätte (es wurden Szenen übersprungen, weil sie zu hart waren, aber trotzdem wurde die Protagonistin nicht als unsympathisch bezeichnet).Selbst als sie am Ende den Hauptsympath der ganzen Geschichte umlegt waren ihr zwar viele böse - aber sie wurde trotzdem nicht als unsympathisch bezeichnet, denn alles ist verständlich und innerhalb der Charakterkonzeption erklärbar geblieben.
Ich habe sehr darauf geachtet, dass ihr Charakter immer begründet und gut hinterleuchtet blieb und genau das hat dann auch hingehauen - alle erklärten mir, dass die Protagonistin jetzt zwar keine Identifikationsfigur sei, der zweite Hauptcharakter sympathischer sei, aber alle sagten auch, dass sie deswegen nicht unysmpathisch werde, dass man sie nicht verurteilen könne und dass alles verständlich bliebe - für mich war das ein Zeichen, dass man bei so etwas zwar sehr aufpassen muss, wie man es macht, dass es aber durchaus möglich ist, sich viel zu trauen und trotzdem keine Abscheu, keine Wut und keine Mordgedanken ( ;D) gegenüber des Protagonisten aufzubauen. Es ist eben nur wichtig, dass alles begründet und verständlich bleibt und nicht auf einmal sinnlose Gewalt auftaucht oder deutlich wird, dass er grundlos irgendwelche Personen verabscheut, menschenverachtend denkt ohne dass die Entwicklung und Erklärung dafür deutlich wird - wenn sie aber deutlich wird, kann der Charakter sogar ein sehr sympathischer und sehr geliebter werden - wenn man sich mal durchsieht, welche Charaktere in bekannten Büchern gerne gemocht werden, ist fast immer auch ein eher zynischer, möglicherweise sarkastischer, anfänglicher Unsympath dabei, der aber aufgrund seiner Charakterschlüssigkeit, möglicherweise auch aufgrund von so gerne gesehenen Zügen wie Zynismus und Sarkasmus derartig ... naja vielleicht nicht unbedingt sympathisch ist, ich glaube das ist das falsche Wort. Er ist eher faszinierend. Man darf eben nicht den Fehler machen, einen Charakter, der eindeutig auf diese Richtung ausgelegt ist, zu behandeln wie einen, der dem Leser sympathisch sein soll - wirkliche Sympathie im Sinne von: Den mag ich, den möchte ich auch als Freund haben, mit dem bin ich auf einer Wellenlänge - wird man vielleicht nicht erreichen können. Aber man kann Faszination schaffen und sogar Mitleid, man kann erreichen, dass der Charakter nachvollziehbar bleibt und dadurch auf einer anderen Ebene sympathisch bleibt.

Wo man aber aufpassen muss ist, denke ich, die Erwartungshaltung. Ist bei einem Buch von Anfang an klar, dass der Protagonist möglicherweise Dinge tun wird, vor denen der Leser Abscheu hat, wird er es eher ablehnen - weil er es eben noch nicht verstehen kann, er hat die Entwicklung dorthin noch nicht mitverfolgt und wird sich von vornerherein abgestoßen fühlen - da muss man etwas aufpassen, dass das nicht von Anfang an klar ist - hat man den Leser erst einmal in der Entwicklung drin, ist er eher bereit, sich auf so etwas einzulassen. Habe ich beispielsweise in einem Gespräch erwähnt, was meine Protagonistin alles tut, war sofort die Ablehnung da - habe ich darüber eher geschwiegen und es zum Lesen gegeben, war die Reaktion anders.
Wobei es da natürlich auch Ausnahmen gab - es gab durchaus Leser, die sich von vornerherein von diesem Experiment angezogen gefühlt haben  ;D.

Wo ich widersprechen möchte im Übrigen, ist die Sache mit der Reue - also zumindest bei mir funktioniert das allerhöchstens eingeschränkt und kommt ganz stark auf den Rahmen an - wird ein Charakter zu einer Tat gezwungen, steht das alles sowieso auf einem anderen Blatt. Tut er es aber freiwillig ... und bereut hinterher sofort oder schlimmer noch vorher - dann ist das für mich ein bodenloser Schlag auf das Minuskonto in Sachen Sympathie. Warum? Weil der Kerl allem Anschein nach dann ja nicht charakterstark oder willensstark genug war, eine Tat, von der er schon vorher gewusst haben muss, dass er sie bereuen wird, sein zu lassen. Er hat eine Tat, von der er ganz genau wusste, was sie bedeutet, wie schlimm sie ist, was sie anderen antut, also im vollen Bewusstsein aller Konsequenzen begangen - und das ist für mich eher unsympathisch. Wenn das ein Teil der Charakterentwicklung ist, ist es in Ordnung, wenn aber die Reue direkt im Anschluss oder sogar noch bei der Tat permanent als Mittel eingesetzt wird, mir den Charakter sympathischer zu machen, geht der Schuss nach hinten los und ich würde ihn gerne in der Schlinge sehen - oder es nervt mich und er verliert an Glaubwürdigkeit.
Wenn die Reue erst langsam, schleichend kommt, bestenfalls noch harsch verdrängt wird, ist sie aber eine wundervolle Methode, den Charakter sympathischer zu machen. Leichte Paranoia, schlechte Träume etc. neigen da dazu, sehr gute Mittel zu sein, so eine unterdrückte Reue schön darzustellen und dem Leser etwas zu signalisieren, was der Charakter leugnen würde  ;D.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Mogylein am 12. Januar 2013, 18:58:36
Ich möchte noch anmerken, dass ich vorhin etwas vergessen habe. Ganz abgesehen von der ganzen Gewaltschiene gibt es auch noch anderes, was einen Charakter bei mir persönlich sehr schnell ins Aus befördert: Braunes Gedankengut.
Begründungen sind ja gut, aber wenn mir jemand die Folter einer Frau damit verkauft, dass er ja Nazi ist... das geht gar nicht.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Arcor am 12. Januar 2013, 19:07:05
@Naudiz:
Das von dir beschriebene Buch passt ja genau ins Bild Rache. Das kann ich definitiv nachvollziehen, dass man das Lesen kann, ohne den Prota zu verabscheuen. Über Rache gibt es ja auch tausende von Filmen, nicht zuletzt jetzt der neue Tarantino "Django Unchained", wo man mit der Hauptfigur mitfiebert.

@Valaé:
Interessant, was du über deine Figur sagst. Das ist wirklich ein interessantes Projekt und auch das Ergebnis finde ich erstaunlich. Wobei ich es nachvollziehen kann, dass man der Figur mehr vergibt, wenn es nicht von Anfang an ersichtlich oder gar geplant ist, was sie alles tut. Das zeigt ja, das auch heftige Gewalt einen Leser nicht unbedingt vom Lesen abhalten muss.
Zur Reue: Ich stimme dir da zu. Sofortige Reue oder gar ein vorheriges Wissen um diese Reue macht die Figur wirklich eher schwach und unsicher. Eine Entwicklung dahin kann hingegen interessant sein. Ob meine Figur seine Taten bereuen wird ... keine Ahnung. Dafür kenn ich den guten Herrn noch nicht gut genug.

@Mogylein:
Meinst du mit braunem Gedankengut jetzt lediglich nationalsozialistisches oder allgemein rassistisches/faschistisches Denken, unabhängig wo, wann, bzw. in welcher Welt?
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Maran am 12. Januar 2013, 19:46:05
Es gibt schon die klassischen "Antihelden". Mir persönlich gefallen solche Bücher nicht, das ist ja auch Geschmackssache, aber solange die Motivation für die Handlungen plausibel und die Handlungen selbst nicht verherrlichend dargestellt ist, geht meiner Meinung nach eine ganze Menge (Tut mir leid, Sprottchen, auch Tiere / Tierbabys, Frauen und Kinder). Zudem akzeptiere ich "böse" Taten bei einem Antihelden sehr viel besser, als bei einem herkömmlichen Protagonisten.
Es ist allerdings auch eine Gratwanderung, eine Geschichte aus der "bösen" Perspektive zu schreiben, denn der Leser sollte sich nicht, wie es bei Protagonisten der guten Art ja gerne angedacht ist, mit dem Helden identifizieren - oder ihn glorifizieren. Von expliziten Gewaltbeschreibungen, nur um der Gewaltbeschreibungen willen, würde ich Abstand nehmen. Die Frage ist, was Du mit der Geschichte bezweckst.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Runaway am 12. Januar 2013, 20:03:16
Ich denke, "böse Handlungen" im weitesten Sinne werden dann akzeptiert, wenn der Leser sie nachvollziehen kann.
In meinen Geschichten gab es immer mal wieder Protagonisten, die Menschen getötet haben. Teilweise nicht auch einfach nur so, sondern auf ziemlich unschöne Art. Dem vorausgegangen waren aber auch unschöne Taten derjenigen, die die Protas da getötet haben. Ich kann das pauschal auf das Stichwort Rache runterbrechen.
Beim Schreiben habe ich mir auch die Frage gestellt, ob es okay ist, meiner Protagonistin eine Waffe in die Hand zu drücken, nachdem sie von zwei Männern vergewaltigt wurde. Lustigerweise haben dann hinterher sogar die Leser gesagt "wie, die hat die einfach nur erschossen? Also ich hätte ja noch ..."

"Noch" gab es in meiner Dark Fantasy-Geschichte. Auch da ging es um eine Vergewaltigung. Als mein Protagonist spitz gekriegt hat, was die Typen mit seiner Frau gemacht haben, hat er sein superscharfes Schwert gezückt und dann mit dem verbliebenen Täter ein paar unschöne Dinge gemacht. Er selbst hat in diesem Moment eine Art Blutrausch - ihm geht es tatsächlich darum, den Kerl möglichst brutal umzubringen. Seine Frau, seelisch immer noch tief verletzt, sieht ungerührt dabei zu.
Daneben steht dann die Freundin, die die Brücke zum Leser schlägt und nicht hinsieht, weil ihr das zuviel ist. Sie wundert sich auch darüber, daß der Mann, den sie als sanftmütig kennengelernt hat, zu so etwas in der Lage ist. Aber sie versteht es auch.
Sie drückt im Prinzip Zweifel und Skrupel aus und versucht, dem Leser zu erklären, warum er das tut.
Bis heute habe ich keine Klagen bezüglich dieser Stelle bekommen.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Fianna am 12. Januar 2013, 20:59:50
Zitat von: Dani am 12. Januar 2013, 20:03:16
"Noch" gab es in meiner Dark Fantasy-Geschichte. Auch da ging es um eine Vergewaltigung. Als mein Protagonist spitz gekriegt hat, was die Typen mit seiner Frau gemacht haben, hat er sein superscharfes Schwert gezückt und dann mit dem verbliebenen Täter ein paar unschöne Dinge gemacht. Er selbst hat in diesem Moment eine Art Blutrausch - ihm geht es tatsächlich darum, den Kerl möglichst brutal umzubringen. Seine Frau, seelisch immer noch tief verletzt, sieht ungerührt dabei zu. [...]
Bis heute habe ich keine Klagen bezüglich dieser Stelle bekommen.
Das finde ich gar nicht bemerkenswert. Vergewaltigung ist das Schlimmste, was man einer Frau antun kann. Damit war die üble Tat des Prota quasi gerechtfertigt nach dem Motto: minus und minus ergibt plus, oder zumindest glatt null.
Hätte er das mit einem unschuldigen Menschen gemacht, sähe das ganz anders aus.


