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Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58

Titel: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58
Diesen Thread verstehe ich als den ,,Handwerker-Thread".
(Wer gerne über die Genredefinition einer Dystopie diskutieren will - es gibt einen umfangreichen anderen Diskussionsthread dafür, guckst du hier (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7667.0.html)) 
Mir geht es in diesem Thread um die Frage: Wie gehe ich als Autor am besten an eine Dystopie heran?
Speziell meine ich damit:
Was ist in Bezug auf den Protagonisten und die Charaktere zu beachten?
Wie sollte ein klassischer Dystopie-Plot strukturiert sein? An anderer Stelle im Forum wurde gesagt:
ZitatEin Klassiker der Dystopie ist, dass der Protagonist am Anfang der Geschichte häufig (nicht immer) selbst Teil des schlechten Systems ist oder zumindest ahnungsloser Bürger der erst ein Erweckungserlebnis haben muss. Oft gibt es einen Sidekick, der eine ambivalente Rolle hat, also die klassische Rolle des Shapeshifters einnimmt.
Sehr ihr das auch so? :hmmm:
Könnte ein Desillusionierungsplot der richtige sein? Nach der Definition von Robert McKee wäre das eine "tiefe Wandlung der Weltanschauung vom Positiven zum Negativen".
Ich freue mich auf euere Antworten/Gedanken, egal ob ihr Erfahrung in diesem Bereich habt, oder nicht. Jeder Denkanstoß ist willkommen.
[EDIT]: Um den weit gefassten Genrebereich einzugrenzen und möglichst praxisnah zu bleiben, möchte ich diesen Thread gerne auf System-Dystopien eingrenzen, also Endzeit/Apokalypse-Szenarien ausklammern. 

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[EDIT]: 09.05.2011 Grundbaukasten einer klassischen Dystopie mit Archeplot

Aufgrund euerer Beiträge und Anregungen wurde folgender Baukasten erarbeitet. Er versteht sich nicht als starres Dogma, sondern als Denkhilfe. Er "lebt" und kann jederzeit geändert/gestrichen/umgestellt werden:

Die Grundidee/Das Fundament
- Zu Beginn konstruiert der Autor eine Utopie ausgehend von der Ist-Welt (die heile Idealwelt), erst im zweiten Schritt verwandelt er diese in eine Dystopie.
- Wichtig ist dabei, das System beim Entwurf nicht zu werten. Es ist nicht böse, es ist einfach da. Es ist aus irgendwelchen Notwendigkeiten heraus gewachsen und/oder war ursprünglich als Verbesserung gedacht, denn keine Gesellschaft stülpt sich freiwillig einen Unterdrückungsapparat über, ohne sich was davon zu versprechen.

Das dystopische Setting
Epoche
- Ausgangspunkt ist die Ist-Welt. Das dys. Setting ist die Weiterentwicklung dieser Ist-Welt
- Oft Verlagerung in die Zukunft (mitunter Überschneidung mit SF). Wobei der Leser Zukunft nicht zwangsläufig durch eine Jahreszahl erlebt, sondern in erster Linie durch die Tatsache, dass es sich um eine andere Realität als die Jetzige handelt (Es kann also genau so gut auch an einem weit entfernten Ort in der Gegenwart handeln)
- Typisch für eine Dystopie ist der Bezug zur Realität, d. h. sie haben mehr als jede andere Fiktion, einen untrennbaren Bezug zu unserer Welt -- und zwar zur aktuellen

Schauplatz
- verfügt oftmals über fiktive Technologien (als Mittel zum Machterhalt der herrschenden Minderheit)
- Dabei kann die Technik im Rahmen einer Mangelgesellschaft selbst düster und mangelhaft daherkommen, oder im Gegenteil klinisch perfekt
- ggf. Vorhandensein einer Gegenwelt jenseits der Grenzen der dys. Welt (Fehlen der dys. Elemente, Ort der Fülle, der Freiheit, der Würde etc.)
- manifestierte Abgrenzung der dys. Welt von dieser Gegenwelt (z. B. Überwachte Sicherheitszäune, -mauern, -streifen, usw.)

Konfliktebene
bezeichnend für eine Dystopie ist das breite Band der Konfliktebenen:
- tiefer Widerspruch zwischen einer zahlreichen Gruppe, die nichts bestimmen kann und einer Minderheit, die alles für die größere Gruppe bestimmt.
- eine Welt, in der die Individuuen im Prinzip "artgerecht untergebracht" sind, aber trotzdem jeder eine Depression hat.
- Die Welt des dystopischen Romans muss für den Leser als imperfekt erkennbar sein, bzw. im Laufe des Romans werden. Ein oder mehrere Parameter der Welt des Protagonisten werden im Vergleich zur Ist-Welt ins Negative projiziert z. B:
•   starke Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte
•   künstlicher Ressourcenmangel und -kontrolle
•   gesundheitsschädliche Umwelt
•   übergriffige Exekutivorgane
•   starke gesellschaftliche Spaltungen, faschistoide Gewalt
•   extreme Eingriffe in Bereiche persönlicher Lebensgestaltung
•   starker Konformitätsdruck (Anpassungszwang an das System)
•   starke Betonung aggressiver gesellschaftlicher Impulse
•   Störung und Einschränkung der Kommunikation, geistige Manipulation, gezielte Fehlinformation
•   Spannungen, wie Morde/Untergänge/Verschwörungen/Umstürze/Katastrophen
Diese Veränderungen gehen oft auf die herrschende Minderheit zurück (Bekämpfung der negativen Entwicklung mit extremsten Mitteln oder auch purer Machterhalt) und werden als Preis für das zu bewahrende System (die Utopie) bewertet
- Kontrolle und Überwachung sind zentrale Mittel der Systemerhaltung
- Widerstand, der sich durch Untergrabung und Unterwanderung äußert
- innere und/oder persönliche Konflikte der Protagonisten

Der Plot
Basis ist ein Archeplot. Dennoch gibt es wesentliche Merkmale eines dystopischen Werkes innerhalb der klassischen Heldenreise:
Das auslösende Ereignis
- Ein Held der Teil des Systems ist oder diesem neutral gegenüber steht bedarf eines Momentes der Desillusionierung. Diese kann auf die verschiedensten Arten erfolgen:
•   Der Held erhält unverhofft Insiderinformationen über die wahre Natur des Systems
•   Eine andere Figur wird Opfer des Systems. Diese Figur ist dem Helden sympathisch und/oder die Opferung geschieht in besonders extremer Form
•   Der Held wird unversehens selber zum Opfer des Systems
•   Der Widerstand tritt mit dem Held in Verbindung um ihn zu erwecken. Dies kann auch gewaltsam geschehen oder – wie oben geschildert – durch eine Person als Versucher/-in.
- oder der Protagonist ist einer der Verlierer der Dystopie, der gegen das System kämpft. Dann winkt ihm plötzlich der Aufstieg in die "höheren Schichten", und er sieht sich mit der Verlockung konfrontiert, daß ihn das System ebenso korrumpieren kann wie die Herrschenden, die er bis dato bekämpft hat... oder mit der Möglichkeit, das System zu reformieren, anstatt es zu stürzen... oder mit der Erkenntnis, daß seine Rebellenkameraden auf ihre Weise genauso miese Dreckschweine sind wie die tyrannische Obrigkeit...
- ebenso sind völlig unpolitische Plots möglich, die nichts mit dem "Kampf gegen das System" zu tun haben, sondern nur mit dem "Überleben im System": ein Familiendrama etwa oder eine Liebesgeschichte um den Funken Menschlichkeit zu bewahren - ohne dabei am dystopischen "Großen Ganzen" was zu ändern oder auch nur zu kratzen.
- Charaktere, die sich pfiffig durch die Regeln des Systems durchwinden und sie verdrehen und ausnutzen, anstatt heroisch dagegen anzukämpfen. Auf diese Weise wäre sogar eine dystopische Komödie denkbar.

zunehmende Komplikationen
Über den Mittelteil der Handlung lässt sich wegen der Variationsbreite der denkbaren Abläufe am wenigsten sagen. Allgemein wird es so sein, dass der Held hier die weitere Vertiefung seines Konfliktes mit dem System erlebt, sich für den Kampf mit diesem rüstet, indem er sich informiert, Unterstützung gewinnt und ,,Waffen" findet. Die Dystopie mit ihrer eher düsteren Zeichnung bedingt einen opferreichen Gang des Helden auch in dieser Phase.

Krise
- finale Konfrontation von Protagonist und Antagonist
- der Protagonist wird in aller Regel als Vertreter des Widerstands und der Antagonist als Vertreter bzw. das System selbst auftreten, allerdings kann es – wie oben geschildert – auch umgekehrt sein
- Kämpft der Held für den Widerstand wendet er in dieser Situation häufig die Machterhaltungsmethodik des Systems gegen dieses

Höhepunkt/Klimax
- In aller Regel endet die finale Konfrontation mit der physischen oder symbolischen Auslöschung des Antagonisten
- Wird hierbei der Antagonist als Widerstandskämpfer geopfert, so bewirkt dies zugleich die endgültige Desillusionierung des Protagonisten bzw. seine finale Konfrontation mit der herrschenden Minderheit

Auflösung
-  Die Dystopie geht an sich selbst zugrunde oder wird von den Geschehnissen überrannt
-  Durch Antreibung einer Revolution bzw. Zünden eines Funkens wird ein Feuer entfacht, das durch genügend vorbereitete Herde um sich schlägt
- die rebellierende Jugend des Systems scheint für diesen Zweck optimal, -> trostlose Zukunft/Fehlen der Perspektive
- der Protagonist nutzt seine neugewonnenen Fähigkeiten meist zur endgültigen Beseitigung des Systems, z.B. indem er dem Volk die Augen öffnet, die herrschende Minderheit besiegt oder den Machterhaltungsapparat des Systems zerstört
- In anderen Fällen nutzt der Protagonist seine Fähigkeiten zur Flucht aus dem System in die Gegenwelt
- Nicht undenkbar ist auch die Beendigung der finalen Konfrontation mit der Auslöschung des Helden (der dabei oft mit dem Antagonisten zum Doppelopfer wird). In diesem Fall fordert die gängige Dramaturgie das symbolische Überleben des Helden in Form eines physischen oder geistigen Kindes, also eines Nachkommen, einer überlebenden geliebten Person, einer Hinterlassenschaft die dann oft die Befreiung vom System zur Folge hat oder zumindest andeutet.
- In einer Dystopie ist es nicht unbedingt erforderlich, dass das System am Ende überwunden wird, nicht selten wird nur die Möglichkeit angedeutet aber letztlich offen gelassen
- Entscheidet sich der Autor dafür eine komplette Überwindung des Systems zu zeigen, so kann der düstere Charakter des Dystopie dadurch erhalten bleiben, dass die Möglichkeit einer Rückkehr des alten Systems angedeutet wird

Die Charaktere
Gruppen
Wir gehen von einem Kollektiv (z.B. autoritär oder totalitär) aus, mit Idealen und beherrschenden Ideen und den zugehörigen Einzelnen (die Individuuen) mit dem insgeheimen Traum, die Welt ganz anders zu gestalten wollen, wenn man es könnte.

Protagonist
- ist der dystopische Weltenbau erstellt, untersucht man, welche Rollen "das System" seinen Bewohnern eröffnet. Man kann exemplarisch für verschiedene Berufsgruppen und Subkulturen Charaktere erstellen und prüfen, welche Hoffnungen und Ängste sich aus der Interaktion mit "dem System" für sie entwickeln. Sobald eine(r) von ihnen eine alles beherrschende Sehnsucht oder Angst hat, taugt er/sie zum Protagonisten und die Jagd nach dieser Sehnsucht bzw. die Flucht vor dieser Angst zum Hauptplot.
- Durch die zentrale Rolle des Helden sieht der Leser die fiktive Realität vorübergehend als eine gegebene Realität an. Durch den Hauptcharakter wird die Dystopie also für den Leser überhaupt als solche erkennbar. Seine Reibung mit der erzeugten Realität und die Reibung der anderen Charaktere damit, ist das, was den Leser fesselt.
- Dabei kann er zu Beginn der Story:
a) der herrschenden Minderheit, zur Elite angehören
b) zum Widerstand gehören (aus dramaturgischen Gründen eher selten)
c) neutral sein, zum gemeinen Volk gehörend. Hegt zwar negative Gefühle, passt sich aber weitgehend an das System an 

Antagonist
- zumeist ein Vertreter der herrschenden Minderheit, oft deren Führer oder ein hohes Mitglied der Hierachie
- oftmals zu Beginn der Geschichte der Mentor des Protagonisten
- ist der Protagonist zu Anfang Teil der herrschenden Minderheit, kann auch sein ehemaliger Gefährte der Antagonist werden (dieser personifiziert dann die ansonsten recht unsichtbare herrschende Minderheit)
- Ist der Protagonist zu Anfang Teil des Systems, so kann der Antagonist in seltenen Fällen auch gerade Teil des Widerstands sein, der dessen Zwecke mit extremen Mitteln verfolgt und dadurch für den Leser trotz seiner verständlichen Motivation zwiespältig wirkt. Eine solche Dystopie endet dann regelmäßig damit, dass der Antagonist sich nach einem Moment gegenseitigen Annäherung letztendlich opfert, um dem Protagonisten endgültig die Augen zu opfern bzw. ihm den entscheidenden Anstoß oder das Mittel zur Überwindung des Systems in die Hände zu geben.

