• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Geschlechtslose Wesen schreiben

Begonnen von Paka, 26. August 2022, 21:23:18

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Paka

Moin!
Ich habe heute Abend zum ersten Mal aus der Perspektive eines Protagonisten geschrieben, der kein Geschlecht hat. Zuerst dachte ich: Das klappt nie! Aber verrückterweise habe ich jetzt schon 2 Seiten voll und nicht ein einziges Mal ,,er" oder ,,sie" geschrieben. Sehr witzig. Ich bin noch nicht sicher, ob ich das so lassen werde, weil es sich doch sehr anders liest als der Rest des Buches (mit relativ vielen direkten Gedanken), aber es ist auf jeden Fall eine sehr spannende Übung. 😁
Wer hat noch Erfahrung damit und Lust sich auszutauschen?
Lg,
Anya
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Damiano

Die Welt in meinen Geschichten hat vier Schöpfergeister, die je dem Geschlecht Maskulinum, Femininum, Neutrum bzw. Utrum entsprechen. Dementsprechend habe ich bisher, wenn das Neutrum handelt und spricht, solange ich seinen Namen nicht nenne, "es" als Pronomen verwendet, bin mir aber heute nicht mehr so sicher, ob das so angebracht ist. Ich bräuchte hier dringend Rat durch einen Gender-Experten.

Also, ja: Ich habe bereits Erfahrung mit dem Schreiben eines geschlechtslosen Charakters und würde gerne darüber diskutieren. :)

Paka

#2
"Es" kam mir nicht richtig vor. Vielleicht, weil es nach Kleinkind klingt? Aber bei dir hört sich das passender an.
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Romy

Ich bin auch keine Expertin für das Thema, wollte aber doch schon mal einwerfen, dass es ja auch in der Realität nicht-binäre Menschen gibt, die sich nicht mit "er" oder "sie" identifizieren können. "Es" als Pronomen ist tatsächlich nicht die beste Wahl. Es gibt aber auch schon eine ganze Reihe von Pronomen, die man verwenden kann, z.B. im deutschen Sprachraum xier, sier, dey oder im englischen Sprachraum they/them oder aus dem schwedischen hen.
Oder es gibt natürlich die Möglichkeit statt einem Pronomen immer den Namen zu benutzen.
Ich selbst behelfe mir bei einer Figur, indem ich die Ich-Perspektive gewählt habe, das vereinfacht auch einiges.

Da es hier in Deutschland noch kein einheitliches Pronomen gibt, ist es bei realen Menschen ideal zu fragen, welches Pronomen bevorzugt wird, bzw. aus diesem Grund haben wir hier im Forum seit dem Update ja auch die Möglichkeit unser Pronomen im Profil einzutragen, um die Situation für alle einfacher zu machen. :)

Bei unseren Figuren können wir uns selbst überlegen, welches Pronomen sie wohl bevorzugen und in der Fantasy könnte man ja auch Pronomen selbst erfinden.

Wir hatten auch schon mal Threads zu diesem Thema, aber ich glaube, die wurden vor längerer Zeit mal archiviert. :hmmm:

Zit

#4
Hm, wir hatten an verschiedenen Stellen über genderinklusive Sprache gesprochen:

Gender-gerechte Bezeichnungen in Romanen (von 2019)
Genderinklusive Schreibweise von Engeln, Dämonen, Vampiren und Co (von 2020)
Geschlechtsneutral Pronomen und ihre Verwendung im Forum (von 2021, intern)

Und vielleicht noch als Anstoß/ Nebenthema: LGBT: Diversität in der Fiktion und wie man sie schreibt (ursprünglich von 2013)

Eine allgemeine Anmerkung: Die Threads sind teilweise recht alt und nicht jeder Post spiegelt jede Meinung der Mitglieder heute wider – nur ohne diese Threads hätten wir uns alle vielleicht nicht dahin entwickelt, wo wir heute sind. (Also auf alte dumme Äußerung nicht sofort scharf gehen, der Großteil von uns hat dazu gelernt. Und ja, damit meine ich auch explizit mich. Vieles sehe ich heute anders als damals.)