Zitat von: Mogylein am 12. Januar 2013, 18:58:36
Begründungen sind ja gut, aber wenn mir jemand die Folter einer Frau damit verkauft, dass er ja Nazi ist... das geht gar nicht.
Da müssen nicht einmal dramatisch Dinge wie Folter geschehen, efür mich reicht schon die Äußerung solchen Gedankenguts an sich. (Kann man ja wunderbar in Fantasy übertragen mit unwerten Rassen).

Zitat von: Valaé am 12. Januar 2013, 18:52:48
Wo man aber aufpassen muss ist, denke ich, die Erwartungshaltung. Ist bei einem Buch von Anfang an klar, dass der Protagonist möglicherweise Dinge tun wird, vor denen der Leser Abscheu hat, wird er es eher ablehnen - weil er es eben noch nicht verstehen kann, er hat die Entwicklung dorthin noch nicht mitverfolgt und wird sich von vornerherein abgestoßen fühlen - da muss man etwas aufpassen, dass das nicht von Anfang an klar ist - hat man den Leser erst einmal in der Entwicklung drin, ist er eher bereit, sich auf so etwas einzulassen.
Wirklich?  :o  :vibes: :vibes: :vibes:
Ich hab an einem meiner Lieblingsprojekte gezweifelt, da ein Mann (Jüngling) und eine Frau (Leibwache) die zentralen Figuren sind. Der Jüngling ist im Tross der Antagonisten und wird am Ende des Buches getötet. Anfangs wirkt er jedoch noch nicht so stark (und auch die Taten seiner Familie werden erst nach und nach an den Tag gebracht), und meine Testleser erwarteten quasi eine Läuterung. Also kann seine unsympathische Ausstrahlung nicht so schlimm gewesen sein, und ich habe an dem Konzept gezweifelt, dass er sich wirklich auf die negative Seite schlägt (für den Leser, er war ja schon immer so und hatte nur keine Handlungen, wo sich das zeigen konnte).

Zitat von: Naudiz am 12. Januar 2013, 17:50:38
Aktuell lese ich nämlich "Best Served Cold" von Joe Abercrombie, und da kam die Frage in mir auch auf, denn: So ziemlich alle Protagonisten gehen zum Erreichen ihrer Ziele über Leichen. Sprichwörtlich. Denen ist egal, wer draufgeht und wer nicht, solange sie es nicht selbst sind. Brutalität und Grausamkeit sind ihre stärksten Waffen, von denen sie auch kräftig Gebrauch machen.

Allerdings: Sie töten keine Frauen und keine Kinder, und Tiere haben sie bisher auch in Frieden gelassen.
Das kenne ich von Bernard Cornwell. Die Hauptfigur Uhtred sorgt sicher auch für Sympathien bei der weiblichen Leserschaft, da er nach dem Überwältigen von Dänen immer die Frauen fragt, wer demjenigen töten will, der sie geschändet hat, und denen ein Messer gibt.
An einer Stelle übrigens auch grade-noch-vorpubertären Zwillingen, das wirkte schon etwas eklig, da die ihren potentiellen Vergewaltiger nicht so schnell getötet haben, weil sie werder Fähigkeiten noch Kraft haben. Das war eine sehr starke Szene, auch die Beschreibung des Vaters, als seine blutbefleckten Kinder zu ihm zurücklaufen...
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 12. Januar 2013, 21:44:10
Ich teile da die gleiche Ansicht, wie die meisten hier: Motivation is the key!

Du musst dir auch, wie Maran gesagt hat, überlegen, was du mit dem Buch erreichen willst. Soll es ein Skandalbuch werden? Soll es Sympathien oder Verständnis für Psychopathen/Gewalttäter schaffen? Was soll der Leser aus deinem Buch mitnehmen? Was ist die übergeordnete Aussage (Prämisse)? Was ist deine Motivation solch einen Charakter als Prota zu verwenden?

Wenn du auf alle diese Fragen eine gute, zufriedenstellende, hoffentlich sogar tiefgründige Antwort hast - gut! Wenn nicht, würde ich es verwerfen oder verändern. Der Leser merkt im Allgemeinen ganz schnell, ob der Autor weiß was er da tut, und ob es Sinn macht, sich mit einer Geschichte/einem Charakter auseinanderzusetzen.

Ich finde auch nicht, dass es bezüglich dessen, zu was der Prota fähig ist, Grenzen gibt - abgesehen von Pädophilie, die an sich einfach gegen die Natur ist. Allerdings würde ich es vielleicht nicht detailiert bzw. in der Gegenwart beschreiben. Aber auch das wäre natürlich theoretisch möglich ...

In irgendeinem Schreibratgeber hab ich mal über ein Buch gelesen, in dem es um einen gefühlskalten Mann geht, der komplett verkorkst ist, und für den irgendwann eine Frau Gefühle entwickelt - er weiß aber weder, wie er damit umgehen, noch sie erwidern soll (kann sein, dass er sie auch gewollt nicht zulässt) - und schließlich stirbt die Frau oder verschwindet oder so. Das Ende zeigt ihn dann praktisch am gleichen Punkt wie der Anfang - einsam. Und obwohl ihm seine Situation selbst nicht bewusst ist, hat der Leser dennoch Mitleid mit ihm.
Obwohl keine Entwicklung stattfindet, hat das Buch natürlich eine Aussage; aber eben eine leise, und die sind schwieriger zu vermitteln als offensichtliche Prämissen. Da kommt es auf viel psychologisches Fingerspitzengefühl und winzigste Nuancen in Szenen- und Wortwahl an.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn es nichts Philosophisches werden soll, pass auf, dass sein "Böse-Sein" der Geschichte dient, elementar für die Aussage ist. Bücher in denen sich der Prota praktisch nicht entwickelt sind immer schwierig, und finden meist nicht viele Liebhaber  :-\
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: pink_paulchen am 12. Januar 2013, 22:59:14
Ein tolles Beispiel zu dieser Frage ist diese Geschichte, die mich stark beeindruckt hat: kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=47275
Trotz der Kürze und extremen Brutalität hat sie durchweg tolle Kritiken bekommen. Ich meine der Grund ist der hier beschriebene: glaubhafter Charakter!
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Tanrien am 12. Januar 2013, 23:05:09
Zitat von: Debbie am 12. Januar 2013, 21:44:10
Ich finde auch nicht, dass es bezüglich dessen, zu was der Prota fähig ist, Grenzen gibt - abgesehen von Pädophilie, die an sich einfach gegen die Natur ist.
TW: Ausführungen zu Pädophilie und Pädosexuellen Handlungen
Auch psychische Störungen sind "natürlich", Vorsicht mit dem Wort, und hier muss man zwischen der Krankheit als Neigung und dann der Ausübung dieser Neigung trennen. Der Protagonist, der zwar pädophil ist, aber dagegen kämpft und auch nichts in die Richtung tut, kann vielleicht sogar noch richtig einfach sympathisch rüberkommen, eben als jemand, der eine psychische Krankheit hat. Ähnlich dem Drang zu Kannibalismus, solange da nichts für getan wird, ist das ja alles nur im Kopf des Protagonisten und wenn er das erkennt und bekämpft, kann der Leser da je nachdem vermutlich mitfühlen. Kommt auf die Darstellung an. Wenn der Autor den Charakter natürlich ausführlichst in Fantasien schwelgen lässt...

Bei demjenige, der pädosexuelle Handlungen betreibt (muss nicht pädophil (primär/nur an Kindern sexuell interessiert) sein) ist das hingegen ziemlich schwer, denke ich.

Wobei man sich nur mal die Realität angucken muss, wenn da Kinski seine Tochter missbraucht hat und er trotzdem noch verteidigt wird... Oder eben auch gern Fantasy, in denen die kindliche Prinzessin mit dem älteren Herrscher verheiratet wird, das ist für uns, Klartext gesprochen, ja auch eine pädosexuelle Handlung. Unmöglich ist die Sympathisierung des pädosexuellen Charakters also ganz sicher nicht.
/Ende TW

Ich stimme aber generell zu, dass man ziemlich vieles sympathisch wirken lassen kann, es muss nur der richtige Grund her, und der Magier betreibt ja keine schwarze Magie nur so, sondern hat eben ein Ziel. Und sei es, dass er sich beweisen möchte in der Welt und von seinem Ehrgeiz getrieben wird, und da der kleine Welpe, der für das Ritual ermordet werden muss, eben als "williges Opfer", das für seine Taten im Jenseits belohnt wird, gesehen wird. Gerade dieses Zurechtbiegen der Realität für aus unserer Sicht "objektiv böse" Taten kann ganz viel für des Lesers Sympathie tun.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 13. Januar 2013, 00:48:46
Ähm ... warum ist ein Teil deines Beitrags jetzt unkenntlich gemacht? Hab ich da was verpasst?  ???

Zur Sicherheit zitiere ich hier jetzt mal einfach nicht, widerspreche aber in fast allem. V. a. darin, dass man diese Neigung (Ausführung und deren Schilderung hin oder her) in irgendeiner Weise als nicht wenigstens irritierend, bzw. abstoßend darstellen kann. Die Beziehung, die ein geschlechtsreifes "Kind" (der Ausdruck trifft für mein Empfinden dann nicht mehr zu) willentlich mit einem Erwachsenen eingeht, mag als verständlich dargestellt werden, als tragische Liebe oder sowas, aber jemand (und ich schreibe hier ausdrücklich nicht "ein Mann") der sich von noch nicht geschleichtsreifen Kindern, bzw. von Kindern, deren Geschlechtsmerkmale noch nicht (voll) entwickelt sind, sexuell angezogen fühlt, kann für mein Empfinden niemals sympathisch dargestellt werden.

Und die Frage war ja, was wir, als Leser, als Grenze empfinden - und genau das ist meine absolute Grenze!
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 13. Januar 2013, 01:13:42
Möchte jetzt erst kurz deine Frage beantworten warum einiges in Tanriens Beitrag weiß ist: Ich leite mal aus der Abkürzung TW (Themawechsel) ab, dass Tanrien der Meinung war, dass die theoretischen Ausführungen zu Pädophilie ein bisschen zu weit weg sind von der eigentlichen Fragestellung und daher jeder selbst entscheiden sollte, ob er diesen kurzen Exkurs lesen will oder nicht und für die, die keine Exkurse mögen ist der Sichtschutz da.

Ansonsten (und ich halte das jetzt möglichst allgemein, damit ich das nicht auch machen sollte  ;)) bin ich im Übrigen der Meinung, dass sehr viel mehr als sympathisch oder verständlich dargestellt werden kann, als die meisten Menschen sich vorstellen können. Ich selbst neige wie gesagt zu genau solchen Figuren zumindest in einer Reihe von mir und ich schätze diese Reihe sehr, weil sie ... viel von mir fordert und handwerklich einiges zum Vorschein gebracht hat und außerdem die interessantesten Charaktere hat - eines war die vorher erwähnte Protagonistin, etwas anderes der in Band 2 folgende erst Mit - und dann Gegenspieler. Der hat einen Lolita-Komplex,  was zumindest nah an Pädophilie ist und auch dort hat sich niemand beschwert, dass er unsympathisch sei. Er hat es nie ausgelebt und er geht sehr hart mit sich ins Gericht - ich denke, so lange immer klar bleibt, dass solche Dinge oftmals auf einer psychischen Störung beruhen und die Täter oftmals eher Opfer ihrer eigenen Psyche sind, denn die meisten leiden doch sehr unter ihrem eigenen Tun - kann man das durchaus ebenfalls sympathisch darstellen. Sympathisch im Sinne von: Man distanziert sich von den Taten, kann aber durchaus Mitleid mit dem Täter empfinden, kann durchaus auch sagen: Ich heiße nicht gut, was er tut, aber irgendwie verstehe ich, warum er es tut. Grauenvoll ist es dennoch. Letztlich wäre ein pädophiler, der in seinem Leidenskampf geschildert wird, wie er dagegen kämpft, wie er sich selbst deswegen hasst und was er alles dagegen tut meiner Meinung nach ein sehr tragender, sehr interessanter, auch tragischer und wahrscheinlich auch in einer gewissen Art sympathischer Charakter.
So sympathisch, wie einem Menschen eben noch sein können, die für das eigene Empfinden grauenvolle Dinge tun und die man trotzdem nicht ohne jede Einschränkung verurteilen und irgendwo auch verstehen kann - oftmals sind solche Fälle nämlich eine riesige Tragödie aller Beteiligten - den Täter mit eingeschlossen.
Und dann - aber ausschließlich nur dann, kann es denke ich schon möglich sein, so etwas nachvollziehbar zu schildern und ohne dass der Leser richtigen Hass auf den Täter entwickelt - also irgendwie eben doch noch sympathisch.