Nebencharakter
- der Protagonist hat nicht selten einen Gefährten, bzw. Sidekick
- der Gefährte kann zum Antagonisten werden, oder seine Rolle völlig wandeln (Shapeshifter)
- Die Desillusionierung des Protagonisten kann durch eine Person als Versucher/-in ausgelöst, die im weiteren Verlauf der Handlung zur romantischen Beziehung des Protagonisten wird. Nicht selten fällt er/sie der herrschenden Minderheit zum Opfer
- Die Freunde, die der Protagonist im Verlauf der Handlung gewinnt, sind oft Angehörige des Widerstands, die ihm dann gegen Antagonist und herrschende Kaste zur Seite stehen 
- Einige Angehörige dieses Widerstands können Shapeshifter also in Wahrheit Vertreter des Systems sein.
- Umgekehrt kann der Protagonist im Verlauf der Handlung innerhalb der herrschenden Kaste auf unverhoffte Freunde des Widerstands entdecken
- ggf. gibt es orakelhafte Gestalten, die dem Protagonisten über die Schwelle der Desillusionierung helfen, indem sie ihn über den ,,wahren" Charakter des Systems aufklären.
- ggf. gibt es Propheten, der z.B. in der Rolle des Führers des Widerstands auftritt und dann nicht selten zum Opfer wird

Die Recherche
- Analysieren von Systemen und Szenarien aus der Geschichte
Zitat von: Churke am 25. April 2011, 14:31:23
Totalitarismus findet man schon bei Platon. Die Vorstellungen der Politeia sind total krank.  :o
Der Gottesstaat Konstantins des Großen.
Die Schreckensherrschaft des Nationalkonvents.
Die Diktatur des Proletariats.
Das Tausendjährige Reich des Adolf Hitler.
Die Plutokratie von Goldman Sachs.
oder Gegenwart:
Zitat von: Churke am 04. Mai 2011, 15:31:21
- Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts.
- Die stalinistische Kleptokratie in Nordkorea.
- Der Terror der Wohlfahrtsausschusses in der Französischen Revolution.
- Salazars Neuer Staat in Portugal.
- Das Imperium Romanum von 313 - 636.
- Eimerweise Phantasie, um eine auf die Spitze getriebene Fiktion zu erschaffen. Leser der Unterhaltungsliteratur wollen keine braven Nacherzählungen der Realität. Sie wollen das nie Dagewesene und die unglaublichsten Geschichten, die das menschliche Gehirn jemals hervorbringen kann.
- Weiterführende Links/Buchtipps zum Thema:
http://de.wikipedia.org/wiki/Dystopie (http://de.wikipedia.org/wiki/Dystopie) Erste Anlaufstelle
http://dystopischeliteratur.org/ (http://dystopischeliteratur.org/) Literarische Dystopien und Katastrophenszenarien
http://www.stefan-arens.de/sonstiges/kinofilme-langfassung.html (http://www.stefan-arens.de/sonstiges/kinofilme-langfassung.html) Utopie und Dystopie in Kinofilmen
http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7667.0.html (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7667.0.html) Diskussionsthread im Tintenzirkel zum Thema Dystopien
http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html) Liste unterhaltender Dystopien in Romanen und Filmen

Beachte: Ein Schema ist eine Denkhilfe, kein Dogma. Gute Romane entstehen oft durch Beherrschung des Schemas. Hervorragende Romane entstehen oft durch (teilweise) Überwindung des Schemas. Zu weite Entfernung vom Schema stört indes den notwendigen Wiedererkennungseffekt beim Leser. :buch:

Soweit meine Liste, die wider Erwarten zu polarisieren scheint. Bin aus aktuellem Anlass noch nicht sicher, ob ich sie hier stehen lassen soll bzw. was damit geschehen soll.
Liebe Grüße
Sorella
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute Dystopie schreibt
Beitrag von: Franziska am 30. April 2011, 14:17:12
danke für den Thread!

Irgendwie ist die Frage aber doch nicht ganz von der Definition zu trennen. Ich sehe ihn als recht weit gefasst an.
Das von dir genannte Element kann muss aber nicht vorkommen. Man könnte auch eine Dystopie schreiben, in der der Prota von Anfang an etwas gegen das System hat.

Ich meine, es gbt verschiedene Formen von Dystopien. Solche, die mit einer reinen Idee spielen (z.B. Panem) Dort ist es tatsächlich meistens so, dass die Protas erst Teil des Systems sind. Das System steht dann häufig symbolisch für etwas, z.B. Erwachsenwerden.

Dann gibt es welche, die Ereignisse, die tatsächlich passieren könnten zuspitzen. Genmanipulation, gläserne Bürger etc. oder z.B. Atomkrieg, Klimakatastrophe. Wobei dann wieder einige sagen würden, es wäre keine Dystopie, sondern Endzeit/ apokalyptisch. In so einem Setting geht es dann eher darum, dass die Protas überhaupt überleben. Es muss nicht zwangsläufig ein System geben, dass bekämpft wird. Die Bandbreite ist recht groß.

Wie man eine verdammt gute Dystopie schreibt?

Ich würde sagen, dass hängt davon ab, was man für Ansprüce hat. Dystopie ist ja zunächst das Setting. Wenn man sich die Genretradition  anguckt, gibt es schon ziemlich viel. Da finde ich es gar nicht so einfach, etwas neues auszudenken.
Wenn man einfach nur unterhalten möchte, dann reicht wohl Spannung, etwas Action und eben eine gute Idee.
Für mich ist besonders wichtig, dass es nicht nur reine Ideentext ist, sondern auch als Roman/Geschichte funktioniert. Viele der früheren Dystopien findeich ziemlich langweilig geschrieben, da die Protas wie Schablonen sind und die Message mit dem Holzhammer kommt. Das sollte man vermeiden. Die Idee der Dystopie sollte nicht erklärt werden, sie sollte fühlbar sein. Wenn mandann noch eine Tendenz der Gesellschaft hervorhebt, so dass man sich darüber Gedanken macht, sollte da was gutes bei rauskommen. Was mir noh aufgefallen ist, aber das ist Geschmackssache: mir ist es wichtig, dass das Setting nicht totale Spinnerei ist. Entweder es ist sowas wie Panem, aber wenn es etwas ist, dass es so wirklich geben können soll, und  das kommt mit total unrealistisch vor mache ich da eher einen Bogen drum. Oder wenn es etwas behandelt, dass schon längst Realität ist. Menschen über Computer vernetzt? Menschen in staatlicher Beobachtung, Konzerne übernehmen die Weltherrschaft - na und? Man kann natürlich einzelne Elemente einbringen, und wird wohl auch das Rad nicht neu erfinden können, aber etwas originell sollte es schon sein.

Hm, mein aktuelles Buch ist auch nicht wirklich oriniginell. Ich versuche eher etwas, das so passieren könnte und in anderer Form heute schon so passiert auf abstraktere Weise darzustellen. Das ist eigentlich das, was mich generell an SF und Fantasy reizt.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 30. April 2011, 17:33:17
Danke für die Weitergabe deiner Erfahrung, Franziska. Ich habe gesehen, dass du bereits 2007 bei deiner Vorstellung von deiner Arbeit an Dystopie-Projekten berichtet hast.

Du hast Recht, der Thread könnte immer noch zu weit gefasst sein, um ein Handwerker-Thread zu werden. Vom Bauchgefühl her würde ich die Endzeit/Apokalypse gerne ausklammern und den Thread auf "SystemDystopien" beschränken wollen.
Was meinst du?
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute Dystopie schreibt
Beitrag von: Franziska am 30. April 2011, 18:59:33
huch, ich weiß gar nicht mehr, was ich in meiner Vorstellung geschrieben habe. Aber es stimmt, das Thema interessiert mich sehr.
Derzeit schreibe ich eher etwas Endzeitmäßiges, aber ich habe auch eine Art Systemdystopie in petto. Bei meiner Hauptchara ist es schon so, wie du geschrieben hast. Dass sie praktisch erst darauf kommt, das System wirklich zu hinterfragen, als ihr bester Freund sie darauf stößt. MIt so einer Konstruktion hat man einfach die Möglichkeit die Gesellschaft von mehreren Seiten zu zeigen, damit der Leser auch erfährt, wie die Leute es wahrnehmen, die es nicht hinterfragen.
Wenn du das Thema so einschränken willst, kannst du das natürlich gerne tun, ist ja dein Thread.

Zu deiner Frage, wie ein klassischer Plot strukturiert sein sollte, weiß ich auch keine genaue Antwort. Wenn man sich da nur nach einem Schema richtet, wird es schnell langweilig. Klar gibt es bestimmte Elemente, die auftauchen. Etwa: Der Prota lebt zunächst ganz normal, dann gibt es ein auslösendes Ereignis, dass ihn am System zweifeln lässt. Er erfährt widerstand vom System. Er wird in seiner Ablehnung immer radikaler und muss schließlich in den Untergrund. Er trifft auf eine Widerstandsgruppe. Auch beliebt: Prota verliebt sich in jemanden, der das System kritisiert. (ist das nicht auch so in "Fahrenheit"? ist so lange her, dass ich das gelesen habe.) Oder der Prota ist zunächst Teil des Unterdrückungssystems und gerät in Zweifel. Das wären die Elemente, die mir einfallen, von denen ich auch viele verwendet habe.

Ich mag persönlich am liebsten Dystopien, die nicht so klar schwarz weiß sind. Oft ist es ganz klar, dass das System falsch ist. Eine ominöser allmächtiger Staat unterdrückt die Bürger.
Meine Lieblings-Dystopie ist "Planet der Habenichtse". Da gibt es zwei Staaten, den kommunisischen und den kapitalistischen, aber beide bieten nicht die Lösung, beide haben ihre Fehler.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 30. April 2011, 19:31:26
Zitat von: Franziska am 30. April 2011, 14:17:12
Ich meine, es gbt verschiedene Formen von Dystopien. Solche, die mit einer reinen Idee spielen (z.B. Panem) Dort ist es tatsächlich meistens so, dass die Protas erst Teil des Systems sind. Das System steht dann häufig symbolisch für etwas, z.B. Erwachsenwerden.

Interessant. Das System steht symbolisch für Etwas ... hmm, das ist mir so noch gar nicht aufgefallen, macht aber natürlich Sinn.
Würdest du denn sagen, dass bei Panem das System symbolisch für das "Erwachsenwerden" steht? Woran erkenne ich das?
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: zDatze am 30. April 2011, 21:06:21
Mit sehr viel Erfahrung kann ich nicht dienen, da meine Storys immer nach kurzer Zeit gehakt haben. (Aber daraus kann man an sich auch lernen.) Mittlerweile habe ich durchschaut, woran meine erste Idee - trotz Plot - scheiterte: Ich konnte mich nicht so recht in die Prota hinein denken.
Okay, auf dieses Problem stößt man in allen Genres/Settings. Aber ich scheiterte daran diese ganze Fülle an Informationen und Einflüsse des Settings in ihrem Denken zu "verankern". Gerade alltägliche Dinge können in einer Dystopie eine völlig andere Bedeutung bekommen. Einfachstes Beispiele sind in diesem Fall solche Dinge wie Essen, Wasser und Kleidung. Oder zwischenmenschliche Aspekte wie Familie, Freunde und Liebe.