Edit:

Was ich mich noch gefragt habe, @Paka : Ist deine Figur wirklich geschlechtslos (Vermehrung durch Zellteilung bspw.) oder meinst du eher, dass sie sich keinem Gender zugehörig fühlt?
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Paka

Mir ist bewusst, dass es solche Pronomen gibt, aber da sie noch nicht wirklich etabliert sind, habe ich mich bewusst dagegen entschieden. Ich sehe es gerade als Experiment an: Kann ich tatsächlich einen lesbaren Text schreiben, in dem überhaupt keine Pronomen für den Protagonisten vorkommen (und dieser nicht permanent nur mit Namen genannt wird). Man muss halt Umwege gehen. Statt ,,Er/sie kam an einem Bach an..." eben ,,Ein Bach floss..." etc. Ist wirklich spannend, was da alles geht.

Zitat von: Zit am 27. August 2022, 02:47:51Was ich mich noch gefragt habe, @Paka : Ist deine Figur wirklich geschlechtslos (Vermehrung durch Zellteilung bspw.) oder meinst du eher, dass sie sich keinem Gender zugehörig fühlt?
Das Geschlecht entscheidet sich erst mit der Geschlechtsreife. In den Kapiteln, die aus der Perspektive der anderen Protas geschrieben sind, steht ,,er", weil die anderen ganz sicher sind, dass es ein ,,er" ist.
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Soly

#6
Zitat von: Paka am 27. August 2022, 09:55:38Mir ist bewusst, dass es solche Pronomen gibt, aber da sie noch nicht wirklich etabliert sind, habe ich mich bewusst dagegen entschieden.
Wir könnten ja anfangen, sie zu etablieren, indem wir sie in unseren Texten verwenden. ;) Anders wird es kaum gehen, fürchte ich.
Aber ich finde auch die Lösung elegant, gar keine Pronomen zu verwenden.

ZitatIch sehe es gerade als Experiment an: Kann ich tatsächlich einen lesbaren Text schreiben, in dem überhaupt keine Pronomen für den Protagonisten vorkommen (und dieser nicht permanent nur mit Namen genannt wird). Man muss halt Umwege gehen. Statt ,,Er/sie kam an einem Bach an..." eben ,,Ein Bach floss..." etc. Ist wirklich spannend, was da alles geht.
Ja, das ist wirklich faszinierend, dass es immer ein Workaround gibt, obwohl der Genus eigentlich ziemlich verbreitet im Deutschen ist. Teilweise muss man ganze Absätze umstrukturieren, um ein einzelnes Pronomen zu umgehen, aber irgendeine Lösung findet sich immer.
Das würde ich auch ganz gerne nochmal als Takeaway hervorheben.

Es gibt immer eine Lösung ohne Pronomen.


ZitatDas Geschlecht entscheidet sich erst mit der Geschlechtsreife. In den Kapiteln, die aus der Perspektive der anderen Protas geschrieben sind, steht ,,er", weil die anderen ganz sicher sind, dass es ein ,,er" ist.
Darauf würde ich gern nochmal gesondert eingehen - ich halte das nämlich für keine besonders gute Lösung, ehrlich gesagt.

Denn - auch wenn du es vielleicht nicht so beabsichtigt hast - indem du eine Figur mit unbestimmter Geschlechtsidentität und ohne Pronomen schreibst, kratzt du automatisch das realweltliche Thema der nicht-cis1 Geschlechtsidentitäten an. Echte Menschen, die dein Buch eines Tages lesen werden, werden sich automatisch mit dieser Protafigur identifizieren, oder sich zumindest in diesem Thema der Geschlechtsidentität angesprochen fühlen. Das ist etwas, was du nicht vermeiden kannst, was du aber beim Schreiben unbedingt im Hinterkopf behalten solltest. Denn dadurch, dass du echte Menschen in diesem (verwundbaren) Thema ansprichst, hast du automatisch ein Risiko, diese Menschen unwillentlich zu verletzen.
Wenn du sagst, die anderen Protas sprechen die Figur als "er" an, weil sie davon überzeugt sind, dann gerätst du gefährlich nahe an das reale Problem des Misgenderns2, was für echte nicht-cis Menschen wirklich verletzend ist. Als ich das gelesen habe, hat mich das sofort daran erinnert, dass ich andauernd mit "er" angesprochen werde - obwohl "sie" mein erklärtes Pronomen ist - weil Leute ganz sicher sind, dass ich ein "er" bin. Das tut jedes Mal weh, und auf die Weise daran erinnert zu werden, tut auch weh.
Was ich sagen will: Die anderen Protas durchgängig "er" sagen zu lassen, hat massiv Verletzungspotential für Leser*innen. Ich würde dringend dafür plädieren, dass du auch aus der Perspektive der anderen Protas vollständig auf Pronomen für diese Figur verzichtest. Dass das gut geht, hast du ja schon festgestellt. ;)