Da ist aber immer die Frage, wie man jetzt sympathisch definiert und dazu kommt oftmals auch, wie man so was allgemein sieht und/oder wie nah man selbst an dem Thema ist. Ich denke, nochmal beim Beispiel der Pädophilie, dass es jemandem, der selbst Elternteil ist, schwerer fällt, die Täter solcher Dinge als keine Monster, sondern Menschen, die etwas dazu getrieben hat und die möglicherweise selbst Opfer einer riesigen Tragödie sind, die sie erst zu dem gemacht hat, die sich selbst dafür hassen und täglich dagegen kämpfen, zu sehen, als jemand, der da vollkommen unbelastet rangehen kann.
All das sollte man denke ich schon beachten.

Zum Beispiel zuvor noch: Ich glaube, Arcor und auch Fianna, da gab es ein kleines Missverständnis: Bei meiner Protagonistin war ab dem ersten Kapitel klar, wie sie tickt und dass sie sich wahrscheinlich noch stärker in diese Richtung entwickeln wird - wobei einige der heftigsten Fälle, die Folter beispielsweise (die nicht als Folter angelegt war, sondern als Teil ihres Weltbildes) erst später reingespielt haben und vorher nicht abzusehen waren. Ich spielte jetzt vor allem an die Erwartungshaltung vor dem Lesen (oder Kaufen) eines Buches und dann mit dem Lesen der ersten Kapitel an - also es sollte nicht vor dem Kauf/Lesen durch Gespräche oder den Klappentext ersichtlich sein, dass es da einen Prota geben wird, der so weit geht, dass es an menschliches Grenzempfinden stoßen könnte, denn ohne die Atmosphäre und Erklärung des Buches können sich viele gar nicht vorstellen, dass sie das möglicherweise als erklärbar einschätzen werden - das war zumindest bei mir so, dass wenn ich hinterher gefragt habe, ob die Leser, wenn ich sie vor dem Buch gefragt hätte, ob sie sich vorstellen könnten, jemanden der so etwas tut als sympathisch/seine Taten als verständlich zu empfinden, antworteten die meisten Nein  ;). Und einer meiner Leser, der diese Protagonistin übrigens zumindest nachvollziehbar fand war eine ältere Dame - es hat sich also hier nicht nur um speziell von mir dafür ausgesuchte Leser gehandelt, die gewohnt waren, Hartes und Grenzwertiges geliefert zu bekommen oder Menschen, die allgemein eher bereit sind, außergewöhnliches anzunehmen und zu hinterfragen - die alte Dame denkt normalerweise eher konservativ.
Hoffe, diese Erfahrungen können bei der Einschätzung etwas helfen - ich fand das damals unglaublich verblüffend. Hat aber auch viel Spaß gemacht auch wenn es an die Nieren ging.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Tanrien am 13. Januar 2013, 09:56:55
Zitat von: Valaé am 13. Januar 2013, 01:13:42
Möchte jetzt erst kurz deine Frage beantworten warum einiges in Tanriens Beitrag weiß ist: Ich leite mal aus der Abkürzung TW (Themawechsel) ab, dass Tanrien der Meinung war, dass die theoretischen Ausführungen zu Pädophilie ein bisschen zu weit weg sind von der eigentlichen Fragestellung und daher jeder selbst entscheiden sollte, ob er diesen kurzen Exkurs lesen will oder nicht und für die, die keine Exkurse mögen ist der Sichtschutz da.
Fast! TW heißt hier Trigger Warning, was für mich gerade bei so einem Thema angemessen erschien. In weiß kann dann jede/r selber entscheiden, ob er/sie es lesen möchte. :)
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Churke am 13. Januar 2013, 10:50:03
Arcors ursprüngliche Frage drehte sich darum, wann ein Protagonist noch als Identifikationsfigur taugt.

Der Bad Guy hat auf jeden Fall seinen Reiz. Da sehe ich die Parallele zum Gangsterfilm, in dem die Helden auch allesamt Schwerverbrecher sind. John Dillinger war ein absoluter Womanizer. Seine Affären ziehen sich wie ein roter Faden durch die FBI-Akten. Was ihn sympathisch macht, im Gegensatz zu Baby Face Nelson und anderen, sind seine höflichen Umgangsformen und der zurückhaltende Einsatz der Bleispritze. Er erschießt - jedenfalls im Kino - nie jemanden, wenn es nicht "notwendig" ist. Während Baby Face Nelson mit der Maschinenpistole in Banken herum ballert, weil er findet, dass 1.000 $ Kopfgeld zu wenig sind.

Die Sympahtiewerte beim Leser kann man auf zwei Arten beeinflussen:
a) Die Selbstreflexion der Figur. Ist sie entschlossen/zögerlich/fanatisch/sarkastisch/witzig/pervers...?
b) Das Handeln der Figur. Ein Schurke, der Milde zeigt. Oder ein "Held", der sich als Kriegsverbrecher betätigt.




Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Ratzefatz am 13. Januar 2013, 12:06:58
Meinst du den Film "Public Enemies"? Ich muss gestehen, dass mir und einer anderen Zuseherin darin John Dillinger, obwohl er von Johnny Depp gespielt wurde, absolut unsympathisch war. Allein schon die Bessenheit damit, wer ihn nun "Johnny" nennen darf und wer nicht, ging uns auf die Nerven, und generell fanden wir nichts Heroisches an ihm.
(Seine Freundin war genauso schlimm: "Oh, mein Johnny hat beim ersten Date einen unbeteiligten Dritten aus nichtigem Grund zusammengeschlagen. Er ist ja sooo ein Romantiker!")

Überhaupt habe ich in gewissen Hollywood-Filmen einen Trend bemerkt, den "Helden" dadurch heroisch wirken zu lassen, dass alle anderen Charaktere noch übler sind. Meiner Meinung nach funktioniert so etwas nicht - sprich, der "Held" muss, um mich als Leser/Zuseher zu überzeugen, absolut gesehen positive Eigenschaften haben, nicht nur relativ gesehen weniger schlechte Eigenschaften oder weniger ausgeprägte schlechte Eigenschaften als die anderen. Als negatives Beispiel fiele mir "The Mechanic" ein. Oder auch "3000 Miles to Graceland", wo der von Kevin Costner gespielte Antagonist sogar selbst anmerkt, dass Kurt Russells "Held" ein "bad guy" ist: "Maybe not as bad as me, but still a bad guy." (Wobei ich "3000 Miles" für den besseren Film halte, aber hinsichtlich dessen, ob mich der "Held" von seiner "Heldenhaftigkeit" überzeugen kann, fällt er ebenso flach wie "The Mechanic" und "Public Enemies".)

LG
Ratzefatz
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Kati am 13. Januar 2013, 14:44:53
Ich denke, der Leser akzeptiert gern Dinge, die als "gut" gekennzeichnet werden. Wenn der Held nun ein ganz dunkler Typ ist, und tausende von Menschen metzelt, dies aber im Namen des Guten geschieht, akzeptieren wir es - merkwürdigerweise - sehr schnell. Tut er aber genau dasselbe im Namen des Bösen sind wir empört und hassen ihn - es sei denn, es wird als nachvollziehbar und "aus guten Gründen" dargestellt. Und aus ein und derselben Sache kann man als Autor beides machen. Wer gut mit Worten arbeiten kann, kann fast alles sympathisch oder wenigstens nachvollziehbar darstellen.

Ich stimme zu, dass es bestimmte Grenzen gibt, aber wo die liegen muss jeder selbst entscheiden. Debbies Argument kann ich verstehen, doch ich würde da die Grenze wie andere hier nicht bei Pädophilie selbst ziehen, sondern beim Praktizieren. Ein Protagonist, der mit sich selbst und seinen Neigungen hadert, kann sehr interessant sein. (Und mit dem Begriff "gegen die Natur" würde ich sehr vorsichtig sein. Bloß weil etwas grausam und merkwürdig wirkt, sucht sich der Mensch diese Neigungen selbst auch nicht aus und psychische Krankheiten sind nichts Widernatürliches.)

Wo ich aber ganz schnell die Grenze ziehe, sind menschenverachtende Praktiken und Gedanken, die einfach nicht hinterfragt werden. Das muss nicht einmal in Gewalt umschlagen. Wo bei mir ganz schnell Schluss war, war eine Protagonistin, die durch ihr selbstsüchtiges Verhalten den Tod eines anderen Menschen verschuldet hat, allerdings keinerlei Schuldgefühle hat oder sogar versteht, dass sie Schuld ist. Um bei dem drastischen Beispiel zu bleiben, könnte ich niemals mit einem Protagonisten umgehen, der seinen Neigungen einfach nachgibt und dabei keinen Gedanken daran verschwendet, dass er etwas sehr Falsches tut. Und wenn der strahlende Held einen Menschen für das Gute tötet, hinterher aber nicht einmal darüber nachdenkt, dass er ein Leben genommen hat, geht mir das auch gegen den Strich.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: canis lupus niger am 13. Januar 2013, 15:13:50
Bei der Antwort auf die Eingangsfrage würde ich stark differenzieren. Es kommt einfach "darauf an".

Die Frage würde ich ein wenig umformulieren, um sie zu beantworten: Was würde man dem Prota noch verzeihen, und was nicht?
Und meine Antwort darauf wäre: Verzeihlich oder zumindest nachvollziehbar wäre das, was "unter den gegebenen Umständen" verzeihlich und nachvollziehbar wäre.

Gewalt gegen Hilflose/Unschuldige?
Dann nachvollziehbar, wenn es sich umden eigenen Überlebenskampf handelt, denke ich. Was schert mich der süße Hundewelpe, wenn ich mich in einer Notwehrsituation befinde? Würde ich sterben wollen, oder meine Niederlage in Kauf nehmen, wenn ein (mir fremder) Säugling in der Schusslinie liegt und schreit?

Es ist, denke ich, die Situation, die eventuell auch undenkbare Dinge rechtfertigen kann. Wenn schon Tausende gestorben sind (auch Frauen, Kinder und Hundewelpen), dann bin ich als Verantwortlicher schon zu sehr abgestumpft, um mich schuldig zu fühlen und deswegen aufzuhören. Das Problem ist, dies dem Leser zu vermitteln.