Irgendwie kaue ich immer noch daran, wie sich eine ganze Welt verändert, wenn man sie in gewissen Punkten bis ins extreme verzerrt. Und erst daran wie sich die Menschen verändern. Das Problem ist ja, dass man ohne gewisse Grundpfeiler in einer Welt nicht auskommt. Ich bastel wohl gerade noch an meinen Grundpfeilern herum. ;D
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Zit am 30. April 2011, 22:45:14
Zitat von: FranziskaDystopie ist ja zunächst das Setting.

Das sehe ich nicht so. Für mich ist Dystopie ein Denkansatz, das Fundament, auf dem meine Geschichte steht. Lavendel hatte im anderen Thread eine schöne Definition gegeben:

Zitat von: Lavendel am 25. April 2011, 18:16:56
Also mal ins 'Basislexikon Literaturwissenschaften' geschaut, damit wir da nicht mehr aneinander vorbeireden. ;)

Die Utopie(gr. u+topos=nicht+Ort) (das 'Vorläufermodell ;)) wird hier definiert als "konkreter philospophisch-politischer Entwurf einer Gesellschaft". Sie stellt einen positiven Gegenentwurf zur herrschenden Gesellschaftsform dar und ist dementsprechend erkennbar in ihrer Herkunftskultur verwurzelt. Namensgebend für das Genre ist Thomas Morus' 'Utopia' (1517). Die Distanz zur realen Welt erzeugten die frühen Utopien noch durch das Verlegen der Handlung an einen schwer zu erreichenden Ort. Erst später verlegten Autoren die utopische Gesellschaft auf in die Zukunft.
Beliebt war der utopische Roman vor allem vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Danach, mit der Industrialisierung und der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der Technik und mit der Skepsis gegenüber allumfassenden Gesellschaftsentwürfen nach den großen politischen Unruhen der beginnenden Moderne, verdrängen sowohl die Science Fiction als auch die Dystopie die Utopie zunehmend.
Und jetzt endlich zum interessanten Teil: Während die SF in erster Linie die Folgen von möglichen technischen Entwicklungen durchspielt, ist die Dystopie ist eine überwiegend negative Utopie. Sie verlegt die Handlung in die Zukunft, kommentiert damit aber vor allem kritisch zeitgenössische Entwicklungen. Schwerpunkt ist dabei der '[...]Einsatz technischer Möglichkeiten zur Durchsetzung einer autoritären, unfreien Gesellschafts- und Staatsform'.

Ich habe mal etwas für mich Wichtiges rot markiert.
Dystopien haben mehr wie jede andere Fiktion, einen untrennbaren Bezug zu unserer Welt -- und zwar zur aktuellen. Wenn ich mir schon wieder diesen Zensus anschaue, dann könnte ich locker eine Dystopie zum Gläsernen Menschen schreiben. Was heute alles mit Daten gemacht wird, ist der reinste Wahnsinn -- und was erst noch kommen wird, wenn wir die Regierung so machen lassen wie sie will! Ich erinner nur an die tolle Idee, sowas wie Sendezeiten und FSK fürs Internet einzuführen ...

Zitat von: SorellaWas ist in Bezug auf den Protagonisten und die Charaktere zu beachten?

Ich denke, bei den Charakteren muss man nicht mehr beachten wie bei anderen Romanen auch, vorallem eben Fantasy-Romane. Wenn ich da meine eigene Welt entwickel, standartisiert mit Feudalsystem und ohne Emanzipation der Frauen, dann muss sich das auch im Verhalten, in den Erfahrungen der Charaktere widerspiegeln. Da kann die -- wenn auch kluge -- Bauerstochter nicht plötzlich zum Schwert greifen und auch noch einen Nischenmaler von vor dreihundert Jahren einwandfrei identifizieren und schätzen.
Schaut euch auch Greys Blutgabe an. Red ist ein Charakter, der aus einer Welt kommt, die für ihn dachte und die er nicht hinterfragte. Zwar ist es sicher kein totalitäres System, aber wenn es Menschen gut geht, dann werden sie denkfaul. Das hat nichtmal etwas mit Dystopien zu tun, das ist einfach so. Genauso engagieren Menschen sich so gut wie nie, wenn es sie nicht selbst betrifft. Wie viele Promies gibt es, die nach schweren Krankheiten eigene Stiftungen gründen? Wie viele Menschen sagen zur Klimaveränderung und dem Ökowandel in der Gesellschaft: "Ist mir egal - nach mir die Sintflut"? Wie viele zucken mit den Schultern beim Thema Zensus?

Der Mensch ist denkfaul, er liebt es, wenn ihm Arbeit abgenommen wird. Deswegen hat sich vll. auch die Demokratie durchgesetzt, weil dadurch nicht jeder von uns der Experte im Verkehrs- oder Sozialwesen sein muss. Mittlerweile ist die sie aber wohl zu einem Schatten ihrer Selbst verkommen, wenn ich mir so anschaue, was die Politik da so hinter unseren Rücken treibt -- und wie kompliziert alles mittlerweile geworden ist, dass du da als Normalsterblicher mit Hobbies und Job nur schlecht durchsteigen kannst.

Zitat von: SorellaWie sollte ein klassischer Dystopie-Plot strukturiert sein?

Ich denke, es ist derselbe wie in der Fantasy: Die Heldenreise. Natürlich abgewandelt* und das Ziel des Protas hat wohl immer irgendetwas mit dem System zu tun. Sei es, es zu stürzen, zu festigen oder sich selbst darin zu behaupten und nicht unterkriegen zu lassen, es sogar für sich selbst auszunutzen.

*Ich verweise hier auch gern auf 45 Master Characters von Victoria Lynn Schmidt (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,6069.msg174969.html#msg174969), die die Heldenreise nach Weiblein und Männlein unterscheidet.

Zitat von: Sorella
ZitatEin Klassiker der Dystopie ist, dass der Protagonist am Anfang der Geschichte häufig (nicht immer) selbst Teil des schlechten Systems ist oder zumindest ahnungsloser Bürger der erst ein Erweckungserlebnis haben muss. Oft gibt es einen Sidekick, der eine ambivalente Rolle hat, also die klassische Rolle des Shapeshifters einnimmt.

Sehr ihr das auch so? :hmmm:

Das weiß ich nicht, da ich neuzeitliche Dystopien bisher nicht gelesen habe. Ich lese sowieso recht wenig Dystopien oder Endzeitszenarien. Da schwimm ich nur in meinem eigenen Dunstkreis an Ideen. :innocent:
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Franziska am 30. April 2011, 23:37:14
Zitat
ZitatZitat von: Franziska

    Dystopie ist ja zunächst das Setting.


Das sehe ich nicht so. Für mich ist Dystopie ein Denkansatz, das Fundament, auf dem meine Geschichte steht. Lavendel hatte im anderen Thread eine schöne Definition gegeben:

sehe ich genauso, auch wie die Definiton.

@Sorella: Zum sympolhaften: das ist mir auch nicht selbst aufgefallen, bzw. nicht so bewusst. Ich habe Panem noch gar nicht gelesen. Aber das stand in einem Artikel über Dystiopien, ich weiß nicht mehr, welcher. Ich habe das Gefühl, überalll steht was darüber, als letztes im Buchjournal, vielleicht war es da. Aber die Erläuterungen zu Panem kamen mir logisch vor. Und auch auf viele andere aktuelle Jugendbuch-Dystopien lässt sich das sicher anwenden. Der Jugendliche, der sich in der Pubertät wie ein Alien fühlt, unverstanden, nur mit Gleichaltrigen Verständigung findet und einige Prfüfungen in einem unfairen harten Sysem zu erfüllen hat, aus dem es kein Entkommen gibt - eben stark abstrahiert und auf die Spitze getrieben.

Das muss einem als Autor ja gar nicht immer sofort bewusst sein, aber das trifft ja nicht nur auf Dystopien zu.

Das einzige, was die Dystopie wirklich von anderen Plots unterscheidet ist wohl, dass es eben diesen kritischen Gehalt gibt. Aber ich wüsste nicht, wie man davon einen Plot ableiten sollte. WEnn man eine Dystopie schreibt, tut man das ja wohl meistens, weil man eben etwas hat, was man kritisieren möchte, oder weil man eine Idee für ein Setting hat, denke ich. Ich weiß nicht, ob da was gutes bei rauskommt, wenn man jetzt unbedingt eine Dystopie schreiben will, weil es gerade in ist. Vielleicht etwas rein unterhaltsames, was ja auch okay ist. Aber mein Anspruch wäre da doch eher etwas höher. Da sollte man sich schon wirklich Gedanken machen, wie man das glaubwürdig rüberbringt und auch wirklich dahinterstehen.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Zit am 01. Mai 2011, 00:15:31
Du verwirrst mich, zuerst machst du Dystopie zum Setting, dann stimmst du mir zu. Was nun? Setting ? Fundament/Ansatz, imho.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Derexor am 01. Mai 2011, 00:44:12
*Kurz reinschnei*
Also ich denke, dass das Fundament und das Setting durchaus das gleiche sein können bzw. sich bedingen.
Für mich umfasst Setting nicht nur das Land, sondern auch die Menschen die darin leben, meine Geschichte setzte ich obendrauf.
Der Denkanstoss geht dann meistens von dem Setting aus, bzw. ist in ihm verankert, so ist bei einer Dystopie meist die "Aufstand-gegen-das-System"-Geschichte naheliegend, da sie vom Setting provoziert wird. Natürlich kann man auch eine Liebesgeschichte in ein totalitäres System einbauen, aber wenn interessiert bitte, wenn sich zwei gleichgeschaltete Menschen, die aus einer grauen Masse stammen, lieben? Interessanter wird es doch, wenn einer oder eine davon eine Rebellin ist.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Zit am 01. Mai 2011, 13:37:37
Mitnichten. Die Idee hinter Nachleben (siehe Romane-Board) ist, dass keine Religion die Wahrheit für sich gepachtet hat. Gewisse astrophysikalische Vorstellungen inspirierten mich dann davon ausgehend zu meinem Weltenaufbau, zum Gerüst. Da habe ich aber bisher noch nichts über das Setting -- über den Ort der Handlung -- verloren. (Bitte keine Begriffe verwässern. Wenn man mehr darunter versteht, dann sagen.)

Zum letzten Satz kann ich nur sagen, dass du da in die "Konfliktkultur" der Geschichte rutschst. Das hat nichts mit der Dystopie an sich zu tun.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Derexor am 01. Mai 2011, 14:47:18
Naja, im optimalen Fall hängt alles zusammen.
Fundament ? Idee.
Zum Fundament gehören das Setting, die Idee und die Konflikte mMn, wenn auch je nach Projekt in unterschiedlichen Ausprägungen. Ohne Setting, Idee zur eigentlichen Geschichte und Konflikte in dieser kann keine Geschichte aufgebaut werden.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 01. Mai 2011, 15:37:56
@Zit  Was für ein interessanter Buchtipp, danke  :)

allerdings - mit dem Auszug aus dem literaturwissenschaftlichen Basislexikon konnte ich schon im anderen Thread leider für mich nicht viel Greifbares ableiten ... keine Ahnung warum.

@all  Weiter gebracht hat mich dann der klasse Wikipedia-Eintrag, der in Kürze alles Wichtige (für mich) verständlich auf den Punkt bringt – ihr kennt ihn sicher, trotzdem hier der Vollständigkeit halber: 
http://de.wikipedia.org/wiki/Dystopie

Für die Arbeit eines Autors war er mir jedoch nicht vertieft genug, was den konkreten Spannungsaufbau durch Charaktere und die Plotelemente angeht. 
Fündig wurde ich auf einer Filmseite: (Achtung, man muss sich erst durch den halben Text graben, bevor es um Dystopien im Speziellen geht, aber es lohnt sich!)
http://www.stefan-arens.de/sonstiges/kinofilme-langfassung.html
Was für Filme gilt, kann man mMn ebenso für Romane verwenden, besonders wenn man es handwerklich betrachten will.
Aus diesem Artikel (und aufgrund euerer Beiträge) habe ich folgende Praxisansätze für mich abgeleitet:

Die Grundidee:

Zu Beginn der Konzeption des Projektes konstruiere ich eine Utopie (die heile Idealwelt), erst im zweiten Schritt verwandele ich diese in eine Dystopie.