Begriffsklärung, falls notwendig:
1 cis bedeutet, dass das biologische Geschlecht, also die sichtbaren Geschlechtsmerkmale, mit dem erlebten Geschlecht übereinstimmen. Nicht-cis sind entsprechend alle Identitäten, in denen diese beiden Dinge nicht übereinstimmen.
2 Misgendern bedeutet im Grunde, dass jemand anders entscheidet, welche Geschlechtsidentität inklusive Pronomen ich zu besitzen habe und mich ohne zu fragen einfach so anspricht.
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Sunflower

Danke @Solmorn für deinen tollen und sehr informativen Beitrag :)

Ich habe noch einen Lektüretipp: In "Knochenblumen welken nicht" gibt es eine nichtbinäre Figur, die ohne Pronomen geschrieben wird - die Figur hat, soweit ich mich erinnere, keine Perspektive, aber kommt schon viel vor. Ich fand das zumindest ziemlich gelungen und inspirierend (allerdings bin ich selbst cis), und habe das aus verschiedenen Gründen selbst in einem aktuellen Projekt versucht. Es geht schon auch ohne. ;) Ich habe selbst lange zwischen Neopronomen und anderen Möglichkeiten hin und her überlegt, und auch beides ausprobiert, und letztendlich fand ich die Variante ohne Pronomen mal ganz gut. Vielleicht hilft es dir auch, einfach mal verschiedenes auszuprobieren  :)
"Stories are, in one way or another, mirrors. We use them to explain to ourselves how the world works or how it doesn't work. Like mirrors, stories prepare us for the day to come. They distract us from the things in darkness."
- Neil Gaiman, Smoke and Mirrors

criepy

Ich habe in einem aktuellen Projekt auch eine Figur die keine Pronomen nutzt (bzw eine Gruppe Menschen die keine Pronomen haben, aber für sich entscheiden können doch welche zu nutzen).
Zusätzlich weise ich neuen/noch unbekannten Figuren keine Pronomen in der Beschreibung zu sondern lasse sie sich selbst erst mit Pronomen vorstellen. (Manchmal nutze ich ,,sie" für ,,die Person" aber das versuche ich eher seltener zu machen.) Dementsprechend sind die Beschreibungen sehr neutral und vage.
Ich nutze aber auch für manche Figuren Neopronomen.
Also allgemein ist da sehr viel vertreten.

Meistens finde ich es auch nicht schwer ohne Pronomen zu schreiben und stelle Sätze so um, dass sie auch ohne funktionieren. Geht das gar nicht, nutze ich halt immer den Namen. Ich hab auf jeden Fall etwas gebraucht bis ich den Bogen raus hatte und zerbrech mir jetzt in der Überarbeitung teilweise noch immer den Kopf über manche Stellen. Aber es funktioniert grundsätzlich.

Paka

Zitat von: Solmorn am 27. August 2022, 11:09:08Wenn du sagst, die anderen Protas sprechen die Figur als "er" an, weil sie davon überzeugt sind, dann gerätst du gefährlich nahe an das reale Problem des Misgenderns2, was für echte nicht-cis Menschen wirklich verletzend ist.

Also, es wird im Buch schon thematisiert. Der Prota beschwert sich nämlich tatsächlich auch darüber, dass er/sie immer "er" genannt wird. Und am Ende stellt sich raus, dass die anderen sich sowieso geirrt haben.
Das Triggerpotenzial ist natürlich ein Problem.