Und, ehrlich: Eine Frau zu verletzen oder /und umzubringen? Vergewaltigungen? Glaubt hier jemand, dass irgendeine Armee der Welt, egal ob "gut" oder "böse" (was ohnehin vom Sieger definiert wird) davor jemals zurück geschreckt ist? Spätestens, wenn die betreffende Frau selber an den gewalttätigen Handlungen beteiligt ist, hört ihr "Welpenschutz" auf. Eine söldnerin wird genauso getötet werden, wie ihre männlichen Kollegen. Eine Ärztin, die Menschenversuche an Kindern unternimmt, darf sicher nicht auf einen Kavalier unter den Angreifern hoffen. Die böse Hexe/Königin/Stiefmutter im Märchen wurde auch in den Ofen gesteckt, bzw. in einen Sack und von wilden Pferden zertrampelt.

Folter?
Wenn ich dadurch den Untergang meiner eigenen Armee oder /und den Tod vieler Unschuldiger verhindern kann? Die Moral der Entscheidung kann sehr stark durch die Umstände beeinflusst werden. Ich habe gerade eine Szene fertig, in der der Prota einer Gruppe von Gegnern nur vortäuscht, einen von ihnen zu foltern (Er richtet und schient dessen gebrochenen Arm, während die anderen nicht zusehen können. Das Schmerzgeschrei dabei täuscht Misshandlungen vor. Der schlechte Ruf des Prota tut ein Übriges. Die Anderen sind danach viel gesprächsbereiter.) Ist das Verursachen von Schmerzen, um eine Information zu bekommen, in jedem Fall verwerflich?

Diese Umstände dem Leser so zu vermitteln, dass er sich auf der Seite des "bösen" Protagonisten immer noch besser fühlt, als auf der Seite seiner Gegner, ist hier die Kunst.
 
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 13. Januar 2013, 15:26:03
Zitat von: Valaé am 13. Januar 2013, 01:13:42
Er hat es nie ausgelebt und er geht sehr hart mit sich ins Gericht - ich denke, so lange immer klar bleibt, dass solche Dinge oftmals auf einer psychischen Störung beruhen und die Täter oftmals eher Opfer ihrer eigenen Psyche sind, denn die meisten leiden doch sehr unter ihrem eigenen Tun - kann man das durchaus ebenfalls sympathisch darstellen. Sympathisch im Sinne von: Man distanziert sich von den Taten, kann aber durchaus Mitleid mit dem Täter empfinden, kann durchaus auch sagen: Ich heiße nicht gut, was er tut, aber irgendwie verstehe ich, warum er es tut. Grauenvoll ist es dennoch. Letztlich wäre ein pädophiler, der in seinem Leidenskampf geschildert wird, wie er dagegen kämpft, wie er sich selbst deswegen hasst und was er alles dagegen tut meiner Meinung nach ein sehr tragender, sehr interessanter, auch tragischer und wahrscheinlich auch in einer gewissen Art sympathischer Charakter.
So sympathisch, wie einem Menschen eben noch sein können, die für das eigene Empfinden grauenvolle Dinge tun und die man trotzdem nicht ohne jede Einschränkung verurteilen und irgendwo auch verstehen kann - oftmals sind solche Fälle nämlich eine riesige Tragödie aller Beteiligten - den Täter mit eingeschlossen.
Und dann - aber ausschließlich nur dann, kann es denke ich schon möglich sein, so etwas nachvollziehbar zu schildern und ohne dass der Leser richtigen Hass auf den Täter entwickelt - also irgendwie eben doch noch sympathisch.

Da ist aber immer die Frage, wie man jetzt sympathisch definiert und dazu kommt oftmals auch, wie man so was allgemein sieht und/oder wie nah man selbst an dem Thema ist. Ich denke, nochmal beim Beispiel der Pädophilie, dass es jemandem, der selbst Elternteil ist, schwerer fällt, die Täter solcher Dinge als keine Monster, sondern Menschen, die etwas dazu getrieben hat und die möglicherweise selbst Opfer einer riesigen Tragödie sind, die sie erst zu dem gemacht hat, die sich selbst dafür hassen und täglich dagegen kämpfen, zu sehen, als jemand, der da vollkommen unbelastet rangehen kann.
All das sollte man denke ich schon beachten.

Für mich fängt es schon da an extrem bedenklich zu werden, wenn ein Autor den Wunsch hat, einen Pädophilen als Sympathieträger darzustellen  :no:  Das geht meines Erachtens schon garnicht - und man bedenke, ich war nie selbst betroffen. Aber soweit sollte das menschliche (und das Autoren-) Vorstellungsvermögen reichen, sich vorstellen zu können, was mit den Opfern passiert und was sie durchleiden. Und meiner Meinung nach gibt es in dem Fall auch nur ein Opfer!

Und mit dem Begriff "unnatürlich" bin ich keineswegs zimperlich in diesem Zusammenhang, weil es noch das netteste Attribut ist, dass ich so einem Menschen zugestehen kann. Sexuelle Vorlieben und Neigungen haben für mich auch überhaupt nichts mit psychischer Störung zu tun - Pädophilie ist m. E. genauso wenig eine Krankheit wie Homo- oder Heterosexualtiät (Egal was die Psychologie dazu sagt, die haben schließlich Anfang letzten Jahrhunderts die "Verrückten" noch mit Elektroschocks therapiert - die Psychologen haben die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen, und von einer genauen Wissenschaft kann da wohl kaum die Rede sein). Nur, wer immer sexuelle Handlungen an jemand wehrlosem, unwilligem oder nicht entscheidungsfähigen Menschen/Tier vornimmt, gehört für mich einer Kategorie Mensch an, die es nicht geben sollte. Und ich bedaure es jedes Mal aufs Neue, wenn ich Nachrichten über Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch lesen muss, dass es bei uns keine Todesstrafe mehr gibt - wobei lebenslänglich Gefängnis als Pädophiler sicherlich auch seinen ganz eigenen Reiz hat ...

Leider wird das Thema in der Öffentlichkeit aber immer noch weitestgehend verdrängt, verharmlost - und bei den Gerichten meist wie ein Kavaliersdelikt geahndet. Da muss man den Opfern nicht noch weiter ins Gesicht schlagen, indem man literarische Figuren erfindet, die dem klassischen Täterprofil entsprechen und diese dann auch noch als Sympathieträger oder Opfer darstellt ... Das überschreitet für mich ganz deutlich die Grenzen des guten Geschmacks! Und dem Autor unterstelle ich in diesem Fall, guten Gewissens, dass er die Idee entweder in geistiger Umnachtung hatte, oder völlig verantwortungslos ist.

Natürlich kann ein Mensch mit diesen Neigungen nichts dafür - sofern er tatsächlich pädophil und nicht einfach sadistisch, machtbesessen, neugierig oder dergleichen ist - aber das Nichtausleben seiner Neigung ist das mindeste was man erwarten kann, und definitv kein Grund ihm einen Orden zu verleihen, Mitleid mit ihm zu haben, oder gar die Öffentlichkeit auf seinen "heroischen Kampf mit sich selbst" aufmerksam zu machen.

Egal was man schreibt, man sollte dabei niemals vergessen welche Verantwortung man als Autor trägt - sofern man sich mit Veröffentlichungsabsichten trägt.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Cairiel am 13. Januar 2013, 15:41:30
Zitat von: Debbie am 13. Januar 2013, 15:26:03
Natürlich kann ein Mensch mit diesen Neigungen nichts dafür - sofern er tatsächlich pädophil und nicht einfach sadistisch, machtbesessen, neugierig oder dergleichen ist - aber das Nichtausleben seiner Neigung ist das mindeste was man erwarten kann, und definitv kein Grund ihm einen Orden zu verleihen, Mitleid mit ihm zu haben, oder gar die Öffentlichkeit auf seinen "heroischen Kampf mit sich selbst" aufmerksam zu machen.
Ich denke schon, dass man Mitleid mit solchen Menschen haben sollte (sofern sie diese Neigung unterdrücken, versteht sich). Ich stelle mir das schrecklich vor. Unfähig, richtig zu lieben, mit einem ständigen Schamgefühl und Hass auf sich selbst ... Ich würde mir die Kugel geben.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 13. Januar 2013, 15:57:00
Zitat von: Cairiel am 13. Januar 2013, 15:41:30
Ich denke schon, dass man Mitleid mit solchen Menschen haben sollte (sofern sie diese Neigung unterdrücken, versteht sich). Ich stelle mir das schrecklich vor. Unfähig, richtig zu lieben, mit einem ständigen Schamgefühl und Hass auf sich selbst ... Ich würde mir die Kugel geben.

Ja, ich auch - steht ja jedem frei. Aber ganz sicher würde ich kein Mitleid oder Sympathie von anderen erwarten, dafür, dass ich anderen Menschen nicht das Leben zerstöre; das ist für mich völlig grotesk!
Und wenn man schon Mitleid mit solchen Menschen haben will/hat, dann kann man eine entsprechende Berufslaufbahn einschlagen - als Autor, der es als Herzensangelegenheit empfindet, durch seinen Beruf auf das schlimme Leiden der Betroffenen aufmerksam zu machen, sie als tragische Helden (das Wort allein ist in diesem Zusammenhang bereits ein Paradoxon) darzustellen, ist man dann aber vielleicht weniger geeignet. Da sollte man dann noch mal ganz stark in sich gehen ...
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 13. Januar 2013, 16:13:48
Von vorneherein, Debbie, würde ich dich sehr bitten, dich hier mit Anschuldigungen und anfangenden Beleidigungen zurückzuhalten - weil ich mich doch angegriffen fühle, wenn ich zugegeben habe, dass ich solche Protagonisten habe und du Autoren die solche Dinge beschreiben Verantwortungslosigkeit unterstellst - da kann ich dann durchaus darauf schließen dass du mir Verantwortungslosigkeit unterstellst, und, das muss ich frei heraus sagen, ich finde es nicht angebracht, einem Menschen irgendetwas zu unterstellen, bevor man überhaupt liest, wie er es gemacht hat und ob er nicht vielleicht sehr sensibel mit dem Thema umgeht.
Ansonsten würde ich dich gerne bitten, das Extremthema, das hier ja doch ein spezifischer Einzelfall ist, dann ins Private zu verschieben, besonders wenn du dich hauptsächlich auf meine Argumentationen beziehst, ich möchte den Thread hier nicht für eine Diskussion zwischen zwei TiZilern um ein Randthema missbrauchen.
Aber da deine ... ja, ich würde es schon ganz gerne Anschuldigungen nennen ... nun öffentlich stehen möchte ich mich auch öffentlich dazu äußern:

Zitateinen Pädophilen als Sympathieträger darzustellen
Ich bin selbst darauf eingegangen, dass es eine Frage ist, wie man Sympathie versteht. Eine Identifikationsfigur sind solche Charaktere sicher nicht - sympathiefähig hieß bei mir immer nur, dass es möglich ist, sie so darzustellen, dass man sie nicht von vornerherein verurteilen muss, sondern ein gewisses - kein vollkommenes, aber ein gewisses - Verständnis zu wecken.