Wen brauche ich?:

-   ein Kollektiv (z.B. autoritär oder totalitär) mit Idealen und beherrschenden Ideen (die ,,Grundpfeiler" wie zDatze meinte)
-   die Einzelnen (die Individuuen) mit dem insgeheimen Traum, die Welt ganz anders zu gestalten wollen, wenn man es könnte.
-   Eine Welt, in der die Individuuen im Prinzip "artgerecht untergebracht" sind, aber trotzdem jeder eine Depression hat.

Was brauche ich?:

-   einen tiefen Widerspruch zwischen einer zahlreichen Gruppe, die nichts bestimmen kann und einer Minderheit, die alles für die größere Gruppe bestimmt.
-   eine Einschränkung oder Störung der Kommunikation der Individuuen untereinander
-   Kontrolle und Überwachung
-   Negative Entwicklungen, die aber als Preis für das zu bewahrende System (die Utopie) bewertet werden
-   eine möglichst auf die Spitze getriebene Fiktion
-   daraus sich ergebende Spannungen, wie Morde/Untergänge/Verschwörungen/Umstürze/Katastrophen

Was ist mMn das Wichtigste?:

Der Held. Der Hauptcharakter. Durch ihn sieht der Leser die fiktive Realität vorübergehend für eine gegebene Realität an. Durch den Hauptcharakter wird die Dystopie also für den Leser überhaupt als solche erkennbar. Seine Reibung mit der erzeugten Realität und die Reibung der anderen Charaktere damit, ist das, was den Leser fesselt.

Und das Ende? Der große Showdown?:

-   Die Dystopie geht an sich selbst zugrunde oder wird von den Geschehnissen überrannt
-   Durch Antreibung einer Revolution bzw. Zünden eines Funkens wird ein Feuer entfacht, das durch genügend vorbereitete Herde um sich schlägt
(die rebellierende Jugend des Systems scheint für diesen Zweck optimal, daher mMn auch das derzeitige Aufschwappen der Dystopien im Jugendbuchbereich -> trostlose Zukunft/Fehlen der Perspektive)

Soweit meine Ansätze. Mit diesen Grundelementen würde ich den Plot konstruieren, dann nach und nach modifizieren und meinen (hoffentlich originellen) Stempel aufdrücken um keinen Abklatsch zu produzieren.

Würdet ihr diese Ansätze so unterschreiben, bzw. etwas ergänzen wollen? Gerade beim Showdown muss es noch mehr Möglichkeiten geben  :hmmm:

Franziskas Hinweis auf den Symbolgehalt des Systems lässt mir keine Ruhe, evtl. findet jemand noch was darüber, oder kann etwas dazu sagen? Den Gedanken finde ich hochinteressant.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Romy am 02. Mai 2011, 03:55:26
Ich kenne mich mit Dystopien nicht sooo besonders aus, obwohl mich vor allem einige Filme zu dem Thema sehr faszinieren (z.B. Gatacca, V wie Vendetta oder Equilibrium fallen mir da spontan ein). Bücher habe ich bisher nur vor über 10 Jahren Fahrenheit gelesen und neuerdings Panem. Da kommt man wohl nicht dran vorbei und ich bin auch absolut begeistert von dem Einfallsreichtum der Autorin. Das ist zugleich genial und absolut verrückt, was eine perfekte Mischung ist. Der Neid trieft mir aus allen Poren, wenn ich darüber nachdenke. 8)

Okay, aber um mal zum Punkt zu kommen: Seit ich vor so langer Zeit Fahrenheit gelesen habe, habe ich immer gedacht, dass ich auch mal eine Sytem-Dystopie schreiben will, hatte aber nie den richtigen Aufhänger. Muss aber auch zugeben, dass ich nie gezielt danach gesucht habe und andere Bücher in die Richtung habe ich auch nie gelesen (1984 und Schöne neue Welt habe ich vor kurzem aus Recherchezwecken mal schön weit oben auf meine must-read-Liste gesetzt, die sollte man ja doch mal gelesen haben, finde ich ;)) Jedenfalls hatte ich im März aus heiterem Himmel eine Idee für eine System-Dystopie und drehe und wende die Idee immer noch ehrfurchtsvoll vor mir hin und her. Dieses Jahr schreibe ich die bestimmt nicht mehr, sie wird wohl noch etwas reifen müssen und da das System und die Kritik daran im Mittelpunkt stehen soll, will das alles gut durchdacht sein.
Ich hatte nicht beabsichtigt mit dem erhobenen Zeigefinger daher zu kommen, aber die Kritik sollte schon deutlich werden. Das gehört zu einer solchen Art von Dystopie dazu, finde ich. So etwas einzig zur Unterhaltung zu schreiben erscheint mir belanglos.
Ich beabsichtige die Welt von heute weiterzudenken und die heutigen Entwicklungen auf die Spitze zu treiben, so wie ich mir vorstelle, dass es tatsächlich passieren könnte. Es sollte schon realistisch sein und alles ineinander passen.

Auch die Hunger-Spiele bei Panem sind ja abgrundtief grausam und man würde ja gerne behaupten, dass es total unrealistisch wäre. Ist es aber nicht, denn schon die alten Römer dachten sich: Brot und Spiele. - Und fanden das Blutvergießen in der Arena toll. Also bei aller Grausamkeit ist das absolut nicht unrealistisch.

Ich habe mir gedacht, dass ich eine ziemlich klassische Dystopie aus meiner Idee machen will. Der Plot wird sich also ums System drehen und beides wird untrennbar verbunden sein. Klar die Protas dürfen auch nicht zu kurz kommen. Ich habe drei Protas angedacht: Einen der in der Gesellschaft drin steckt, sich bemüht, aber daran scheitert. Einen der außerhalb der Gesellschaft steht und sich bemüht rein zu kommen (ähnlich wie in Gatacca). Und einen Rebellen, der entweder schon zu Romanbeginn im Untergrund lebt, oder der zwar in der normalen Gesellschaft lebt, aber Connections zum Untergrund. Die drei sind dann von Anfang an irgendwie verbunden (Grundschulmitschüler, die immer grundverschieden waren, sich aber nach 20 Jahren wieder treffen und Gemeinsamkeiten entdecken; Geschwister; oder zwei der drei sind/werden ein Paar; oder so was in der Art) oder vielleicht kennen sich die drei anfangs nicht, kommen dann aber irgendwie zusammen. So genau habe ich mir das noch nicht überlegt.


Zitat
Und das Ende? Der große Showdown?:

-   Die Dystopie geht an sich selbst zugrunde oder wird von den Geschehnissen überrannt
-   Durch Antreibung einer Revolution bzw. Zünden eines Funkens wird ein Feuer entfacht, das durch genügend vorbereitete Herde um sich schlägt
(die rebellierende Jugend des Systems scheint für diesen Zweck optimal, daher mMn auch das derzeitige Aufschwappen der Dystopien im Jugendbuchbereich -> trostlose Zukunft/Fehlen der Perspektive)
Was ich aus dem Ende mache, weiß ich auch noch nicht so wirklich, aber grundsätzlich sehe ich drei Möglichkeiten:
- Entweder wird das System besiegt und die Gesellschaft in eine neue Richtung gedreht
- Das System siegt und die Protas gehen zugrunde
- Ein gemischtes Ende. Für den einen Prota geht es gut aus, für den anderen schlecht. Trotz Happy End für den einen Prota entsteht ein bitterer Nachgeschmack. Das ist mein Favorit. ;)


Zitat von: Sorella am 01. Mai 2011, 15:37:56
Die Grundidee:

Zu Beginn der Konzeption des Projektes konstruiere ich eine Utopie (die heile Idealwelt), erst im zweiten Schritt verwandele ich diese in eine Dystopie.
Sehe ich genauso. ;)

Dystopie und Utopie liegen im Auge des Betrachters. Der Prota der drin steckt, scheitert und raus will, wird es als Dystopie sehen. Der Prota der draußen steht und rein will, wird es als Utopie sehen. Die Herrschenden sehen es sowieso als Utopie. Sie finden alles ganz wundervoll und um der Mehrheit des Volkes ein schönes Leben zu machen, müssen einige wenige leiden. Und für jene, die leiden müssen ist es dann wieder eine Dystopie. (Am Panem Beispiel: Für das Capitol ist es eine Utopie, für die Menschen in den Distrikten eine Dystopie)
Das liegt eng beeinander. Ich wage zu behaupten, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. Jedenfalls nicht, wenn man eine Geschichte erzählen will, die auch nur annährend spannend und lesenswert ist. ;)
Für mein Projekt habe ich mir gedacht, dass sich Vieles aus unserer heutigen Zeit tatsächlich in eine ganz wundervolle, wünschenswerte Richtung entwickeln wird, die Utopie schlechthin. Aber wo Licht ist, da ist immer auch Schatten. ;) Eine Gesellschaft, in der alle immer nur glücklich sind und in der alles super läuft, gibt es gar nicht.

Auch dem meisten anderem, was Du als Praxisansätze geschrieben hast Sorella, kann ich nur zustimmen. Sehr ähnliche Gedanken habe ich mir auch gemacht. :)
Hmja, da muss man dann wohl unter dem Strich aufpassen, dass man die Originalität bewahrt, wenn man eine klassische Dystopie schreiben will. Es gab ja schon Vieles, da muss man einen neuen Ansetzungspunkt finden, um nicht in der Masse unterzugehen.
Eben deshalb habe ich (wie oben schon geschrieben), beschlossen weitere klassische oder auch neuere Dystopien zu lesen, bevor ich überhaupt richtig anfange zu plotten, eben damit ich nichts darauß mache, was es 1:1 schon gegeben hat ... Das was ich bisher habe ist eigentlich mehr ein Grundgerüst, an dem ich ich entlanghangele. Ich habe zwar schon ein Hauptthema, das ich in den Mittelpunkt stellen will, aber trotzdem könnte ich nach aktuellem Stand noch fast alles darauß machen, in dem ich die Schwerpunkte noch etwas verschiebe, an den Antas und Protas (die eh erst als sehr grobe Schablonen existieren) herumbastele oder sonstwas anstelle, von dem ich z.Z. auch noch nicht weiß, was es sein wird. Aber hoffentlich irgendwas interessantes. ;D
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 02. Mai 2011, 15:24:54
Zitat von: Sorella am 01. Mai 2011, 15:37:56
Wen brauche ich?:
-   ein Kollektiv (z.B. autoritär oder totalitär) mit Idealen und beherrschenden Ideen (die ,,Grundpfeiler" wie zDatze meinte)
-   die Einzelnen (die Individuuen) mit dem insgeheimen Traum, die Welt ganz anders zu gestalten wollen, wenn man es könnte.
-   Eine Welt, in der die Individuuen im Prinzip "artgerecht untergebracht" sind, aber trotzdem jeder eine Depression hat.

Das ist schon mal ein sehr guter Baukasten. Aber wie so immer kann auch der beste Baukasten den Blick auf andere Werkzeuge verstellen.
Die Dystopie muss nicht von einem Kollektiv ausgehen. Das Kollektiv ist ein Schreckensszenario der modernen westlichen Massengesellschaft. Genauso gut ist es nämlich auch möglich, dass ein System von einer wohlmeindenden Elite - also sozusagen von außen - installiert und mit Zwang aufrecht erhalten wird.

Dann gibt es noch revolutionäre Terrorherrschaften, kriminelle Gottesstaaten, Militärdiktaturen und sicherlich etc. pp..

Charaktere müssen sich auch nicht immer gegen das System auflehnen. Ich habe eine Dystopie über eine kollektivistische Invitro-Gesellschaft geschrieben. Die Protagonistin wurde durch ein bedauerliches Versehen ihres Gendesigners nicht gleich geschaltet. Sie ist eine Superheldin in einer Gesellschaft der perfektionierten Mittelmäßigkeit. Ihr großer Traum ist es, durch Leistung so zu überzeugen, dass sie von den Mittelmäßigen als gleichwertig akzeptiert wird.

Sehr typisch für Dystopien sind auch bestimmte Tendenzen des Strafrechts:
- Völlig überzogene Strafrahmen, die außer Verhältnis zu Tat und Schuld stehen
- Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Vorbereitungshandlungen ("Bildung terroristischer Vereinigungen")
- Unscharfe Tatbestände
- Uferlos dehnbare Generalklauseln (der Klassiker: Volksschädlingsverordnung)

und schließlich:
- Gesinnungsstrafrecht

Mit Gesinnungsstrafrecht ist sehr gut arbeiten, weil sich daran einerseits die totalitäre Ausrichtung zeigt, andererseits aber auch, was das System für gut und was es für böse hält.