Zitat von: Solmorn am 27. August 2022, 11:09:08Ich würde dringend dafür plädieren, dass du auch aus der Perspektive der anderen Protas vollständig auf Pronomen für diese Figur verzichtest. Dass das gut geht, hast du ja schon festgestellt. ;)
Darüber habe ich auf jeden Fall schon nachgedacht. Jetzt, wo ich weiß, dass es geht, werde ich es auch noch einmal überdenken.
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Paka

Zitat von: Sunflower am 27. August 2022, 12:21:30Ich habe noch einen Lektüretipp: In "Knochenblumen welken nicht" gibt es eine nichtbinäre Figur, die ohne Pronomen geschrieben wird
Cool! Hab ich in der Bib vorbestellt. :-)
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

der Rabe

Wenn sich das Geschlecht generell erst mit der Geschlechtsreife entwickelt, wäre es dann nicht logisch, dass es quasi ein "Kinderpronomen" gibt und die Frage des Missgenderns gar nicht erst auftritt?

ich weiß, der Gedanke wird vermutlich einen Teil deines Konfliktes zerstören, dafür gibt es neues Potenzial, indem die Kinder bspw. gar nicht erwarten können, endlich diesem Kinderpronomen entwachsen zu sein. ;) Und es gibt vermutlich trotzdem solche Trolle, die es nicht lassen können, das zukünftige Geschlecht zu raten oder sogar darauf zu wetten.
Bist du erst unten im Tal angekommen, geht es nur noch bergauf. (C) :rabe:

Paka

Hi Rabe,
klar, es gibt ein Pronomen für die Kinder, aber die beiden anderen Protas sind von einem anderen Volk und sprechen die Sprache nicht. 😉

Ich habe auch eigentlich gar keinen Rat gesucht, sondern fand es so toll, dass man auch komplett ohne Pronomen auskommen kann. Und wollte Ideen austauschen.
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

caity

#13
Ich möchte mal noch 2 Punkte einwerfen:
1. "Geschlechtslose Wesen" (Bezug auf die Überschrift): Heißt das, es geht um Fabelwesen/Außerirdische? Oder geht es um eine Gesellschaft, die mit dem Thema Geschlecht entsprechend umgeht? Letzteres fände ich einen coolen Ansatz, ersteres eher problematisch, weil es eine recht verbreitete Herangehensweise ist: wer sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, ist ein "Alien". So findet es sich häufig in Film und Fernsehen und indirekt schwingt dabei mit: das kann ja nicht menschlich sein. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, besteht z. B. darin, nicht nur andere "Wesen" geschlechtslos zu schreiben, sondern auch nicht-binäre Menschen in die Geschichte einzubauen.
2. Ansonsten möchte ich noch zur sprachlichen Ebene auf diese nette Seite hier hinweisen: https://geschicktgendern.de/
Hier finden sich einige Wortvorschläge, durch die man Geschlechter vermeiden kann. Wenn man das wirklich durchziehen will, geht's ja nicht nur um die Pronomen, sondern auch um einige Begriffe drumherum.
Edit: Um das noch anhand eines Beispiels zu illustrieren: Wenn du schreibst "Sich als Arzt zu verdingen, machte wirklich Spaß." hast du zwar ohne Pronomen verdeutlich, dass die*r Prota im Medizinsektor tätig ist, mit "Arzt" aber dennoch männlich codiert.
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Moorhenne

Das Thema - oder die Themen, wohl eher - ist/sind unglaublich spannend, und haben wirklich SO viel Potential! :)
Caitys Einwurf bzgl der gegenderten Begriffe abgesehen von Pronomen ist mir auch schon sehr aufgefallen - ich habe bislang zweimal Charaktere geschrieben, die hier drunter fallen und in beiden Fällen war vor allem DAS die Sache, die mich während des Schreibens am meisten Nachdenk-Zeit gekostet hat. Bei den Pronomen hab ich mich einfach auf die eine (they/them, obwohl der Text auf deutsch war - ging mir irgendwie leichter von der Hand als hen/xier/...) oder die andere (nur Namen, keine Pronomen, hier betraf es ALLE agierenden Charaktere) Lösung festgelegt und dann halt dran gehalten - aber bei Berufs/Tätigkeits/...-Bezeichnungen kam ich wirklich immer und immer wieder ins Stocken :)
Morgenstund ist aller Laster Anfang.