Nun, dein Argument mit dem Vorstellungsvermögen kann ich bis zu einem bestimmten Grad zurückgeben: Ich finde nun einmal, ein Autor sollte auch genügend Vorstellunsgkraft haben, sich in den Täter hineinzuversetzen, was er fühlt und warum er so etwas tut - und ich muss zugeben, dass ich diesen Bereich um ein Vielfaches spannender und ambivalenter finde als das bloße Opfer, dessen Erlebnis keine Frage traumatisierend und sicher an Grausamkeit schwer zu überbieten ist, das aber außerhalb der Bewältigung dieses Erlebnisses kaum literarisches Entwicklungspotential bietet und auch nur wenig die Frage nach dem Warum stellt. Ein Roman, der dieses Thema behandelt und den Täter ausschließlich als Monster darstellt, fände ich nun wiederum problematisch auch gerade im Bezug auf das Opfer, weil es postuliert, es gibt grausame Menschen und die sind einfach so und da kann man nichts gegen tun und wenn die sich nicht unter Kontrolle haben dann pasisert so eine Tragödie - anstatt kritisch darauf einzugehen, welche Umstände einen Täter erst zu so etwas machen können und inwieweit vielleicht auch jeder Mensch und die Gesellschaft, die solche Täter hervorbringt, mit zur Verantwortung zu ziehen ist - das finde ich nämlich viel spannender als die bloße Frage nach dem Opfer, denn dessen Leiden kann man gar nicht in aller Ausführlichkeit und so darstellen, dass die ihm gerecht wird - es ist also für mich eine Frage des Anspruchs, was ich mit einem solchen Buch anfangen will - will ich nur einem Opfer Respekt zollen und Mitleid für es erwecken? Dann braucht es dafür meiner Meinung nach kein Buch, das kann dieser Grausamkeit sowieso nicht gerecht werden. Oder will ich Hintergründe beleuchten? Dann brauche ich einen ambivalenten Täter und der hat immer eine menschliche Seite, solche Täter sind auch keine Monster - sie sind Menschen. Und ich glaube daran, dass fast jeder so werden könnte, wenn die richtigen (falschen?) Gegebenheiten da sind.

Nun, du ziehst ja selbst den Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie - sexuelle Vorlieben kann ein Mensch nicht ändern, dieser Mensch kann nichts dafür, zu was er sich angezogen fühlt. Du sagtest, du würdest einen Menschen für das bloße Gefühl der Anziehungskraft zu Kindern verurteilen und das ist eben etwas, womit ich nicht konform gehen kann. Ich bin der Meinung, für Gefühle kann man niemanden verurteilen, nur für die Auslebung derselben. Ich will einen Pädophilen nicht als sympathisch darstellen - nur als Mensch. Und dann darf jeder selbst entscheiden, ob er das sympathisch findet, oder nicht.
Du sprichst immer wieder vom Ausleben der Sexualität - keiner von denen, die sich hier dafür ausgesprochen haben, die Pädophilie durchaus auch als darstellbar zu betrachten, hat von Ausübung gesprochen. Wir sagten alle, dass es bei den Gedanken und dem mit sich selbst ins Gericht gehen bleiben muss, alles andere wird abscheulich. Ich würde dich bitten, dann auch bei diesem Argument zu bleiben.

Dazu kommt dass du hier von vornerherein Dinge annimmst, die so nicht gesagt wurden - weder habe ich behauptet, dass ich Figuren erfinde, die dem klassischen Täterprofil entsprechen, zumal ich bezweifle, dass es so etwas wirklich gibt, ich halte jede Figur für einen einzigartigen Charakter und würde niemals eine von ihnen auf ein "klassisches Täterprofil" herunterbrechen. Dazu kommt, dass ich nie behauptet habe, die Figur als Sympathieträger oder Opfer darzustellen - nur, dass ich sie selbst bis zu einem bestimmten Grad nicht unsympathisch empfinde (das heißt nicht, dass ich mich mit ihnen identifizieren kann oder sie sympathisch finde, nur dass ich sie nicht  kompromisslos verurteilen kann, dass sie eine menschliche Seite haben, ambivalent sind) und dass ich denke, dass sie zwar nicht Opfer in dem Sinne sind, wie es ihre Opfer sind und dass sie durchaus eine Verantwortung haben, ihre Sexualität nicht auszuüben, aber ich gestehe ihnen auch zu, dass das sicher nicht ganz einfach ist, das man an so etwas auch zugrunde gehen kann und dass das dann durchaus auch tragisch sein kann, das sie durchaus auch Opfer ihrer eigenen Natur sind/sein können - immer vorausgesetzt, dass sie diese Natur nicht ausleben. Einen Täter, der seine Natur auslebt dann als Opfer darzustellen fände ich genauso geschmacklos wie du - der hatte nicht die Stärke, seinen Drang zu unterdrücken und hat seine Lust an Werhlosen ausgelassen - keine Worte für eine solche Tat.
Aber es geht mir ja niemals um die Tat - es geht mir um den Kampf, diese Tat eben nicht auszuführen, und ich glaube, dass dieser Kampf durchaus auch Beachtung, Mitleid und Respekt verdient - dieselbe Beachtung, dasselbe Mitleid und denselben Respekt, den wir einem Süchtigen zollen, der aufhört, weil er Angst hat im Rausch jemandem etwas anzutun. Nicht mehr und nicht weniger habe ich gesagt und ich glaube nciht, dass ich irgendeinem Opfer "ins Gesicht schlage" wenn ich versuche, zu ergründen, was in einem solchen Menschen vorgeht, weil ich verstehen will, weil ich sehen will, was man vielleicht auch als Gesellschaft tun kann, damit so etwas sich gar nicht erst entwickelt. Immer unter der Prämisse, dass cih keinen Menschen verglorifiziere, der nicht stark genug war, seinen Begierden zu widerstehen - dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber jemanden für die bloße Neigung zu verurteilen halte ich auch nicht für richtig.
Zudem halte ich es für möglich, einen Protagonisten an dem Wissen, wenn er diese Tat einmal verübt hat, zugrunde gehen zu lassen und die Gewissensbisse, die er dann da hat, als weder heroisch noch übermäßig toll hinzustellen - aber als das Richtige und damit zu zeigen, dass er zumindest etwas Menschliches in sich hat - solange auch von der Figur selbst verurteilt wird, dass er zu schwach war, sich selbst zu zügeln - und dafür darf es keine Entschuldigung geben, wenn der Täter diese Schuld annimmt und mit ihr lebt hat er für mich durchaus eine gewisse Ambivalenz, die ihn nicht durch und durch böse macht - aber natürlich auch nicht gut oder gar heldenhaft.
Ich habe nie behauptet, das als "heroischen Kampf mit sich selbst" darzustellen. Streich das heroisch bitte weg, solche Menschen sind keine Helden, ich habe nie Helden. Ich hasse Helden. Es ist ein Kampf. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Kampf, der sicher nicht einfach ist, aber notwendig, und den man gewinnen muss, ohne Frage und ohne Kompromis. Ich denke aber doch, das es schwer ist, mit so einem Kampf zu leben und das es zumindest ein gewisses Maß an Verständnis verdient (und wieder, solange es nicht ausgeübt wird) dass das nicht leicht ist. Es ist nicht notwendig einem Menschen vor Dankbarkeit die Füße zu Küssen weil er sich da beherrschen kann - diese Beherrschung ist in der Tat seine Verantwortung, wenn er diese Neigung hat - aber ich finde es auch nicht richtig, vollkommen außer Acht zu lassen, dass das nicht einfach ist.
Und ich finde, es ist die Verantwortung des Autors, diese Gratwanderung zu tun und deutlich zu zeigen, was die Verantwortung eines solchen Menschen ist, dass das nicht leicht ist, aber dass er es schaffen muss, weil er sonst Dinge tut die absolut abscheulich sind - es ist eine Gratwanderung und es ist die Verantwortung des Autors, das anständig darzustellen, sonst sollte er es bleiben lassen. Ich halte es für wichtig, eine ambivalente, komplexe Struktur auch ambivalent und komplex aufzuzeigen und mit aller gebotener Vorsicht heranzugehen - dann aber halte ich es für möglich, einen Charakter als Menschen (und jemand, den wir als Menschen empfinden ist uns immer irgendwo sympathisch im Sinne von: Wir können ihn irgendwo verstehen, er ist kein Monster) darzustellen, der solche Neigungen hat.
Und ich möchte dich bitten, auch wenn ich deine Aufregung verstehe, hier zu gefühlslastige Äußerungen dir zu verkneifen - ich möchte objektiv mit diesem Thema umgehen eben weil es sehr emotional ist und ich möchte sachlich bleiben, ohne dass da persönliche Gefühle mit hinein spielen - ich fühle mich von zu schnellen, mir Dinge vorwerfenden Aussagen doch verletzt, bin ich doch einfach nur ein Mensch, der sich gerne mit allen Abgründen und ihren Hintergründen befasst, ohne von vorneherein gewissen Dingen so emotional gegenüberzustehen, dass es mir eine tiefere Betrachtung des ganzen verwerht - das ist alles. Deswegen schlage ich weder einem Opfer ins Gesicht, noch verherrliche ich einen Täter, noch bin ich mir meiner Verantwortung nicht bewusst - ich habe das Gefühl, das sind sehr drastische Aussagen, die du aus Gefühl heraus gesagt hast, ohne daran zu denken, dass ich mich vielleicht jahrelang damit beschäftigt habe, ob ich so etwas schreiben will und wenn ja wie und dass ich mir sehr viele Gedanken über meine Verantwortung, die Opfer und die Täter gemacht habe und aus der bloßen Beobachtung heraus, dass solche Fälle als "Kavaliersdelikt" behandelt werden, nicht auf mich schließen, dass ich das auch tun würde, nur weil ich hier geäußert habe, dass ich es für nciht unmöglich halte, einen solchen Charakter noch als Menschen darzustellen. Vielleicht bist du oft in Kontakt mit Menschen gekommen, die so etwas verharmlosen oder dir kommt allein die Aussage, die ich getätigt habe, verharmlosend vor, aber ich bitte dich doch, nicht zu persönlich und angreifend zu werden und darüber nachzudenken, ob die Vorwürfe wirklich treffen, denn ich habe mir immer Mühe gegeben, die Aussagen zu relativieren und zu erklären, zu welchen Bedingungen sie zutreffen.
Ich greife dich ja auch nicht an, weil du schon den Gedanken als unentschuldbar dargestellt hast, sondern habe durchaus Verständnis für diese Herangehensweise, auch wenn sie für mich nicht die Richtige ist - ich kann das verstehen, auch dass man sehr emotional wird, nur bitte ich dich, weil ich auch sachlich bleibe, bei den bloßen Argumenten zu bleiben und bei dem, was gesagt wurde und nicht Dinge vorzuwerfen, die so definitiv weder gesagt wurden, noch gemeint waren und die deine emotionale Interpretation einiger Aussagen sind.

So - bitte entschuldigt jetzt den langen Ausflug, ich wollte nur diese Anschuldigungen und Unterstellungen nicht einfach so stehen lassen (und das sind es für mich) - da sie öffentlich getan waren, finde ich es auch wichtig, mich öffentlich zu erklären, alle weiteren Diskussionen zu dem Thema werde ich nur noch privat beantworten, ich hoffe das ist in eurem Sinne, damit sich der Thread wieder dem Grundthema zuwenden kann und sich nicht an einem Spezialbeispiel aufhängt, wobei ich denke, das an diesem sehr drastischen Beispiel sicher auch schon vieles ersichtbar war (unter anderem, dass, wie ich ja schon erwähnt hatte, gewisse Themen sofortige Ablehnung auslösen, mit denen sich manche Menschen (verständlicherweise) nicht auseinandersetzen wollen und die Tiefe dann eben auch nicht ergründen wollen (für mich nicht verwerflich, lediglich nicht mein Weg) - bei diesen Themen kann man leicht Leser verlieren, wenn sie sofort ersichtlich sind.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Kati am 13. Januar 2013, 16:15:13
Debbie: Einerseits schreibst du, dass dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Andererseits bist du dagegen, das wir als Autoren Figuren erschaffen, die mit diesem Problem zu kämpfen haben. Und ja, ich nenne es ein Problem. Es gibt viele aufwühlende, wichtige Romane, die sich mit dem Thema aus Sicht der Opfer auseinandersetzen. Ich finde, es ist Zeit für Romane aus der Sicht der jeweiligen Menschen, die damit kämpfen, diese Neigungen zu haben, denn da muss man ansetzen, wenn man weitere solche Taten verhindern will. Das darf nicht totgeschwiegen oder verharmlost werden - auf keinen Fall für die Opfer, aber auch nicht für die "Täter". Wobei auch nicht jeder Pädophile gleich ein potentieller Täter ist, es gibt wohl durchaus Männer, die sich auch im Griff haben.