Zitat
Franziskas Hinweis auf den Symbolgehalt des Systems lässt mir keine Ruhe, evtl. findet jemand noch was darüber, oder kann etwas dazu sagen? Den Gedanken finde ich hochinteressant.

Wenn ich mir einen alternativen Gesellschaftsentwurf vorstelle - und nichts anderes ist ja eine Dystopie - dann weiß ich nicht, was ich da an Symbolik rein packen soll. Ich finde es wichtiger, sich an eine stringente Arbeitsthese zu halten und der Sache ein innere Logik, eine Art dichterische Wahrheit zu verleihen.

Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Erdbeere am 02. Mai 2011, 16:20:01
Diese Auflistung der einzelnen Baukästen ist äusserst interessant und werden bei mir bestimmt noch Verwendung finden. Danke schon mal dafür, Sorella.

In Schöne Neue Welt und Equillibrium wird den Menschen im System eine Pille bzw. ein Medikament verabreicht, das ihre Emotionen lahm legt und im Falle von Huxleys Schöner Neuer Welt die Menschen glauben lässt, sie seinen glücklich. Nur durch harte Strafen, wie Churke sie so schön aufgezählt hat, lässt sich ein dystopisches System kaum aufrecht halten.

Die Menschen ausserhalb des Systems können als Wilde oder Barbaren bezeichnet werden, mit denen niemand innerhalb des System tauschen will.

In früheren Dystopien wurde als Warnung oft die Symbolik des Nationalsozialismus oder des Kommunismus mit einbezogen. V for Vendetta ist ein schönes Beispiel, da wird England von einer faschistischen Partei regiert. In manchen Dystopien können auch religiöse Symbole vorkommen oder im Gegenteil, unter androhung von strengsten Strafen verboten sein, was allerdings mMn nur in einem System funktioniert, welches sich als absolut religionsfrei bezeichnet.

Ich finde jedoch, dass der Protagonist nicht zwangsläufig gegen das System rebellieren muss (vor allem muss er ja zuerst merken, dass das System nicht richtig ist). Es kann auch sein, dass er durch puren Zufall aus dem System fällt und mit aller Kraft versucht, wieder hinein zu kommen, woran er am Ende scheitert.

Hm, vielleicht sollte ich mehr dystopische Bücher lesen. Das Thema fasziniert mich nämlich ungemein.  :hmmm:
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 02. Mai 2011, 19:32:49
*inSchnappatmungverfall*
Für alle Dystopie-Interessierten Handwerker habe ich einen genialen Link gefunden, er passt prima zu meiner Ansatzsammlung. Es werden unter anderem mögliche Szenarien oder auch Gesellschaftsformen beschrieben uvm.
http://dystopischeliteratur.org/ (http://dystopischeliteratur.org/)

Danke, Romy, Churke und Erdbeere für euere Gedanken. Ich habe in den nächsten Tagen vor, den o. g. Link noch zu analysieren und für die Zusammenfassung zu verwenden. Euere Anregungen werde ich mit einfließen lassen und in den ersten Post des Threads eben als Zusammenfassung stellen.
Diese können wir dann immer weiter ergänzen, solange jemandem zu dem Thema was Neues einfällt.  :jau:
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Romy am 03. Mai 2011, 01:59:20
Danke für den Link Sorella. Ich hab grad nur mal reingeguckt, aber das sieht wirklich seeeehr vielversprechend aus. Da muss ich mal stöbern gehen. :D

Zu den drei Protatypen, die ich gestern genannt habe, ist mir noch ein klassischer Typ eingefallen:
Ein Prota, der fest in Gesellschaft und System integriert ist und dem es rundum gut geht. Der dann aber durch irgendetwas aufgerüttelt wird oder durch "Zufall" in irgendwas verwickelt wird, was ihn zum Umdenken bringt.

Mir ist auch wieder der Film Aeon Flux eingefallen. Okay, über den kann man streiten. Charlize Theron rennt den Großteil des Films halbnackt rum und ständig fliegen Kugeln durch die Gegend, aber von der Idee fand ich ihn trotzdem sehr ungewöhnlich, es ist aber auch schon viiiiel zu lange her, dass ich ihn gesehen habe.
Sie ist die Rebellin (klassische Sache) und soll ihn, den großen Regierungschef (zweiter Prota) umbringen, der ja vermeindlich für alle Missstände verantwortlich ist. Es stellt sich dann aber heraus, dass er eigentlich recht unschuldig ist und in Wahrheit eigentlich einer seiner Berater (sein Bruder glaube ich?) für alles verantwortlich ist, aber den Namen des Regierungschefs immer vorgeschoben hat. Der ist ein weltfremder Typ und hat von allem nichts mitgekriegt und ist völlig überrascht, dass er plötzlich umgebracht werden soll ...


Zitat von: Erdbeere am 02. Mai 2011, 16:20:01
Hm, vielleicht sollte ich mehr dystopische Bücher lesen. Das Thema fasziniert mich nämlich ungemein.  :hmmm:
Geht mir ganz genauso. Vor allem sollte ich mal verstärkt Bücher in die Richtung lesen. Filme habe ich doch einige gesehen, wie mir klar wird, je mehr ich darüber nachdenke.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 03. Mai 2011, 10:47:30
Zitat von: Erdbeere am 02. Mai 2011, 16:20:01
Die Menschen ausserhalb des Systems können als Wilde oder Barbaren bezeichnet werden, mit denen niemand innerhalb des System tauschen will.

Da wird es dann wirklich verzwickt: Wenn man ein dystopisches System hat, zu dem es augenscheinlich keine Alternative gibt, befindet sich der Held in einem ausweglosen Dilemma.

Das ist eigentlich auch in Aeon Fluxx so. Das System ist neudeutsch gesagt alternativlos. Den bösen Bruder gibt es nur, um das System auflösen zu können.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: zDatze am 03. Mai 2011, 11:00:06
ZitatWenn man ein dystopisches System hat, zu dem es augenscheinlich keine Alternative gibt, befindet sich der Held in einem ausweglosen Dilemma.
Darf man den Held denn auch in diesem Dilemma stecken lassen? Es wird am System gerüttelt, aber es kann nicht gebrochen werden und am Ende läuft alles weiter wie vorher? Ich finde den Gedanken sehr verlockend, aber ich glaube, die Leser würden den Autor dafür hassen. ::)
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 03. Mai 2011, 11:25:02
Zitat von: zDatze am 03. Mai 2011, 11:00:06
Ich finde den Gedanken sehr verlockend, aber ich glaube, die Leser würden den Autor dafür hassen. ::)

Ja genau, diese Bedenken hätte ich auch ... Hmm.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Thaliope am 03. Mai 2011, 11:36:47
Für mich gehört das eigentlich zum Wesensmerkmal einer Dystopie: Dass das System am Ende erhalten bleibt. Dystopien müssen nach meinem Verständnis eigentlich ein unangenehmes Gefühl beim Leser hinterlassen - sofern man damit etwas aussagen möchte.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 03. Mai 2011, 14:37:50
Zitat von: Thaliope am 03. Mai 2011, 11:36:47
Für mich gehört das eigentlich zum Wesensmerkmal einer Dystopie: Dass das System am Ende erhalten bleibt.

Hier muss sich der Dichter entscheiden, was er damit sagen will. Obsiegt das System, dann steht dahinter die Aussage, dass der Einzelne dem übermächtigen System ausgeliefert ist.
Bricht das System zusammen, ist es eben doch nicht allmächtig.
Meiner Meinung nach ist der Zeitpunkt kurz vor dem Zusammenbruch der interessanteste. Denn dann tritt die Realitätsverweigerung am offensten zutage.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 03. Mai 2011, 15:32:49
So, ich habs mal versucht. Sorry, dass es so lange gedauert hat. Ich habe mitunter aus Euren Beiträgen mit gesaugt. Die Links habe ich links liegen lassen, um mir selber nicht den Spaß am selbst entwickeln zu verderben.

CAVEAT aus gegebenem Anlass:
Ein Schema ist eine Denkhilfe, kein Dogma. Gute Romane entstehen oft durch Beherrschung des Schemas. Hervorragende Romane entstehen oft durch (teilweise) Überwindung des Schemas. Zu weite Entfernung vom Schema stört indes den notwendigen Wiedererkennungseffekt beim Leser.

System-Dystopie:
Setting:
Fundament ist die Ist- Welt. Das dystopische Setting ist eine Weiterentwicklung dieser Ist-Welt. Oft wird sie daher in die Zukunft verlagert, womit sie sich mitunter mit der SF überschneidet. Die Welt des dystopischen Romans muss für den Leser als imperfekt erkennbar sein bzw. im Laufe des Romans werden. Dies geschieht im Regelfall in dem ein oder mehrere Parameter der Welt des Protagonisten im Vergleich zur Ist-Welt ins Negative projiziert werden. Z.B. starke Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte, Ressourcenmangel, gesundheitsschädliche Umwelt, übergriffige Exekutivorgane, starke gesellschaftliche Spaltungen, extreme Eingriffe in Bereiche persönlicher Lebensgestaltung, starke Betonung aggressiver gesellschaftlicher Impulse etc. pp. Die Veränderungen gehen, soweit sie soziologischer Natur sind, oft auf eine herrschende Kaste zurück. Zweck der Veränderungen kann purer Machterhalt sein, ist aber oft eher die Bekämpfung einer von diesen Herrschenden als negativ empfundenen gesellschaftlichen Entwicklung mit extremsten Mitteln (Die zur Dystopie gewordene Utopie). Da die extremen Einschränkungen notwendigerweise Widerstände hervorrufen ist die Herrschaftsform häufig eine Art von Diktatur, die sich z.B. auf faschistoide Gewalt, geistige Manipulation, starken Konformitätsdruck, künstliche Verknappung oder Kontrolle von Ressourcen und/oder auf gezielte Fehlinformation stützt (manchmal betrifft die dystopische Entwicklung allerdings auch nur Teile dessen was wir unter dem Begriff Staat verstehen, z.B. ausschließlich die Justiz oder die Gesundheitsverwaltung etc.). Häufig stellt die herrschende Kaste im Verhältnis zu den Beherrschten eine relative Minderheit dar. Der mitunter vorhandene, bereits erwähnte futuristische Aspekt von Dystopien kommt häufig dadurch zum Ausdruck, dass fiktive Technologien das Mittel des Machterhalts der herrschenden Kaste sind und die Phänomenologie der dystopischen Welt mitunter deutlich prägen. Dabei kann die Technik im Rahmen einer Mangelgesellschaft selbst düster und mangelhafte daherkommen, oder im Gegenteil klinisch perfekt. In manchen Dystopien gibt es jenseits der Grenzen der dystopischen Welt eine Art Gegenwelt, die sich insbesondere durch die Abwesenheit der dystopischen Elemente auszeichnet, die also ein Ort der Fülle, der Freiheit, der Würde ist etc. Es liegt dann in der Natur der dystopischen Welt, sich gegen diese Gegenwelt abzugrenzen, oft im manifesten Sinne des Wortes. Ein weiterer Wesenszug der dystopischen Welt ist oft das Vorhandensein von strukturellem Widerstand meist in subversiver Form. Bei den eher technoid gehaltenen Dystopien wendet der Widerstand mitunter die technischen Errungenschaften der herrschenden Kasten gegen diese.

Klassische Charaktere der Dystopie:
Der Protagonist der Dystopie ist recht häufig ein Vertreter der herrschenden Kaste, der im Verlauf der Handlung einen Moment der Desillusionierung erlebt. In diesem Fall zeichnet er sich gegenüber weiteren Figuren meist durch seine privilegierte Stellung aus, die ihm eine bessere Versorgung, Bildung etc. ermöglicht. Ein solcher Protagonist ist nach dem Moment der Desillusionierung deswegen ein besonders gefährlicher Feind für die herrschende Kaste, da er Insiderwissen besitzt. Möglich ist natürlich auch eine Konstruktion in welcher der Held dem Widerstand gegen die herrschende Kaste angehört. Aus dramaturgischen Gründen ist eine solche Konstruktion eher selten, den die Dystopie mit ihrer negativen und antiromantischen Unterströmung erlaubt kaum einen als ,,Happy End" zu wertenden unbedingten Sieg eines solchen Helden (ich werde daher im Weiteren nicht darauf eingehen). Eine weitere häufig vertretene Variante ist der neutrale Held, der weder der herrschenden Kaste noch dem Widerstand sondern quasi dem gemeinen Volk angehört. Oft hegt er zwar negative Gefühle gegenüber der herrschenden Kaste, beugt sich aber ihrem Konformitätsdruck.
Der Protagonist als Teil der herrschenden Kaste hat nicht selten einen Sidekick, der wie er selbst dem System angehört. In diesem Fall wird sich der Weg der beiden nach der Desillusionierung des Helden notwendigerweise trennen und der Sidekick wird meist zum (Haupt-)Antagonisten den Helden. Es gibt allerdings auch den Fall, dass sich der Sidekick des Protagonisten quasi als Shapeshifter zu irgendeinem Zeitpunkt der Handlung als Angehöriger des Widerstands entpuppt, sei es um den Protagonisten bei seinem Kampf gegen das System zu unterstützen, sei es, um als von der herrschenden Kaste bestimmtes Opfer des Protagonisten dessen Desillusionierung zu bewirken.
Die Desillusionierung des Protagonisten wird nicht selten auch durch eine Frau als Versucherin (die bei weiblichen Protagonisten natürlich auch ein Mann sein kann), die dann im weiteren Verlauf der Handlung zur romantischen Beziehung des Protagonisten wird. Nicht selten fällt er/sie der herrschenden Kaste zum Opfer.
Die Freunde, die der Protagonist im Verlauf der Handlung gewinnt, sind oft Angehörige des Widerstands, die ihm dann gegen Antagonist und herrschende Kaste zur Seite stehen.  Einige Angehörige dieses Widerstands können Shapeshifter also in Wahrheit Vertreter des Systems sein. Umgekehrt kann der Protagonist im Verlauf der Handlung innerhalb der herrschenden Kaste auf unverhoffte Freunde des Widerstands entdecken.
Auch in Dystopien gibt es manchmal orakelhafte Gestalten, die dem Protagonisten über die Schwelle der Desillusionierung helfen, indem sie ihn über den ,,wahren" Charakter des Systems aufklären.
Auch kann es einen Propheten geben, der z.B. in der Rolle des Führers des Widerstands auftritt und dann nicht selten zum Opfer wird.
Der Antagonist des Helden ist in jedem Fall ein Vertreter der herrschenden Kaste, oft gerade deren Führer oder zumindest  ein hohes Mitglieder Hierarchie. Solche Antagonisten sind zu Beginn der Handlung oft Mentoren des Protagonisten, die sich erst nach seiner Desillusionierung gegen ihn wenden. Wie bereits geschildert kann der Antagonist aber auch der anfänglich gleichgestellte Sidekick des Helden sein, der insofern dann später die ansonsten recht unsichtbare herrschende Kaste personifiziert. Ist der Protagonist zu Anfang Teil des Systems, so kann der Antagonist in seltenen Fällen auch gerade Teil des Widerstands sein, der dessen Zwecke mit extremen Mitteln verfolgt und dadurch für den Leser trotz seiner verständlichen Motivation zwiespältig wirkt. Eine solche Dystopie endet dann regelmäßig damit, dass der Antagonist sich nach einem Moment gegenseitigen Annäherung letztendlich opfert, um dem Protagonisten endgültig die Augen zu opfern bzw. ihm den entscheidenden Anstoß oder das Mittel zur Überwindung des Systems in die Hände zu geben.

Plot:
Die Dystopie beginnt wie die meisten Heldenreisen oft mit der Schilderung der Ist-Welt mittels derer der Leser die Besonderheiten der Dystopie kennenlernt. Eine Schilderung ist Rückblenden ist denkbar aber wegen der notwendigen Informationsfülle schwierig, eine gemischte Darstellung recht üblich. In diesem Teil ist Wert auf die Unterschiede der Lebenswelten der herrschenden Kaste, der Normalmenschen und (falls vorhanden) des Widerstands zu legen.
Ein Held der Teil des Systems ist oder diesem mehr oder weniger neutral gegenüber steht bedarf eines Momentes der Desillusionierung, der zugleich Plot Point 1 der Handlung ist und demgemäß in aller Regel spätestens nach einem Viertel der Seiten erfolgen sollte. Die Desillusionierung kann auf die verschiedensten Arten erfolgen:
•   Der Held erhält unverhofft Insiderinformationen über die wahre Natur des Systems
•   Eine d andere Figur wird Opfer des Systems. Diese Figur ist dem Helden sympathisch und/oder die Opferung geschieht in besonders extremer Form
•   Der Held wird unversehens selber zum Opfer des Systems
•   Der Widerstand tritt mit dem Held in Verbindung um ihn zu erwecken. Dies kann auch gewaltsam geschehen oder – wie oben geschildert – durch die Frau als Versucherin.
Diese Desillusionierung setzt den Helden in Gegensatz zum System/zur herrschenden Kaste und damit die Handlung in Gang.
Über den Mittelteil der Handlung lässt sich wegen der Variationsbreite der denkbaren Abläufe am wenigsten sagen. Allgemein wird es so sein, dass der Held hier die weitere Vertiefung seines Konfliktes mit dem System erlebt, sich für den Kampf mit diesem rüstet, indem er sich informiert, Unterstützung gewinnt und ,,Waffen" findet. Die Dystopie mit ihrer eher düsteren Zeichnung bedingt einen opferreichen Gang des Helden auch in dieser Phase.
Der Plotpoint 2 bzw. die ,,tiefste Höhle" besteht wie in den meisten Abenteuergenres in der finalen Konfrontation von Protagonist und Antagonist. Hierbei wird in aller Regel der Protagonist als Vertreter des Widerstands und der Antagonist als Vertreter bzw. das System selbst auftreten, allerdings kann es – wie oben geschildert – auch umgekehrt sein. Kämpft der Held für den Widerstand wendet er in dieser Situation häufig die Machterhaltungsmethodik des Systems gegen dieses. In aller Regel endet die finale Konfrontation mit der physischen oder symbolischen Auslöschung des Antagonisten. Wird hierbei der Antagonist als Widerstandskämpfer geopfert, so bewirkt dies zugleich die endgültige Desillusionierung des Protagonisten bzw. seine finale Konfrontation mit der herrschenden Kaste.
Im auf den Plotpoint 2 folgenden Denouement nutzt der Protagonist seine neugewonnenen Fähigkeiten meist zur endgültigen Beseitigung des Systems, z.B. indem er dem Volk die Augen öffnet, die herrschende Kaste besiegt oder den Machterhaltungsapparat des Systems zerstört. In anderen Fällen nutzt der Protagonist seine Fähigkeiten zur Flucht aus dem System in die Gegenwelt. Nicht undenkbar ist auch die Beendigung der finalen Konfrontation mit der Auslöschung des Helden (der dabei oft mit dem Antagonisten zum Doppelopfer wird). In diesem Fall fordert die gängige Dramaturgie das symbolische Überleben des Helden in Form eines physischen oder geistigen Kindes, also eines Nachkommen, einer überlebenden geliebten Person, einer Hinterlassenschaft die dann oft die Befreiung vom System zur Folge hat oder zumindest andeutet. In einer Dystopie ist es nicht unbedingt erforderlich, die Überwindung des Systems im Denouement zu zeigen. Nicht selten wird nur ihre Möglichkeit angedeutet aber letztlich offen gelassen. Entscheidet sich der Autor dafür eine komplette Überwindung des Systems zu zeigen, so kann der düstere Charakter des Dystopie dadurch erhalten bleiben, dass die Möglichkeit einer Rückkehr des alten Systems angedeutet wird.
Stil:
Die Dystopie ist definitionsgemäß ein negatives Szenario. Daher wird ihr Stil in der Regel schwer und düster sein, allerdings nicht elegisch oder gar episch. Die Sprache der handelnden Figuren wird oft von knapp und scharf sein. Witz fließt zumeist in der Form von Sarkasmus oder Lakonik in die Schilderung und Sprache ein. Dramaturgische Fallhöhe entsteht oft durch die Gegenüberstellung der Wärme menschlicher Beziehung und der Kälte der Welt in der sie stattfinden. Die Schilderung romantischer Beziehung wird die Rauheit der Welt, in der sie stattfinden, zumeist reflektieren.

Ditt war et. Viel Spaß beim Ergänzen, Ändern und dran reiben. Fledderung zum Zwecke der Weiterentwicklung ist ausdrücklich erwünscht. Es ist wirklich nur als Baukasten gedacht.

Liebe Grußies, Thomas
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 03. Mai 2011, 16:47:45
WOW! Äh, Leute ihr seid alle genial. Danke Thomas, dass du deine umfangreichen Werkzeuge zur Verfügung stellst. Das ist wirklich ein unschätzbarer Gewinn für den Thread. Bist du nicht der Autor Thomas Elbel dessen Debütroman "Asylon" im August 2011 bei Piper erscheint? Eine Dystopie, wie ich gehört habe.
;D

Jede Menge Stoff für mich, den ich in (hoffentlich) strukturierter Form im ersten Post dieses Threads zusammenstellen werde. Bin heute leider mobil unterwegs und tippe mir die Finger auf dem Smartphone wund. Wenn ich wieder zuhause bin mache ich mich daran.

Dann können wir wunderbar weiter zusammentragen, bis uns nix mehr einfällt (oder wir machen einen Ratgeber draus und verdienen Kohle damit ...Quatsch- Sorry ich bin ein unverbesserlicher Kapitalist)

Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 03. Mai 2011, 18:39:23
Es folgt eine Liste aller mir persönlich bekannten(System- Dystopien), die mir eingefallen sind und die Ihr anderen gerne ergänzen oder für die Streichung vorschlagen könnt.
[EDIT] Liste in Extrathread verlegt. Guckstu hier: http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html)
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 04. Mai 2011, 15:31:21
Dystopien müssen nicht immmer erfundene, literarische Konstrukte sein. Es gab (gibt?) Dystopien oder Gesellschaften mit dystopischen Zügen auch in der Realität.

- Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts.
- Die stalinistische Kleptokratie in Nordkorea.
- Der Terror der Wohlfahrtsausschusses in der Französischen Revolution.
- Salazars Neuer Staat in Portugal.
- Das Imperium Romanum von 313 - 636.

Irgendwie typisch für solche Systeme ist eine ausgeprägte Realitätsverweigerung, die besonders in der Endphase realsatirische Züge annehmen kann.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 15:54:57
Zitat von: Churke am 04. Mai 2011, 15:31:21
Dystopien müssen nicht immmer erfundene, literarische Konstrukte sein. Es gab (gibt?) Dystopien oder Gesellschaften mit dystopischen Zügen auch in der Realität.
Lieber Churke, Du erwähntest so was ähnliches bereits in dem anderen Thread. Aber hier geht es der Natur des Forums entsprechend meines Erachtens eben um die erfundene Dystopie. Solltest Du allerdings irgendwann einmal im Sinne haben, eine reale Dystopie aufzubauen (nach Schema oder ohne) sag mir bitte unbedingt Bescheid. Ich bin sofort dabei.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: gbwolf am 04. Mai 2011, 16:01:11
Die Sache mit der erfundenen Dystopie sehe ich eigentlich wie Churke: Man kann sehr gut irdische Beispiele und dazu nutzen, entweder Dystopien in Fantasywelten zu konstruieren oder zu überlegen, weshalb diese Systeme so dystopisch wurden.
Das ist auch ein Ansatz, den ich gerne verfolge, wenn ich SF schreibe. Es muss auch nicht immer gleich ein Staat sein, finde ich. Eine Gesellschaft beschränkt sich manchmal schon auf wesentlich kleinere Systeme. Mich gruselt es zum Beispiel, wenn ich sehe, welchen Schaden wohltätige Organisationen anrichten können mit "gut gemeint ist nicht gut gemacht". Da entstehen in Krisenregionen und Entwicklungsländern Schäden, die für die Einheimischen ein dystopischer Alptraum sein müssen!
Momentan schmöckere ich mich durch die Homepage und die Lizenzsausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung und ganz allgemein durch Romane und Sachbücher zu gesellschaftwissenschaftlichen Themen. Da lagern so unendlich viele Erfahrungen und Ideen.