ZitatNur, wer immer sexuelle Handlungen an jemand wehrlosem, unwilligem oder nicht entscheidungsfähigen Menschen/Tier vornimmt, gehört für mich einer Kategorie Mensch an, die es nicht geben sollte.

Ich denke, jeder hier wird dir da zustimmen. Aber es geht hier soweit ich das mitbekommen habe um Figuren, die sich tatsächlich im Griff haben und wissen, dass ihre Wünsche schlecht sind und sie sie nicht ausleben dürfen. Ich finde es auch nicht unverantwortlich solche Figuren zu haben, ganz im Gegenteil: Du sagst ja selbst, die Gesellschaft schweigt zu viel über diese Themen. Wäre es nicht demnach sinnvoll eine solche Figur zu kreeiren? Niemand hier spricht schließlich von Verharmlosung oder gar Verherrlichung, sondern von dem Versuch den Lesern ein realistisches Bild der Lage zu geben. Ich weiß nicht genug über das Thema und ich halte mich auch nicht dazu fähig, gewissenhaft darüber zu schreiben, aber ich denke, dass es möglich ist und ich sehe das nicht als verantwortungslos an, sondern viel eher als Hinweis darauf, was in diesen Menschen vorgeht (vorgehen mag?), bevor sie zum Täter werden - wenn sie überhaupt jemals zum Täter werden.

ZitatNatürlich kann ein Mensch mit diesen Neigungen nichts dafür - sofern er tatsächlich pädophil und nicht einfach sadistisch, machtbesessen, neugierig oder dergleichen ist - aber das Nichtausleben seiner Neigung ist das mindeste was man erwarten kann, und definitv kein Grund ihm einen Orden zu verleihen, Mitleid mit ihm zu haben, oder gar die Öffentlichkeit auf seinen "heroischen Kampf mit sich selbst" aufmerksam zu machen.

Zum einen sagst du, der Jemand kann nichts dafür. Zum anderen sagst du, man kann erwarten, dass er es nicht auslebt. Ich möchte gar nicht wissen, wie hart es ist, mit solchen Wünschen zu kämpfen, zu wissen, dass es schlecht ist und doch nicht dagegen anzukommen. Und ja, ich finde es bewundernswert, wenn jemand sich trotzdem im Griff hat und in der Lage ist am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Solang er sich wirklich im Griff hat, heißt das. Eins ist wohl klar: Wir gehen hier bloß von Menschen aus, die nicht zum Täter werden. Ich glaube aber, du und ich können darüber beide nicht urteilen, Debbie. Wir stecken nicht in der Situation und wir wissen nicht, wie wir handeln würden, egal was wir jetzt sagen und denken.

Viel problematischer finde ich, dass wir Geschichten, in denen die "Helden" im Namen des Guten wie am Fließband morden einfach so hinnehmen. Ist es denn richtig, Mord als etwas Gutes darzustellen, wenn man doch "böse" Menschen ermordet? Ist es richtig, Mord als etwas Gutes hinzustellen, wenn es sich um eigentlich unschuldige Figuren handelt? (Was kann die arme Wache dafür, dass sie ihr Geld bei einem bösen König verdienen muss?) Wo ist da die Grenze und wieso stört das so wenig Leute?

EDIT: Jetzt war Valaé schneller und bringt es auch irgendwie besser auf den Punkt.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 13. Januar 2013, 16:23:24
Das "schneller" brachte mich jetzt zum Lachen, nachdem ich so lange an diesem Text saß  ;D.

ZitatViel problematischer finde ich, dass wir Geschichten, in denen die "Helden" im Namen des Guten wie am Fließband morden einfach so hinnehmen. Ist es denn richtig, Mord als etwas Gutes darzustellen, wenn man doch "böse" Menschen ermordet? Ist es richtig, Mord als etwas Gutes hinzustellen, wenn es sich um eigentlich unschuldige Figuren handelt? (Was kann die arme Wache dafür, dass sie ihr Geld bei einem bösen König verdienen muss?) Wo ist da die Grenze und wieso stört das so wenig Leute?
Das hier finde ich im Übrigen einen enorm guten Aspekt - das ist etwas, das mich schon lange an vielen Büchern stört - da wird gemordet und geschossen und geschnetzelt und gemetzelt, aber die Guten tun es ja nur gegen die Feinde und das die in Massen sterben, das nehmen wir einfach so hin, der Gute braucht keine Gewissensbisse und er bleibt ein strahlender Held, dessen weiße Weste aber auch schon sehr, sehr rot ist - aber wir nehmen es hin. Wenn dagegen der Böse auch nur einen einzigen Menschen, der für den Helden wichtig war, ermordet, dann darf der Held natürlich mit voller Gerechtigkeit Rache üben - das finde ich bedenklich ... und gerade weckt es in mir den Wunsch, da bei den nächsten Romanen, die ich konzipiere, genau hinzusehen wer wie was warum und mit welchen Gewissensbissen mordet - bisher hatte ich noch keine Guten die in Massen gemordet haben (nur ambivalente, bei denen es auch Thema war) aber ein Projekt nähert sich dieser Richtung - und gerade dieser Aspekt weckt jetzt bei mir den Wunsch, darüber zu schreiben und es anders zu machen, darauf aufmerksam zu machen - denn das ist etwas, das ich als meine Verantwortung mit ansehe: Aufmerksam machen. Auf unterschiedliche Sichtweisen. Auf verschiedene Perspektiven. Auf Probleme, auf Lösungen, auf Denkweisen.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Ratzefatz am 13. Januar 2013, 16:29:10
ZitatDas hier finde ich im Übrigen einen enorm guten Aspekt - das ist etwas, das mich schon lange an vielen Büchern stört - da wird gemordet und geschossen und geschnetzelt und gemetzelt, aber die Guten tun es ja nur gegen die Feinde und das die in Massen sterben, das nehmen wir einfach so hin, der Gute braucht keine Gewissensbisse und er bleibt ein strahlender Held, dessen weiße Weste aber auch schon sehr, sehr rot ist - aber wir nehmen es hin.

Ich fand es zum Beispiel im letzten Harry-Potter-Band schockierend, wie Harry und seine Freunde (oder, was das betrifft, die "guten" Zauberer als Gesamtheit) mit ihrer Umwelt umgehen. Egal ob Harry jemanden, der unhöflich zu McGonagall war, mit Crucificatus straft, oder ob Hermione das Gedächtnis ihrer Eltern mit Zauberei löscht - scheinbar genügt es Rowland, wenn die "Helden" halbwegs ehrbare Absichten haben, und das rechtfertigt dann alles. Dass ihre Reaktionen zum Teil völlig überzogen oder unmoralisch sind, spielt da keine Rolle. Im Gegenteil, McGonagall, die es als "gute" Autoritätsperson besser wissen sollte, bezeichnet Harrys Blutrünstigkeit noch als "sehr galant"!

LG
Ratzefatz
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Arcor am 13. Januar 2013, 16:45:27
Zitat von: Ratzefatz am 13. Januar 2013, 16:29:10
Ich fand es zum Beispiel im letzten Harry-Potter-Band schockierend, wie Harry und seine Freunde (oder, was das betrifft, die "guten" Zauberer als Gesamtheit) mit ihrer Umwelt umgehen. Egal ob Harry jemanden, der unhöflich zu McGonagall war, mit Crucificatus straft, oder ob Hermione das Gedächtnis ihrer Eltern mit Zauberei löscht - scheinbar genügt es Rowland, wenn die "Helden" halbwegs ehrbare Absichten haben, und das rechtfertigt dann alles. Dass ihre Reaktionen zum Teil völlig überzogen oder unmoralisch sind, spielt da keine Rolle. Im Gegenteil, McGonagall, die es als "gute" Autoritätsperson besser wissen sollte, bezeichnet Harrys Blutrünstigkeit noch als "sehr gallant"!
Das hat mich auch in den "Deathly Hallows" gestört. Harry benutzt einen Zauberspruch, der all die Bücher zuvor als klar böse und verboten dargestellt wird und es wird in dem Buch nicht einmal thematisiert. Harry denkt glaube ich an keinem Punkt darüber nach, was er da gerade tut, und auch sonst sagt niemand etwas dazu. Das fand ich furchtbar da neben. Wobei das jetzt eher was mit Weltzusammenhang zu tun hat.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 13. Januar 2013, 17:03:06
@Valaé: Ich hab dich nicht direkt angegriffen und auch nicht beschuldigt - aber wenn du dich angesprochen fühlst, wirst du schon wissen warum. Nach der ausführlichen Darlegung deiner Einstellung zu dem Thema, und der Äußerung, dass die Täter als literarische Figuren eben interessanter seien als die Opfer, bedarf es diesbezüglich auch keiner privaten Diskussion mehr! Schade, dass bei dir - wie bei so vielen anderen - das Interesse an den Gefühlen des Täters stärker zu sein scheint, als an denen des Opfers. Da ist es auch vergeudete Lebenszeit, länger darüber zu diskutieren. Wenn du mit dieser Einstellung jeden Morgen guten Gewissens in den Spiegel sehen kannst, dann ist das doch alles was zählt, oder?  ;)  Ich hoffe für dich, dass du niemals indirekt von dem Thema betroffen sein wirst!

@Kati: Mehr Aufmerksamkeit brauchen nur die Opfer - ganz sicher nicht die Täter, bzw. die potentiellen Täter. Die brauchen was anderes ...

Und ganz allgemein: Wie bereits erwähnt, ist in dem Fall die Grenze für mich erreicht, was das Thema "Wie weit darf ein Protagonist gehen?" angeht. Und an dem Tag, an dem ein Buch mit einem Protagonisten mit pädophilen Neigungen gesellschaftliche Anerkennung kriegt oder sogar zu einem Hype wird, werde ich sämtliche Exemplare des Buches in unserer Stadt aufkaufen und sie auf dem Marktplatz öffentlich verbrennen! Das ist mir dann jede Verfolgung der Strafbehörden wert  :snicker:
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Dealein am 13. Januar 2013, 17:11:10
Ich glaube es kommt darauf an wie das ganze Thema dargestellt wird. Ich lese sehr viel und kann auch sehr viel verkraften. Bisher habe ich nur 1 Buch zur Buchhandlung zurück gebracht, weil ich es einfach nicht weiterlesen konnte, obwohl nur Fantasien dargestellt wurden und keine tatsächlichen Handlungen. Es handelt sich hierbei um "Dein Wille geschehe" von Robotham. Da gingen mir die Beschreibungen des Täters einfach zu weit und ich konnte nicht weiterlesen. Aber vielleicht bin ich auch etwas sensibel?