Eine gute Dystopie macht für mich aus, wenn nicht nur der Protagonist größtmöglichen Schrecken erlebt, sondern für mich als Leser ein ungutes Gefühl zurück bleibt, ein "Da könntest du ganz schnell selbst drin stecken".
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 16:18:13
Liebe Wölfin, natürlich kann das eine gute Inspirationsquelle z.B. für den look and feel einer dystopischen Welt sein. Aber erstens geht es darum in diesem Thread (anders als mittlerweile in dem anderen, den ich aufgesetzt hatte) eben nicht. Und außerdem halte ich es für einen relativen Anfänger für extrem schwierig einen Plot um eine gehaltvolle politische Botschaft herumzustricken. Ich hatte es glaube ich an anderer Stelle schon mal erwähnt: Wenn man in sowas nicht sehr geübt ist, gerät das ganze leicht krampfig und für den Leser unangenehm pädagogisch. Kurz gesagt, ich bin kein Freund von Büchern, die mir allzudeutlich eine Botschaft vermitteln wollen und diese über den Unterhaltungsfaktor setzen. Ist natürlich nur meine Meinung.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Farean am 04. Mai 2011, 16:28:55
Zitat von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58
(Wer gerne über die Genredefinition einer Dystopie diskutieren will - es gibt einen umfangreichen anderen Thread dafür, guckst du hier (//http://))
Der Link ist leider kaputt. Wo finde ich den Thread?

Zitat von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58
Was ist in Bezug auf den Protagonisten und die Charaktere zu beachten?
Wie sollte ein klassischer Dystopie-Plot strukturiert sein? An anderer Stelle im Forum wurde gesagt:
[...]
Sehr ihr das auch so? :hmmm:
Nö.

Ich sehe die Dystopie, genau wie Franziska, eigentlich eher als Merkmal des Weltenbaus, nicht des Plots. Eine Systemdystopie kann alle möglichen Charaktere hervorbringen und dementsprechend als Rahmen für alle möglichen Plots dienen.

Was Sorella in dem Zitat angeführt hat, wäre ein typischer "Erkenntnis-und-Rebellion"-Plot: die Erkenntnis, daß dein bisheriges Leben auf falschen Prämissen basierte, gefolgt vom Ausbruch aus dem System. Sehr beliebt, aber lange nicht der einzig mögliche Plot.

Zunächst einmal könnte "Erkenntnis und Rebellion" auch andersherum laufen: zu Beginn ist der Protagonist einer der Verlierer der Dystopie, der gegen das System kämpft. Dann winkt ihm plötzlich der Aufstieg in die "höheren Schichten", und er sieht sich mit der Verlockung konfrontiert, daß ihn das System ebenso korrumpieren kann wie die Herrschenden, die er bis dato bekämpft hat... oder mit der Möglichkeit, das System zu reformieren, anstatt es zu stürzen... oder mit der Erkenntnis, daß seine Rebellenkameraden auf ihre Weise genauso miese Dreckschweine sind wie die tyrannische Obrigkeit...

Ebenso sind völlig unpolitische Plots möglich, die nichts mit dem "Kampf gegen das System" zu tun haben, sondern nur mit dem "Überleben im System": ein Familiendrama etwa oder eine Liebesgeschichte um den Funken Menschlichkeit, den es inmitten der Stahlwüste des futuristischen Megaplexes zu bewahren gilt - ohne dabei am dystopischen "Großen Ganzen" was zu ändern oder auch nur zu kratzen. Charaktere, die sich pfiffig durch die Regeln des Systems durchwinden und sie verdrehen und ausnutzen, anstatt heroisch dagegen anzukämpfen. Auf diese Weise wäre sogar eine dystopische Komödie denkbar.

Zur rein handwerklichen Frage nach der Herangehensweise: ich würde erst einmal meinen dystopischen Weltenbau erstellen und gucken, welche Rollen "das System" seinen Bewohnern eröffnet. Ich würde exemplarisch für verschiedene Berufsgruppen und Subkulturen Charaktere erstellen und gucken, welche Hoffnungen und Ängste sich aus der Interaktion mit "dem System" für sie entwickeln. Und sobald eine(r) von ihnen eine alles beherrschende Sehnsucht oder Angst hat, taugt er/sie zum Protagonisten und die Jagd nach dieser Sehnsucht bzw. die Flucht vor dieser Angst zum Hauptplot. Irgendeine Aussage über das System wird dabei schon herauskommen. ;)

Nachtrag: was meiner Ansicht nach rein handwerklich wichtig ist, wäre, das System beim Entwurf nicht zu werten. Es ist nicht böse, es ist einfach da. Es ist aus irgendwelchen Notwendigkeiten heraus gewachsen und/oder war ursprünglich als Verbesserung gedacht, denn keine Gesellschaft stülpt sich freiwillig einen Unterdrückungsapparat über, ohne sich was davon zu versprechen.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 04. Mai 2011, 17:00:28
Zitat von: Schommes am 04. Mai 2011, 15:54:57
Lieber Churke, Du erwähntest so was ähnliches bereits in dem anderen Thread. Aber hier geht es der Natur des Forums entsprechend meines Erachtens eben um die erfundene Dystopie. Solltest Du allerdings irgendwann einmal im Sinne haben, eine reale Dystopie aufzubauen (nach Schema oder ohne) sag mir bitte unbedingt Bescheid. Ich bin sofort dabei.

Der griechische Bildhauer Praxiteles wurde einmal gefragt, wer sein Lehrmeister sei. Praxiteles: "Die Natur."

Eine realexistierende Dystopie ist nicht nur Inspiration, sie ist das perfekte Unterrichtsmaterial. Man hat eine Vorlage, die bis in den letzten Winkel absolut fehlerfrei ist, weil sie eben real existiert(e).
Ich halte daher das Studium der realen Dystopien - über das Inspirationsmoment hinaus - für eines der wirkungsvollsten Werkzeuge auf dem Weg zu einer verdammt guten (System) Dystopie.

Ich reite auch deshalb so darauf herum, weil ich einen historischen Roman mit dystopischem Setting fabriziert und dabei sehr viel gelernt habe. 
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 17:17:21
Die Dramaturgie des Lebens hat mit der Dramaturgie des Unterhaltungsromans gleich gar nichts gemein. Sonst wäre eine historische Abhandlung über das Dritte Reich zugleich ein Spannungsroman. Da das ganz offensichtlich nicht so ist, kann die Realität vielleicht eine Inspirationsquelle, aber sicherlich kein dramaturgisches Modell sein. In diesem Thread geht es um den Aufbau einer Dramaturgie mit der Prämisse, dass am Ende eine Romandystopie dabei herausspringen soll.
Irgendwie kommt mir diese Diskussion bekannt vor. Déja vu. I guess it's just a glitch in the matrix. Wo ist das nächste Telefon?
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Lomax am 04. Mai 2011, 17:51:47
Zitat von: Schommes am 04. Mai 2011, 16:18:13Und außerdem halte ich es für einen relativen Anfänger für extrem schwierig einen Plot um eine gehaltvolle politische Botschaft herumzustricken. Ich hatte es glaube ich an anderer Stelle schon mal erwähnt: Wenn man in sowas nicht sehr geübt ist, gerät das ganze leicht krampfig und für den Leser unangenehm pädagogisch.
Nun ja, "politische Botschaft" und "realhistorische Inspiration" sind ja auch zwei paar Schuhe. Da läuft das eine nicht automatisch auf das andere hinaus. Ganz im Gegenteil halte ich es gerade für einen auch für Anfänger hilfreichen Hinweis, dass es bei der Konstruktion dystopischer Szenarien auch reale Vorbilder gibt, die man als Materiallager verwenden kann. Wo sonst findet man leichter Anregungen, die auch wirklich funktionieren und glaubwürdig sind?
  Wie dick man dann den realen Bezug einbaut und ob man explizit auch den Zeigefinger für sein Buch übernimmt - "sieh her, so ist es wirklich gewesen und das war ganz schlimm" -, das bleibt ja dem Autor dann selbst überlassen.

Wie "dystopisch" realweltliche Vorbilder dann in der Realität wirklich sind, ist dann auch wieder eine andere Frage. Da habe ich bedenken, ob die 1:1 als Setting einer Dystopie eignen, oder ob eine "richtige" Dystopie nicht immer zuspitzen und vereinfachen muss. Französische Revolution und die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses ist dafür ein gutes Beispiel. Sieht man in der Rückschau und geprägt durch die Rezeption der Vorgänge im monarchistischen Ausland und in späteren Generationen gerne als regelrecht "dystopisches Szenario", relativiert sich aber plötzlich sehr beim Vergleich mit anderen historischen Vorgängen und bei näherer Betrachtung der Zusammenhänge im Detail. Und bei anderen historischen Vorbildern mag es genauso sein.
  Da kann man dann höchstens sagen, dass historische Vorbilder für "Anfänger" womöglich darum mit Vorsicht zu genießen sind, weil plötzlich die dramaturgische Klarheit verloren gehen kann und man sich in ambivalenten Details verliert, wenn man zu genau auf diese "Realitäten" schaut anstatt dem theoretischen Konzept zu folgen.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 17:58:49
Zitat von: Farean am 04. Mai 2011, 16:28:55
Der Link ist leider kaputt. Wo finde ich den Thread?
Hier: http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7667.0.html (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7667.0.html)
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Farean am 04. Mai 2011, 18:06:19
Danke. :)
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 18:11:00
Eine reale Dystopie kann mir bei der Entwicklung des Bühnenbilds oder anderer Einzeldetails der Phänomenologie einer Romandystopie helfen (z.B. Zitat bestimmter Foltermethoden, Verhaltensweisen politischer Führer etc.).
Aber der Ablauf der realen Ereignisse ist im Regelfall keine sonderlich gute Grundlage für die dramaturgische Komposition eines Romandystopieplots um den es in diesem Thread gehen soll. Wie Lomax sagt: Die Wirklichkeit ist in aller Regel zu komplex und mitunter auch schlicht zu langweilig um daraus einen spannenden Roman zu komponieren. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 04. Mai 2011, 19:00:07
Zitat von: Churke am 04. Mai 2011, 17:00:28
Der griechische Bildhauer Praxiteles wurde einmal gefragt, wer sein Lehrmeister sei. Praxiteles: "Die Natur."

Eine realexistierende Dystopie ist nicht nur Inspiration, sie ist das perfekte Unterrichtsmaterial. Man hat eine Vorlage, die bis in den letzten Winkel absolut fehlerfrei ist, weil sie eben real existiert(e).
Ich halte daher das Studium der realen Dystopien - über das Inspirationsmoment hinaus - für eines der wirkungsvollsten Werkzeuge auf dem Weg zu einer verdammt guten (System) Dystopie.

Ich reite auch deshalb so darauf herum, weil ich einen historischen Roman mit dystopischem Setting fabriziert und dabei sehr viel gelernt habe. 


Könntest du mir bitte daraus einen kurzen Satz formulieren, den ich für die praktischen Ansätze verwenden kann? Mir gelingt es leider nicht, aber ich möchte dich nicht vor den Kopf stoßen, Churke.
Also bitte nicht falsch verstehen, dieser Post gehört für mich in die Diskussion.

Zitat von: Lomax am 04. Mai 2011, 17:51:47
Nun ja, "politische Botschaft" und "realhistorische Inspiration" sind ja auch zwei paar Schuhe.

...

in ambivalenten Details verliert, wenn man zu genau auf diese "Realitäten" schaut anstatt dem theoretischen Konzept zu folgen.

Für diesen Post gilt das Gleiche. Ich bitte dich, Lomax mir daraus einen praktischen Ansatz als Satz zu formulieren, ich werde ihn in den Baukasten einfügen. Wenn es nicht gelingt, gehört dieser Post in die Diskussion.

@all  Bitte um Verständnis, das wir die Themenbereiche Praxis+Diskussion scharf abgrenzen müssen, sonst führen wir dies hier weiter, was an anderer Stelle für Magenschmerzen gesorgt hat.
Ich werde Schommes bitten, seinen Thread als [Diskussion] zu kennzeichnen, ich werde diesen hier mit [Praxis] kennzeichnen.