Was Gewalt angeht, so habe ich bisher noch keine Grenze erreicht. Aber ich habe auch noch keine richtig schlimmen Bücher gelesen. Ich bin aber des Öfteren von mir selbst überrascht, wenn ich "Das Lied von Eis und Feuer" lese. Da gibt es so viele Personen, die schlimme Dinge getan haben und weiterhin tun und die ich trotzdem sehr gerne mag.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Kati am 13. Januar 2013, 17:21:53
Debbie: Ach, was brauchen die denn?  ;) Ich denke, wir können wirklich aufhören zu diskutieren, wir haben einfach verschiedene Meinungen zu dem Thema. Und ich finde deine bedenklicher, als die von Valaé, um ganz ehrlich zu sein. Und nochmal am Rande: Valaé gleich zu unterstellen, sie hätte mehr Interesse an den Gefühlen der Täter als an den Opfern finde ich grenzwertig. Das hat sie nicht gesagt und sicherlich auch nicht gemeint.

Valaé: Genau darauf will ich auch achten, bei meinen nächsten Plots. Ich habe es an mir selbst bemerkt, dass "Held tötet Antagonist" immer ein Muster war, dass auch in meinen Geschichten auftauchte und es hat mich auch erschreckt. Ich war immer zimperlich dabei, wenn es ums Töten ging und ich glaube, ich werde es für mich nicht weiter nutzen. Auch, wenn große Schlachten mit vielen Toten vieleicht "episch" sind, habe ich einfach kein gutes Gefühl dabei, meinen Protagonisten morden zu lassen, was das Zeug hält - und dann am besten noch ganz gewissenlos. Kritisch wird es, wenn das beim Bösewicht angekreidet wird und der Held dasselbe tut und gefeiert wird. Was soll das?
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Thaliope am 13. Januar 2013, 17:29:53
 :wache!:

Ich möchte euch bitten, in dieser Diskussion möglichst sachlich zu bleiben und auf Beleidigungen und Unterstellungen zu verzichten.
Ich weiß, das ist ein sehr heikles Thema, und da kochen auf allen Seiten leicht die Emotionen hoch. Also geht gerade hier vorsichtig und respektvoll miteinander um.
Lieben Dank
Thali
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 13. Januar 2013, 17:44:13
Direkt hast du mich nicht angegriffen,  Debbie, nein, aber indirekt durchaus, wie alle Autoren, die derartige Charaktere in ihren Büchern haben - deswegen fühle ich mich angesprochen, weil ich wichtig finde, dass man Autoren nicht direkt verurteilt, nur weil sie sich diesem Thema von beiden Seiten mit der gebotenen Feinfühligkeit nähern wollen. Im Übrigen finde ich es merkwürdig, dass du von vorneherein annimmst, dass ich nicht möglicherweise schon indirekte Erfahrungen mit diesem Thema gemacht habe, als könne jemand mit meinen Ansichten das nicht - ob diese Annahme deinerseits stimmt oder nicht spielt hier keine Rolle, ich wollte es nur aufzeigen, da ich mit Sicherheit mehr Erfahrung mit diesem Thema habe, als du annimmst.
Auch die von dir zitierte Aussage war von mir noch konkretisiert und wird von dir erneut nur mit der drastischsten Seite aufgefasst: Der Täter ist in sofern "interessanter" als das man an seinem Innenleben Möglichkeiten ausarbeiten kann, solche Tragödien zu vermeiden, an dem vom Opfer nicht. Zudem zeige ich meiner Meinung nach höchsten Respekt vor dem Opfer, da ich ganz klar deklariere, das ich nicht finde, dass man das Leid des Opfers auch nur ansatzweise literarisch darstellen kann und daher sind viele Versuche in diese Richtung verharmlosender als manch eine Täterdarstellung und zeigen meiner Meinung nach weniger Respekt dem Opfer gegenüber als eine Betrachtung, die sich auch um den Täter kümmert.
Und ja, mit der Einstellung, das mich interessiert, woher solche Neigungen kommen und wie man sie vielleicht verhindern kann, kann ich sehr gut in den Spiegel blicken.
Es wäre mir nur lieb, wenn du Autoren nicht gleich verurteilen würdest, nur weil sie eine andere Herangehensweise haben - solange sie nicht verherrlichend ist, sehe ich da keinen Grund, harsch zu werden, zumal wir immer klar gemacht haben, das es eben nicht verherrlichend werden darf.
Ansonsten denke ich aber auch, dass wir die Diskussion hier lassen können - ich finde nur schade, dass sie nicht vollkommen sachlich abgehen konnte, aber bei so einem heiklen Thema ist das sicher kein Wunder und ich bin es auch gewohnt, das gleich von meinem Interesse an der Ambivalenz auf meine Einstellung bezüglich solcher Straftaten geschlossen wird - dabei gehöre ich zu den Menschen, die solche Taten unter die absolut Unverzeihlichen buchen und stehe dem alles Andere als freundlich gegenüber, bin letztlich genauso geschockt über jede Vergewaltigungsmeldung im Fernsehen wie du - und nein, ich renne dann nicht hin und will für den Täter eine Erklärung suchen, die alles entschuldigt - eine Erklärung interessiert mich, aber sie entschuldigt nicht, wenn er es bereits getan hat.

Im Übrigen, und das ist auch der Grund, warum ich das hier noch beantworte, gibt es bereits Bücher und Serien, in denen diese Themata ausführlich behandelt werden und die ganz normal im Fernsehen laufen oder im Bücherregal stehen, sie werden auch nicht verurteilt und nicht verbrannt - Diskussionen gibt es, die sind auch sehr interessant. Erst vor kurzem habe ich eine CSI Folge gesehen, in der ein Pädophiler vorkam, der hat aber auch nichts getan, nur gegen seine Neigung gekämpft - so viel ich weiß war er kurz einer Tat verdächtig und hat sie aber nicht begangen, es war nicht in aller Ausführlichkeit dargelegt, aber angeschnitten und der Mann wirkte auch von der Darstellung nicht unsympathisch, eher sehr gequält. Er hat nichts getan und war am Ende auch unschuldig. Das war eine dieser Darstellungen. Bei Bedarf kann ich dir, Arcor, wenn du willst noch mehr Beispiele jetzt allgemein für grenzwertige Personen und Handlungen in Buch und Fernsehen heraussuchen, wenn du daran Interesse hast - da gibts auch einiges in der klassischen Literatur, sehr interessant. Meld dich einfach.

Kati: Dann werde ich in der Plotschmiede in diese Richtung besonders viele Augen auf deine Plots werfen und du auf meine, einverstanden?  ;D Da bei mir derzeit wieder Lust auf ein gewisses High Fantasy Projekt hochkocht wäre das die ideale Möglichkeit  :vibes:. So und jetzt verschwinde ich aus dem meine-Projekte-OT.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Debbie am 13. Januar 2013, 18:14:11
Nur kurz zur Klärung:


@Kati:
Zitat von: Kati am 13. Januar 2013, 17:21:53
Valaé gleich zu unterstellen, sie hätte mehr Interesse an den Gefühlen der Täter als an den Opfern finde ich grenzwertig. Das hat sie nicht gesagt und sicherlich auch nicht gemeint.

Zitat von: Valaé am 13. Januar 2013, 16:13:48und ich muss zugeben, dass ich diesen Bereich um ein Vielfaches spannender und ambivalenter finde als das bloße Opfer, dessen Erlebnis keine Frage traumatisierend und sicher an Grausamkeit schwer zu überbieten ist, das aber außerhalb der Bewältigung dieses Erlebnisses kaum literarisches Entwicklungspotential bietet und auch nur wenig die Frage nach dem Warum stellt.


Und dann noch:

Zitat von: Valaé am 13. Januar 2013, 17:44:13
... und ich bin es auch gewohnt, das gleich von meinem Interesse an der Ambivalenz auf meine Einstellung bezüglich solcher Straftaten geschlossen wird - dabei gehöre ich zu den Menschen, die solche Taten unter die absolut Unverzeihlichen buchen und stehe dem alles Andere als freundlich gegenüber, bin letztlich genauso geschockt über jede Vergewaltigungsmeldung im Fernsehen wie du - und nein, ich renne dann nicht hin und will für den Täter eine Erklärung suchen, die alles entschuldigt - eine Erklärung interessiert mich, aber sie entschuldigt nicht, wenn er es bereits getan hat.

Da könnte man dann ja mal über die Gewichtung in deiner Argumentation nachdenken - denn offensichtlich bin ich ja nicht die Einzige die das "falsch verstanden" hat  ;)

Und meiner Ansicht nach, war ich durchaus sachlich - wenn ich unsachlich und direkt werde, hört es sich anders an.  :engel:
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Kati am 13. Januar 2013, 18:26:39
Ich möchte mich da jetzt eigentlich raushalten, weil wir auf keinen gemeinsamen Nenner kommen werden, aber ich verstehe Valaé ganz deutlich so, dass sie als Autorin diese Figuren interessanter findet, als die Opfer. Aber in der Realität nicht die Gefühle der Opfer minder wichtig findet als die der Täter. Das sind zwei Paar Schuhe und das hier empfinde ich schon als Angriff:

ZitatSchade, dass bei dir - wie bei so vielen anderen - das Interesse an den Gefühlen des Täters stärker zu sein scheint, als an denen des Opfers.

Ich weiß nicht, ob es bloß die Wortwahl ist, aber das liest sich stark danach, als würdest du ihr - und mir und anderen, wenn ich den Einschub betrachte - unterstellen, wir würden das Leiden der Opfer herunterspielen, bloß, weil wir uns auch für die Motive und Gedanken der "Täter" interessieren. Täter in Anführungszeichen, weil wir mehrmals betont haben, dass es uns um Menschen geht, die längst nicht zum Täter geworden sind. Dass das keinesfalls so ist, sollte deutlich geworden sein. Ich sehe nicht, was falsch oder respektlos daran ist, sich für die Abgründe des menschlichen Geistes zu interessieren und sie in Romanen zu beleuchten. Ich finde deine Einstellung, Menschen für Gedanken zu verurteilen sehr schade, aber das ist deine Meinung und die steht dir zu. Aber bitte rede andere auch nicht für ihre Meinung klein.
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Valaé am 13. Januar 2013, 18:35:18
Wenn du etwas zitierst und von Aussagen auf Schlüsse ziehst, dann bitte das ganze Argument, du hast den wichtigsten Teil nämlich weggelassen:

Zitatund auch nur wenig die Frage nach dem Warum stellt. Ein Roman, der dieses Thema behandelt und den Täter ausschließlich als Monster darstellt, fände ich nun wiederum problematisch auch gerade im Bezug auf das Opfer, weil es postuliert, es gibt grausame Menschen und die sind einfach so und da kann man nichts gegen tun und wenn die sich nicht unter Kontrolle haben dann pasisert so eine Tragödie - anstatt kritisch darauf einzugehen, welche Umstände einen Täter erst zu so etwas machen können und inwieweit vielleicht auch jeder Mensch und die Gesellschaft, die solche Täter hervorbringt, mit zur Verantwortung zu ziehen ist
Das hier ist die Erklärung, warum das Innenleben des Täters unter Umständen als literarisch und kritisch wertvoller zu betrachten ist, als das Opfer. Am Schicksal des Opfers kann ich keine Gründe festmachen, nur eine große, grausame Tragödie, die ich nicht ändern kann. Das als Conclusio eines Buches, finde ich nun wieder sehr grenzwertig.
Dazu kommt dass du von der Aussage "literarisch wertvoller" im Sinne von, man kann daran mehr zeigen und wertvollere Erkenntnisse für die Gesellschaft ziehen, darauf geschlossen hast, mich würden die Gefühle des Täters mehr berühren, mehr erschüttern, ja wichtiger sein als die des Opfers. Das habe ich nicht gesagt. Es war ausschließlich eine Aussage über den Gehalt der Gefühle im Sinne auf ihre Deutungsmöglichkeit im Bezug auf Fehler der Gesellschaft und die Frage nach dem Warum. Welche Gefühle hier wichtiger sind im Sinne von welche mich als Menschen mehr rühren, mehr erschüttern und mir mehr MItleid, mehr Bestürzung entreißen das war hier gar nicht die Frage. Ich habe nie ausgesagt, dass der Täter in mir mehr Gefühle weckt als das Opfer. Oder das ich den Täter per se interessanter finde, als das Opfer.
Ich empfinde es nur auch mehr als meine Aufgabe, Lösungsmöglichkeiten und Begründungen innerhalb der Ursachen und Gesellschaft zu liefern, als einfach nur zu bestürzen und Mitleid zu erwecken - denn nur Mitleid hilft leider nicht - weder dem Opfer noch dem Täter.