EDIT: @ Farean, den Link habe ich repariert, danke für den Hinweis  :)
Titel: Re: Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Lomax am 04. Mai 2011, 19:41:12
Zitat von: Sorella am 04. Mai 2011, 19:00:07Könntest du mir bitte daraus einen kurzen Satz formulieren, den ich für die praktischen Ansätze verwenden kann?
Zu dem von Churke genannten Ansatz fällt es mir leichter, praxisorientierte Sätze zu generieren. Zu dem, was du aus meinem Post zusammengefasst hast, geht das naturgemäß nicht, weil ich da ja nichts anderes festgestellt habe, als dass Churkes Ansatz durchaus einen praktischen Nutzen haben kann, aber man sich unter Umständen in der Historie auch verzetteln kann. ;)

Aber gut, praktischer Nutzen aus der Historie für die literarische Dystopie, der erste Ansatz für die Praxis: Wenn du in deiner Dystopie etwas verwendest und Zusammenhänge einer dystopischen Gesellschaft darstellst, und wenn du Figuren in dieser Gesellschaft zeigst und ihre Interaktion mit den Verhältnissen, dann schau ruhig mal in der Geschichte nach, ob es so was schon mal gab, und wie es in der Realität abgelaufen ist. Damit vermeidet man allzu offensichtliche Fehler oder naive Kurzschlüsse, die sich leicht einschleichen können, wenn man seine Dystopie rein theoretisch zusammenreimt, und man macht seine Geschichte damit glaubwürdiger.
  Ich denke mal, das wäre ein praktischer Ansatz.

Ansonsten denke ich, trifft Schommes Post es ganz gut: Die Historie kann vor allem nützlich sein fürs "Bühnenbild", für den Plot liefert sie selten brauchbare Vorlagen.
  Aber (und das wäre dann der zweite praxisorientierte Satz aus Churkes Einwand): Wenn man reale, historische Gesellschaften mit dystopischen Zügen studiert, dann findet man darin durchaus auch reale Einzelschicksale und Begebenheiten, die sich ganz hervorragend für die literarische Fiktion adaptieren lassen. Und die einem dabei helfen, glaubwürdig zu erzählen und Fehler zu vermeiden, die sich leicht einschleichen, wenn man seinen Plot zu theoretisch konzipiert - ganz einfach weil man an Beispielen sieht, was möglich ist und wo die Realität schon mal bewiesen hat, dass es so nicht funktioniert.
  Ich denke mal, das sind gute Gründe und genug praktischer Nutzen, um nicht nur das Studium realer Gesellschaften als notwendige praktische Vorbereitung beim Abfassen einer literarischen Dystopie anzusehen, sondern auch um gezielt nach passenden historischen Gesellschaften für dieses Studium zu suchen.
Titel: Re: [PRAXIS] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 04. Mai 2011, 19:55:43
Ich kann mit Mühe folgende Quintessenz bilden:

"Man kann zu Recherchezwecken auch Systeme und Szenarien aus der Geschichte oder Gegenwart analysieren und vergleichsweise heranziehen."

Wenn ihr das wollt, kann ich das mit hinschreiben, zufriedenstellend finde ich das nicht.  :-\ (schaden tut es aber auch nicht, also kann ich damit leben)
Titel: Re: [PRAXIS] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 04. Mai 2011, 23:35:12
Upps. Mich quält gerade eine Frage: Gehört Fight Club auch auf meine Liste?
Titel: Re: [PRAXIS] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 05. Mai 2011, 11:06:29
Ich kenne Fight Club leider nicht.
Wenn es eine Dystopie ist müsste er über eine Grund-Utopie verfügen. Hat er die?
Titel: Re: [PRAXIS] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Farean am 05. Mai 2011, 11:14:12
Hat er. Und zwar das derzeit in diversen Verfassungen festgeschriebene (und weitgehend im Alltag gelebte) Recht auf Unantastbarkeit der Person.

"Fight Club" interpretiert dies so, daß wir in unserem Alltag "in Watte gepackt" umherlaufen und uns ständig zusammenreißen und lieb und nett sind, obwohl wir uns viel lieber manchmal ordentlich prügeln wollen. Die Dystopie besteht schlichtweg in einem einseitigen/verzerrten Blick auf unsere aktuelle Realität. Das Aufbegehren gegen die Dystopie besteht in der Gründung der illegalen Boxclubs, die letzten Endes als breite Massenbewegung zum -- als erstrebenswert dargestellten -- Rückfall in Chaos und Anarchie führen.
Titel: Re: [PRAXIS] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 05. Mai 2011, 11:18:28
Ich wollte das eben gerade so ähnlich beschreiben:

Das ist eben das Schwierige. Das Buch ist übrigens genauso lesens- wie der Film sehenswert.

Das Interessante ist, dass das Buch in einer unveränderten Jetztwelt spielt, die aber aus der Perspektive des Helden dystopisch erscheint (Konsumkritik, Bindungslosigkeit, Sinnlosigkeit der Arbeitswelt). Der Antagonist ist daher in einen extremen Widerstand verfallen, der auf die Philosophie der Neo-Ludditen aufbaut (Utopie???).
Das Buch ist wahrscheinlich ebenso ein Sonderfall, weil es nicht ganz ins Normalschema passt, aber generell schon dystopisch.

Ich bitte ergebenst um weitere Meinungen  :bittebittebitte: aber wohl besser in dem Listenthread http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html (http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html) wenn das geht. 
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 06. Mai 2011, 18:44:48
[EDIT] 06.05.11 Grundbaukasten einer klassischen Dystopie mit Archeplot im ersten Post erweitert

Ich bin gefrustet, soviel Zeitaufwand für so wenig Ergebnis  :seufz: Tut mir leid Leute, wenns nur zäh vorwärts geht. Ihr könnt ja zwischenzeitlich Filme und Bücher analysieren  ;D

Während der Zusammenstellung sind mir aber ständig Paralellen zu mir bekannten Dystopien aufgefallen. Die Abgrenzung zur Gegenwelt ist z. B. in Tribute von Panem der überwachte Zaun. Die Technologie bei Panem wirkt teilweise mangelhaft (in den Distrikten), im Kapitol dagegen findet man hochentwickelte fiktive Technik. Die Kommunikation zwischen den Distrikten ist gestört, bzw. gar nicht vorhanden.

Schön langsam verinnerliche ich die Prinzipien einer klassischen Dystopie. Vorher hatte ich es nur für ein extrem spannendes Buch gehalten.  :hmmm: Fortsetzung folgt.
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 07. Mai 2011, 13:25:42
Was heißt hier wenig Ergebnis? Das ist doch total cool. Du hast Dir echt ne Riesenarbeit gemacht. Ich muss das erst mal ein bisschen verdauen. Fühle mich sehr geschmeichelt, mich an der einen oder anderen Stelle wiederzufinden.
Übrigens ... darf ich Dir mal ein Geheimnis verraten? Als ich Asylon geschrieben habe, hätte ich gerne so einen Faden gehabt. Ich habs nämlich völlig ins Blaue geschrieben. Der Termindruck von Piper war auch nicht ohne. Tja, jetzt komme ich fast ein bisschen beschämt vor.
Na genug gejammert. Ich bin gespannt, wie es hier weitergeht.
Liebe Grußies, Thomas
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 08. Mai 2011, 22:58:57
Shapeshifter könnte auf Deutsch Gestaltwandler oder Wechselbalg sein. Was hältst Du davon?[EDIT] oder Januskopf
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Sorella am 09. Mai 2011, 21:03:28
[EDIT] 09.05.2011 Grundbaukasten einer klassischen Dystopie mit Archeplot im ersten Post abgeschlossen
Ich habe alle Anmerkungen einfließen lassen und bin offen für Kritik.

Zitat von: Schommes am 08. Mai 2011, 22:58:57
Shapeshifter könnte auf Deutsch Gestaltwandler oder Wechselbalg sein. Was hältst Du davon?[EDIT] oder Januskopf
Danke für die Vorschläge, aber bei Gestaltwandler und Wechselbalg denke ich an Werwölfe und Hexen. Januskopf kenne ich gar nicht  :innocent:. Ich habe es jetzt anders umschrieben.
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Schommes am 09. Mai 2011, 21:55:31
Also, auch wenn ich mich permanent wiederhole, ich bin so *mistmeindeutschversagtwiemanchmalseitderUSAZeit* awestruck *Deutschwiederzurückkomm* durch das, was Du da gebastelt hast. Mir ist bewusst, dass nicht wenige der Inhalte von mir stammen, aber darum gehts mir nicht, sondern die Ordnung und Struktur, die Du in alles gebracht hast und wie Du das mit allen anderen Wortmeldungen und nicht zuletzt Deinen eigenen Gedanken kombiniert hast. Das ist so klasse, dass ich bald überlege, ob man das nicht irgendwie noch allgemeinzugänglicher machen kann. Echt irre. Ich schwöre Dir, für Asylon II oder was auch immer der Nachfolger ist, werde ich mir das nochmal reinziehen. Chapeau. :pompom:
Die Umschreibung bei Shapeshifter ist doch prima. Januskopf kommt von dem lateinischen Gott Janus, der für Anfang und Ende eines neuen Jahres steht und daher zwei Gesichter hat, damit er sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit schauen kann. Das Wort janusköpfig wird heutzutage dann häufig für einen Menschen mit widersprüchlichem Charakter gebraucht (sorry, konnte mir die Klugscheißerei mal wieder nicht verkneifen. Ist ne Berufskrankheit).
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: pink_paulchen am 27. Dezember 2013, 15:53:36
Ich schreib mal kurz hier rein, dass ich allen, die bisher hierzu beigetragen haben auch zu einem riesenfetten Dankeschön verpflichtet bin. Eine astreine Zusammenfassung unter Berücksichtigung von so vielen relevanten Punkten hab ich nämlich sonst nirgends gefunden.
Und so bin ich von "diffuse Grundidee" auf "annehmbarer Ausgangsplot" gekommen mithilfe dieses tollen Baukastens!
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Robin am 27. Dezember 2013, 17:23:25
Ui, jetzt habe ich dank PiPa diesen Thread auch entdeckt. Das wird mir helfen, Village 13 von vorne bis hinten durch zu plotten, und eine weitere Dystopien-Idee auf die Beine zu stellen. :wolke: Vielen vielen Dank.
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Franziska am 25. September 2014, 00:00:48
Ich kam letztens auf einen Artikel, den ich ganz interessant fand. Nicht alles würde ich unterschreiben, aber ein paar Punkte sind mir auch schonmal aufgefallen. Wenn man eine Dystopie mit Revolution schreibt, lohnt es sich auf jeden Fall reale Revolutionen mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Die sind natürlich komplexer, als es oft im Roman dargestellt wird. Aber davon ein Buch komplexer zu machen, kann man meiner Meinung nach nur profitieren.
http://io9.com/10-lessons-from-real-life-revolutions-that-fictional-dy-1634087647 (http://io9.com/10-lessons-from-real-life-revolutions-that-fictional-dy-1634087647)
Titel: Re: [Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt
Beitrag von: Churke am 28. September 2014, 13:35:04
Revolution... ich denke, dass die Legende von der Revolution ein Element unsere aktuellen Matrix ist. In einem System, das sich auf demokratische Legitimation beruft, soll sich der Einzelne einbilden, dass er die Fäden in der Hand hielte.

Doch die Geschichte zeigt, dass die breite Masse weder dazu in der Lage ist, Recht und Unrecht zu unterscheiden, noch, die Mechanismen eines Systems zu erkennen. Das hat auch Hitler gesehen und in "Mein Kampf" in bestechendem Zynismus dargelegt, wie man das Volk ver****t.

"Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht." - Diesem Spruch möchte ich mit einer Gegenthese antworten: "Wo Unrecht zu Recht wird, ist Widerstand ein Verbrechen."
Die breite Masse erkennt nicht, dass es sich um Unrechtsgesetze handelt, und wird den Widerständler als gefährlichen Verbrecher bei der Polizei melden.
Man soll sich auch nicht einbilden, dass die Leute sich freuen, wenn man ihnen die Freiheit bringt. Büchners Schriften gegen den prasserischen Landesherrn kamen beim ausgesaugten Volk überhaupt nicht gut. Wandte er sich doch gegen die gottgebene Ordnung. Joseph II., dessen Reformen Österreich die Französische Revolution erspart haben, galt im Volk als verhasster Tyrann. Andere Politiker wurden unter großem Beifall öffentlich hingerichtet, weil sie Folter, Leibeigenschaft und Zensur abgeschafft haben. Als der römische Kaiser Julian den Senat mitregieren lassen wollte, wurde er selbst von den Senatoren als gefährlicher Spinner angesehen.

Der Kampf gegen eine Dystopie ist gemeinhin aussichtslos und Mitstreiter sind rar. Das ist Deprimierend, aber so sind Dystopien nun einmal.