Und ja, du bist natürlich nicht die Einzige, die es missverstanden hat - das hatte ich ja am Anfang schon postuliert, dass viele allein beim Hören des Problems und der Grundaussage an sich einfach schon so abgeschreckt und voller Abscheu sind, dass sie gar nicht mehr richtig auf meine Argumentation eingehen (indem sie beispielsweise die Hälfte meines Arguments weglassen und nur das lesen/hören, was ihre Theorie unterstreicht) - aber bisher konnte ich die allermeisten nach eindeutiger Schilderung und Richtigstellung davon überzeugen, dass man meiner Betrachtung zumindest eine Chance geben sollte - da bist du also wirklich die Ausnahme. Aber die gibt es natürlich und da habe ich auch kein Problem damit - solange du kein Problem damit hast, dass es die andere Seite eben auch gibt.
Zumal ich da auch sagen muss: Nun, anscheinend habe ja auch nicht nur ich deinen Ton hier und da für unsachlich empfunden und das du, wenn du deinem eigenen Empfinden nach unsachlich wirst, anders klingst, macht es für mich ganz ehrlich auch nicht besser. Aber es ist in Ordnung, ich habe deine Meinung von mir zu schlucken und auch wenn es mir ziemlich gegen den Strich geht, wie du mich nach einigen Aussagen wohl siehst, obwohl ich ganz eindeutig anders argumenntiert habe, ist das nichts was ich ändern kann - ich habe getan was ich konnte um mit aller Relativierung zu zeigen, wie ambivalent und kritisch ich mich diesem Thema nähere, wenn das nicht ausreicht, dann bleibe ich in den Augen von dir eben eine Befürworterin von Sexualstraftätern - kann ich nicht ändern. Das ich das nicht bin, habe ich vielleicht in meinen Begründungen anderen nahe bringen können - deutlich zeigt die Diskussion immerhin genau das angesprochene Problem - es ist heikel und es kann übel nach hinten losgehen und manchmal nützt auch die intensivste und vorsichtigste Schilderung nicht, wenn jemand das Thema von vorneherein rigoros ablehnt, dann geht jeder Versuch, etwas zu erklären, nach hinten los und alles genau so interpretiert, wie man es eigentlich vermeiden wollte und durch Relativierung eigentlich auch versucht hat.

Edit: Mit dem Argument wie meine Aussagen gemeint waren war diesmal Kati schneller ... und ja, damit hat sie auch recht, so war es ausgesagt.  :)
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Churke am 13. Januar 2013, 19:24:09
Zitat von: Ratzefatz am 13. Januar 2013, 12:06:58
Meinst du den Film "Public Enemies"?
An den hatte ich jetzt gar nicht gedacht. John Dillinger taucht seit 1945 in mindestens 18 Filmen auf:

http://www.imdb.com/character/ch0034541/?ref_=fn_al_ch_1

Für einen Staatsfeind Nr. 1 ist das ziemlich gute Presse.  :)


Zitat von: Kati
Ich denke, der Leser akzeptiert gern Dinge, die als "gut" gekennzeichnet werden. Wenn der Held nun ein ganz dunkler Typ ist, und tausende von Menschen metzelt, dies aber im Namen des Guten geschieht, akzeptieren wir es - merkwürdigerweise - sehr schnell. Tut er aber genau dasselbe im Namen des Bösen sind wir empört und hassen ihn - es sei denn, es wird als nachvollziehbar und "aus guten Gründen" dargestellt.

Das ist bei mir nun gerade nicht so. Ich achte sehr genau darauf, was jemand tut. Und wen ich absolut nicht leiden kann, das sind die "ich-hatte-keine-Wahl"-Typen. Man sagt nicht zuletzt, dass der Krieg aus den Menschen das Beste und des Schlechteste heraus holt.

Zitat von: canis lupus niger am 13. Januar 2013, 15:13:50
Es ist, denke ich, die Situation, die eventuell auch undenkbare Dinge rechtfertigen kann. Wenn schon Tausende gestorben sind (auch Frauen, Kinder und Hundewelpen), dann bin ich als Verantwortlicher schon zu sehr abgestumpft, um mich schuldig zu fühlen und deswegen aufzuhören. Das Problem ist, dies dem Leser zu vermitteln.

Man braucht keine Schuldgefühle, um zu wissen, was richtig und was falsch ist. Aber man braucht Anstand und Charakter, um das auch durchzusetzen.
"Company K" von William March (gibt's auch als Film) ist die amerikanische Antwort auf "Im Westen nichts Neues". Eine der eindringlichsten Episoden (die alle auf wahre Begebenheiten zurück gehen) handelt von der Erschießung deutscher Kriegsgefangener. Der Captain sagt dem Sergeant, er soll sich ein paar Männer nehmen und das erledigen. Der Sergeant weiß, dass das eine Riesensauerei ist. Aber er führt den Befehl aus, ohne auch nur zu versuchen, den Captain davon abzubringen.

ZitatUnd, ehrlich: Eine Frau zu verletzen oder /und umzubringen? Vergewaltigungen? Glaubt hier jemand, dass irgendeine Armee der Welt, egal ob "gut" oder "böse" (was ohnehin vom Sieger definiert wird) davor jemals zurück geschreckt ist?
Ist dir schon mal aufgefallen, dass 007 keine bösen Bond-Girls tötet? Die haben immer irgendwelche Unfälle. Das ist zwar lächerlich, aber James Bond muss sauber bleiben.  ;D
Und Männer, die in Russland gegen Frauen gekämpft haben, haben gesagt, dass sie das fertig gemacht hat. Ist heute vielleicht anders, aber in einer patriarchalischen Gesellschaft bringt "man" keine Frauen um. Oder man ist ein Schuft. Solche Dinge können zum heißen Eisen werden, weil die Werte des Protagonisten settingsbedingt möglicherweise andere sind als die des Lesers.

An dieser Stelle sei mir auch noch eine Bemerkung zum Thema Kinderschänder & Co erlaubt: Bei den alten Römern war das völlig normal, das Sklaven, auch minderjährige und Kinder, den Herren sexuell zur Verfügung standen. Der Knabe ist de iure eine Sache und wenn er mir keinen blasen will, dann verkaufe ich ihn an ein Bordell. Das war sozialadäquates Verhalten angesehener Bürger. Und damit sind wir bei der Frage: Wie steht der Leser zu einem Verbrechen, das im Setting des Romans legal und akzeptiert ist?

Zitat
Folter?
Wenn ich dadurch den Untergang meiner eigenen Armee oder /und den Tod vieler Unschuldiger verhindern kann? Die Moral der Entscheidung kann sehr stark durch die Umstände beeinflusst werden.
Andererseits entscheidet der Autor, dass ein Protagonist jetzt mal eben folten will/muss/kann. Denn er gestaltet die Situation mit der Absicht, dem Helden die Folterwerkzeuge in die Hand zu geben. Dramaturgisch sinnvoll ist das nur, wenn der Autor zeigen will, dass der Held kein Pardon kennt. Der Autor könnte es ja auch so einrichten, dass der Schurke vom Helden überlistet wird... wenn du verstehst, was ich meine...




Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: Ratzefatz am 13. Januar 2013, 19:40:51
ZitatZitat von: Ratzefatz am Heute um 12:06:58

    Meinst du den Film "Public Enemies"?

An den hatte ich jetzt gar nicht gedacht. John Dillinger taucht seit 1945 in mindestens 18 Filmen auf:

http://www.imdb.com/character/ch0034541/?ref_=fn_al_ch_1

Für einen Staatsfeind Nr. 1 ist das ziemlich gute Presse.  :)

Hm, ich muss gestehen, dass ich keinen der anderen 17 gesehen habe, aber ich frage mich, wie er in denen präsentiert wird. "Public Enemies" würde ich aus den vorhin schon dargelegten Gründen nicht als gute Presse werten. Für zB Dracula finde ich bei der IMDB-Charakterabfrage ganze 300 Hits, und der ist nun ein eindeutiger Bösewicht. Relativ bekannt ist John Dillinger sicher, aber ob er als "Held" gilt?

LG
Ratzefatz
Titel: Re: Wie weit darf ein Protagonist gehen?
Beitrag von: AlpakaAlex am 03. September 2021, 15:58:29
Zitat von: Mogylein am 12. Januar 2013, 17:41:12
Grundlose Grausamkeit, Kinder, Behinderte, Leute an denen eine ganze Familie hängt.
Ich fühle mich ein wenig schlecht, einen so alten Beitrag zu zitieren, aber ich konnte es mir gerade beim durchlesen des Threads nicht verkneifen. Denn da ist eben ein Punkt, über den in meinen Augen nicht oft genug reflektiert wird: Viele der einfachen Bösewichts-Handlanger werden eine Familie haben. In diversen Fällen (gerade wenn man ein sehr patriarchales Fantasy-Setting hat) mag es sogar so sein, dass diese Familie finanziell komplett von diesem einfachen Handlanger und dem Geld, den er eben als Handlanger verdient, abhängig ist. Nur weil dies natürlich nie in der Handlung erörtert wird, selbst wenn es aus dem Weltenbau gesehen nur Sinn ergibt, kräht halt nie ein Hahn danach, wenn diese Handlanger einfach umgelegt werden. Ich mein, das habe ich mir auch schon damals bei Herr der Ringe gedacht: Irgendwo müssen die Orkfrauen und Orkkinder sein, die auf ihre Orkväter warten, die im Krieg für Sauron kämpfen ...  :hmmm:

Es ist vielleicht auch gerade deswegen, dass ich in vielen Geschichten alles in allem relativ wenig schwere Gewalt gegen Handlanger habe. Weil mir dabei eben unwohl ist, da ich halt davon ausgehe, dass die meisten Handlanger Familien haben. Allerdings lässt es sich halt in einigen Geschichten auch nicht vermeiden. Beispiel ist halt die ganze Story rund um Mosaik herum. Das ganze hat halt viel mit Gangs und Mafia zu tun und diese lassen nur bedingt gut mit sich reden. Die Protagonistin tötet zwar nicht gerne - weil sie nicht einsieht unnötige Tode für die Ziele ihrer Auftraggeber*innen (meistens Kapitalinteressen) - zu verursachen, aber wenn jemand auf sie schießt, schießt sie halt zurück. Weil ihr eigenes Überleben liegt ihr dann halt doch mehr am Herz - und ein anderes Leben als das mit Gewalt, das sie lebt, kann sie sich nicht vorstellen. Es gibt auch in der Geschichte ab und an Szenen, wo sie dann doch sehr brutal mordet, was halt immer jeweils aus Rache motiviert ist.